Wer die Gewaltgeschichte Europas rekonstruiert, kann leicht auf die Idee kommen, es handle sich da um eine ansteckende Krankheit. In der Tat haben nicht nur die antiken Medizinphilosophen, sondern auch Aufklärer wie Voltaire, der Fanatismus „einen dunklen und blutigen religiösen Wahnsinn“ nennt, bis zu Psychiatern im 19. und 20. Jahrhundert dabei an eine Form des Irrsinns gedacht. Auch die Dschihadisten unserer Tage werden häufig für geistesgestört gehalten. Der derzeit in Wien lehrende französische Historiker Philippe Buc zweifelt an der medizinischen Erklärung des Phänomens. „Wir haben es hier“, schreibt er, „mit einer tiefsitzenden kulturellen Vorstellung zu tun, deren Charakteristika in der Vergangenheit wurzeln.“
Der deutsche Titel kann zu der Vermutung verleiten, hier werde das Christentum für alle nachfolgenden Gewalthandlungen verantwortlich gemacht. Der englische Titel „Martyrdom and Terror: Christianity, Violence, and the West“ verdeutlich besser, dass es dem Autor um die historische Aufklärung darüber geht, wie „einige kulturelle Formen aus der fernen Vergangenheit bis in unsere Gegenwart gelangt sind“. Nicht der Monotheismus schlechthin hält – wie bei Jan Assmann – die historische Gewaltspirale in Gang. Jedoch spielt die mittelalterliche Kirche bei der Gewaltüberlieferung eine wichtige Rolle. Die ursprünglich pazifistischen Christen, die in hoher Zahl das Martyrium für ihren Glauben erlitten, mussten sich nach der konstantinischen Wende mit der römischen Gewaltpolitik arrangieren. Buc konzentriert sich besonders auf die Kreuzzugsgeschichte, weil er hier um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert jene Argumente für die massive Gewaltanwendung nachweisen kann, die später in ähnlicher Form immer wieder auftauchen. Das weist Buc besonders anschaulich an den Protagonisten der Französischen Revolution, Robes-pierre oder Saint-Just, nach, die bekanntermaßen ganz entschieden antikirchlich gesinnt waren. Ausschlaggebend ist dabei das ideologische Rüstzeug. Wenn die Zukunft eschatologisch überhöht wird, wird alles Gegenwärtige gleichgültig. Die Täufer in Münster etwa verloren im apokalyptischen Rausch den Kontakt zur Wirklichkeit. Täter und Opfer tauschen die Rollen.
Für die Kreuzzugsideologie und ihre Folgen spielten auch exegetische Verirrungen eine Rolle. Schon Augustin hatte das „nötige sie hereinzukommen“ aus Lukas 23 als Aufforderung zur Gewaltanwendung gegenüber Ketzern und Heiden verstanden. Die geistliche Rüstung nach Epheser 6 wurde von Hinkmar von Reims martialisch umgedeutet. Und der Herzog von Brabant meinte 1197, man habe es auf dem Weg nach Jerusalem mit „sichtbaren wie unsichtbaren Sarazenen“ zu tun, weshalb auch Christen und Juden dran glauben mussten. Das irdische Jerusalem wurde mit dem himmlischen Jerusalem identifiziert und damit eschatologisch verklärt. Und später konnte das neue Jerusalem auch auf Prag oder Paris projiziert werden. Das half fanatischem Eifer auf die Sprünge. Nikolai Bucharin war, bevor er 1938 erschossen wurde, von Stalins Schergen „Weltverschwörung“ vorgeworfen worden, „die schon die Reformer des 11. Jahrhunderts oder die Jakobiner unter Robespierre gefürchtet hatten“. Und George W. Bush konnte im 20. Jahrhundert unter anderem aus dem evangelikalen Sprachschatz der amerikanischen Sezessionskriege schöpfen.
Das Buch ist reich an Belegen der Gewalttradition durch die Jahrhunderte. Davon zeugen fünfzig Seiten Bibliografie. Zur besseren Orientierung hat Buc ein Nachwort angefügt, das nicht nur das Ergebnis zusammenfasst, sondern sogar einen Ausblick in die Zukunft wagt. So werde „die Kraft der Dialektik zwischen Krieg und Frieden den Krieg als normativen Wert wohl weiterhin am Leben erhalten. Umkämpft, umstritten, aber präsent.“
Philippe Buc: Heiliger Krieg. Gewalt im Namen des Christentums. Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt 2015, 432 Seiten, Euro 39,95
Götz Planer-Friedrich