Berührend

Ein kritischer Christ
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Gerade für diejenigen, die die Umbruchsituation 1989/1990 miterlebt und mitgestaltet haben, ist der Blick des aufmerksamen und sprachgewandten Journalisten auf Haupt- und Nebenschauplätze des Geschehens aufschlussreich.

Seine Teilnahme an der 3. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Neu-Delhi hat sein Leben völlig verändert, schreibt Gerhard Rein. Aus einem frommen jungen Exportkaufmann wurde ein „kritischer Bürger und ein kritischer Christ“. Außerdem bekam er anschließend ein Volontariat beim Süddeutschen Rundfunk, dem er in seiner Berufslaufbahn treu blieb.

Gerade für diejenigen, die die Umbruchsituation 1989/1990 miterlebt und mitgestaltet haben, ist der Blick des aufmerksamen und sprachgewandten Journalisten auf Haupt- und Nebenschauplätze des Geschehens aufschlussreich. Die sukzessive Umgestaltung des geteilten Berlins zur deutschen Hauptstadt spielt dabei eine wichtige Rolle. Und was das Ende der DDR und der Beitritt zur BRD mit den Menschen machte, hat der Autor durch feine Beobachtung, Interviews und eigene Reflexion meistens mit Empathie, manchmal auch mit verhaltenem Zorn registriert. Da er schon von 1982 an als Korrespondent in der damaligen DDR lebte, konnte er auch die oppositionelle Szene mit Einfühlung beschreiben. Wie wenige von den Protagonisten des revolutionären Herbstes 1989 später politisch „zum Zuge kamen“, hat er ebenso registriert, als auch, wie umgekehrt viele aus der Deckung und zu Amt und Würde kamen, als die Gefahr vorüber war. Auch Joachim Gauck, berichtet er, war zunächst dafür gewesen, die Stasi-Akten ins Koblenzer Archiv zu verfrachten; als die Aktivisten des Umbruchs aber den Verbleib der Akten und deren Öffnung hartnäckig erkämpft hatten, wurde gerade er der erste Bundesbeauftragte für diese Aufgabe.

Der Verlag bezeichnet das Buch als „ein spannendes Kapitel Zeitgeschichte“. Das sagt zu wenig. Zwar schreibt Gerhard Rein als Zeitzeuge über eine geschichtliche Periode, in der große Umbrüche passierten – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in Südafrika, wo er von 1992 an Zeuge des Endes der Apartheid war. Nein, er ist nicht nur ein Chronist dieser Epoche, sondern auch ein kritischer Zeitgenosse. Er lässt das Geschehen an sich herankommen, engagiert sich später zum Beispiel für eine neue, eine zweite Ostdenkschrift der EKD. Seine Texte sind fast immer eine unmittelbare Reaktion des Journalisten auf aktuelle Vorgänge.

So sprach er beispielsweise mit Christof Ziemer, dem „langhaarigen“ Superintendenten der Kreuzkirche, als 1989 heftige Tumulte auf dem Hauptbahnhof in Dresden stattfanden. Denn Ziemer hatte mit persönlichem Einsatz eine Eskalation zwischen Tausenden von Menschen und dem Gewaltpotenzial des moribunden DDR-Staates verhindert. Wer weiß heute noch etwas davon? Auch ein beeindruckendes Feature über den Ausnahme-Theologen Ernst Lange ist abgedruckt. Wer weiß jetzt noch etwas von ihm?

Die oppositionellen Gruppen in der DDR waren davon überzeugt, einen menschenfreundlichen Sozialismus gestalten zu können. Damit und mit ihnen sympathisierte auch Rein. Doch die ungeschönten Statistiken, die Öffnung der Stasi-Akten und der marode Zustand der Städte belehrten ihn eines anderen. Auch sonst war er immer wieder bereit, sich selbst und seine Optionen selbstkritisch zu hinterfragen. Seine anti-militaristische Haltung jedoch hat er sich bis heute nicht nehmen lassen.

Besonders berührend ist der Abschluss des Buches, eine ganz persönlich gehaltene Gedenkrede, die er vor vier Jahren an der Stelle des ehemaligen Konzentrationslagers Ebensee in Österreich hielt. Da schließt sich der Kreis der biographischen Einordnung seiner journalistischen Arbeit, mit der der lesenswerte Band beginnt.

Götz Planer-Friedrich

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