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Evangelische Landeskirchen verleugneten lange ihre Verstrickung in den Nazismus
Lübeck: Blick auf St. Marien (links) und St. Petri. Foto: dpa/ Thomas Härtrich
Lübeck: Blick auf St. Marien (links) und St. Petri. Foto: dpa/ Thomas Härtrich
Nazipfarrer, die anderswo als untragbar galten, fanden nach 1945 Zuflucht in der Eutiner Landeskirche. Wie diese und die anderen Landeskirchen nördlich der Elbe mit ihrer braunen Vergangenheit umgingen, schildert Sebastian Linck, promovierter Historiker und Studienleiter der Evangelischen Akademie der Nordkirche.

Im Jahr 1951 gab die EKD ein Gutachten in Auftrag, um herauszufinden, wie viele Juden den Nazis zum Opfer gefallen waren. Es bestätigte die von den Alliierten verbreiteten Zahlen der Ermordeten. Das Kirchenamt der EKD verschickte es an alle Landeskirchen mit dem Hinweis: „Wir halten es nicht für tunlich, dieses Material einer breiten Öffentlichkeit zu übergeben, da hierdurch nur die bekannten Reaktionen mit Selbstrechtfertigung, Zweifel an der Zuverlässigkeit der Quellen und Aufrechnung mit eigenem Leid ausgelöst würden. Wir bitten aber zu erwägen, wieweit und auf welche Weise dieses nach unserer Überzeugung durchaus zuverlässige Material der Pfarrerschaft bekannt gemacht werden könnte, um sie in den Stand zu setzen, Fragen zu begegnen, die aus den Gemeinden an sie herantreten.“

Dazu stellte Hamburgs Landesbischof Simon Schöffel in der Sitzung des Landeskirchenrates am 12. Juli 1951 fest: „Die Mitteilung ist streng vertraulich. Der Landeskirchenrat beschließt, jedem Mitglied eine Abschrift zuzustellen, die aber nur persönlich gilt und streng vertraulich zu behandeln ist.“ Und in der benachbarten schleswig-holsteinischen Landeskirche verfügte Bischof Wilhelm Halfmann den Umlauf des Gutachtens im Landeskirchenamt. Danach wurde es abgelegt.

Sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs war die EKD also nicht imstande, öffentlich einzugestehen, dass der Massenmord an den Juden Europas so stattgefunden hatte, wie es die Alliierten festgestellt hatten. Und die Landeskirchen Hamburg und Schleswig-Holstein folgten nicht einmal dem Vorschlag, die Erkenntnisse wenigstens den Pastoren zuzuleiten. Vielmehr behandelten sie diese wie eine Geheimsache. Dies lässt ahnen, wie langwierig und mühselig der Weg der evangelischen Kirche war, um ihr Handeln während der Nazizeit und angesichts der Naziverbrechen kritisch aufzuarbeiten.

Die Landeskirchen waren in den ersten Nachkriegsjahren vor allem damit beschäftigt, die Not der Flüchtlinge und Ausgebombten zu lindern. Ihre Integration stellt eine beeindruckende Leistung dar. Daran hatten die Landeskirchen mit dem Evangelischen Hilfswerk einen großen Anteil. Und die vielen Wiedereintritte ließen die Kirche auf eine Renaissance der Volkskirche hoffen. Da rückte die Frage nach der Nazizeit, kirchlicher Schuld im Besonderen und deutscher Schuld allgemein in den Hintergrund. Ja, die Stuttgarter Schulderklärung vom Herbst 1945 wurde in den Landeskirchen Schleswig-Holstein und Hamburg scharf kritisiert. Sie sei einseitig und verschweige die alliierten Kriegsverbrechen, wurde behauptet.

Die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte waren eine Aufbauphase. Die Kirchen erlebten einen einzigartigen Boom von Gemeindegründungen und neu errichteten Kirchen. Und der Kontinuität mit der Zeit vor 1945, die sich während der Regierung Konrad Adenauers politisch abbildete, entsprach die Kontinuität beim Führungspersonal der evangelischen Kirchen. Bischof Halfmann leitete bis zu seinem Tod 1964 die schleswig-holsteinische Landeskirche. Und Wilhelm Kieckbusch war von 1930 bis 1977 leitender Geistlicher der Eutiner Landeskirche – bis diese in der Nordelbischen Kirche aufging. Lediglich in der hamburgischen Landeskirche gab es während der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte mehrere Führungswechsel.

Im Hinblick auf die Nazizeit und ihre Aufarbeitung unterschieden sich die vier Landeskirchen nördlich der Elbe. Die Landeskirchen der Hansestädte Hamburg und Lübeck hatten andere Traditionen, als die überwiegend ländlich geprägten Schleswig-Holsteins. Und während der Nazizeit hatten sie sich sehr unterschiedlich entwickelt. Zwar dominierte in allen ein Nationalprotestantismus. Aber dies führte zu sehr verschiedenen Konsequenzen.

Radikaler Antisemit

Die Lübecker Landeskirche, deren Theologen nicht minder konservative Lutheraner waren als die der anderen Landeskirchen, vollzog nach 1945 einen Bruch mit dem „Dritten Reich“, wie er tiefer nicht sein konnte. Man stellte eine „Zerstörung der Kirche“ fest und schloss daraus, dass sie völlig neu aufgebaut werden musste. Dies hatte zur Folge, dass Lübeck im Vergleich zu den anderen deutschen Landeskirchen die höchste Quote bei der Entfernung von Nazitheologen aufwies. Das dürfte damit zusammenhängen, dass die besondere Radikalität des deutsch-christlichen Kirchenregiments in Lübeck 1937 zu einer faktischen Kirchenspaltung in Lübeck geführt hatte. Und diese war nach 1945 nicht mehr überbrückbar.

In der Eutiner Landeskirche blieb eine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle beim Aufstieg des Nazismus dagegen aus. Vielmehr übernahm sie den ersten Reichsleiter der nazistischen Deutschen Christen (DC) Joachim Hossenfelder und den Thüringer DC-Bischof Hugo Rönck, einen radikalen Antisemiten, in den Pfarrdienst.

Kennzeichnend für alle erwähnten Landeskirchen ist, dass sie bis in die Sechzigerjahre die Auseinandersetzung mit dem Nazismus und seinen Verbrechen weitgehend mieden. Stattdessen fand überwiegend eine unreflektierte Solidarisierung mit Naziverbrechern statt, verbunden mit einer Tabuisierung der Fragen nach konkreter Schuld und begangenen Verbrechen. So wurden der Organisator des „Euthanasie“ genannten nazistischen Mordprogramms Werner Heyde und Reinhard Heydrichs führender Ostforscher Hans Beyer beim Untertauchen in Schleswig-Holstein von kirchlicher Seite unterstützt.

Die Reflexion des kirchlichen Antisemitismus war insgesamt gering. Und doch unterschieden sich die vier Landeskirchen nördlich der Elbe grundlegend. Die schleswig-holsteinische Landeskirche war von einer stärkeren antisemitischen Tradition geprägt. Und die wurde nicht hinterfragt. Pastor Walter Auerbach, den die schleswig-holsteinische Landeskirche 1935 aufgrund seiner jüdischen Herkunft in den Zwangsruhestand versetzt hatte, wurde 1946 mit der seelsorgerlichen Betreuung der, wie es hieß, „christlichen Nichtarier“ abgespeist. Dass hierin keine besondere Verpflichtung gesehen wurde, zeigte sich nach Auerbachs Tod 1954. Die seelsorgerliche Betreuung der Christen jüdischer Herkunft stellte man mit der Begründung ein, die Beauftragung sei „im Wesentlichen auf seine Person abgestellt“ gewesen. Wie weit die Verweigerung zur Auseinandersetzung mit der antisemititischen Tradition ging, sollte sich vor allem 1960 zeigen. Da ging es um die antisemitische Schrift, die Wilhelm Halfmann 1936 verfasst hatte, einer der Führer der Bekennenden Kirche Schleswig-Holsteins und ab 1946 Bischof für Holstein. Er war selbst 1960 nicht im Stande, seinen Antisemitismus kritisch zu reflektieren. Und in seiner Haltung fand er die breite Unterstützung der Landeskirche.

Obrigkeitstreue Lutheraner

Die Kirchen der Hansestädte schlugen grundlegend andere Wege ein. In Lübeck stand die Frage des Antisemitismus mit der Neuordnung der Landeskirche ab 1945 zwangsläufig auf der Tagesordnung, da der Antisemitismus Strukturmerkmal des deutschchristlichen Kirchenregiments unter Erwin Balzer, Bischof von 1934 bis 1945, war. In Hamburg hingegen war es vor allem der stärkere Kontakt mit Christen jüdischer Herkunft, der die Landeskirche veranlasste, sich dem Judentum zu öffnen und sich auf einen Dialog einzulassen. Die hamburgische Landeskirche konnte in dieser Frage vielleicht auch offener auf die Nazizeit blicken, weil sie bei der Ausgrenzung der eigenen Gemeindeglieder jüdischer Herkunft nicht ansatzweise so weit gegangen war, wie die Bekennende Kirche Schleswig-Holsteins. Und das obwohl Franz Tügel, zwischen 1934 und 1945 Bischof von Hamburg, zeitweise der nsdap und den DC angehört hatte.

Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen war in den Kirchen nördlich der Elbe mit der Fixierung eines konfrontativen Antikommunismus verbunden. Die Mehrheit behielt ein Verhältnis zum Staat, das in einer obrigkeitstreuen lutherischen Deutung der Obrigkeit wurzelte. Und in Schleswig-Holstein führt das zu einer außergewöhnlich engen Bindung an die cdu.

Die Ostdenkschrift der EKD zwanzig Jahre nach Kriegsende markierte einen Umbruch im kirchlichen Selbstverständnis. Mit der Forderung nach einem Verzicht auf die Gebiete östlich von Oder und Neiße stellte sich die EKD gegen die gesellschaftliche Mehrheit. Dies hatte weit reichende Auswirkungen und führte zur neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt.

Von 1965, als die Ostdenkschrift der EKD veröffentlicht wurde, bis 1985 vollzog sich ein starker vergangenheitspolitischer Wandel. An dessen Ende stand die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. Als erstes westdeutsches Staatsoberhaupt nannte er den 8. Mai 1945 einen Tag der Befreiung.

So markiert das Jahr 1985 den Höhepunkt einer vergangenheitspolitischen Phase in der Geschichte der Bundesrepublik, die mit dem Paradigmenwechsel von 1989/90 ein Ende fand. Mitte der Sechzigerjahre waren die NS-Verbrechen in Westdeutschland nicht mehr in Zweifel gezogen worden. Nachdem die Medien intensiv vom Eichmannprozess in Jerusalem und den Auschwitzprozessen in Frankfurt am Main berichtet hatten, wurden die Verbrechen der Nazis in Westdeutschland nicht mehr bestritten. Und die Strafverfolgung der Täter fand allgemeine Zustimmung. Mit der Mehrheit der Gesellschaft veränderte sich auch die Mehrheit in der Kirche. Aber bei der Erforschung des Kirchenkampfes im „Dritten Reich“ ging es vielmehr vorrangig um die Deutungshoheit ehemaliger Akteure. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Handeln der evangelischen Kirchen während der Nazizeit stieß auf Vorbehalte und Widerstände. Symptomatisch ist die Tatsache, dass Wolfgang Gerlachs Dissertation über „Das Schweigen der Zeugen“, die sich kritisch mit der Bekennenden Kirche beschäftigte, 1970 zwar in Hamburg angenommen worden war, aber erst in den Achtzigerjahren einen Verlag fand.

Auf dem Kirchentag 1961 entstand eine „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen“. Und sie fand starken Zulauf. Im Bereich der schleswig-holsteinischen Landeskirche wurde 1962 in Hamburg eine Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit gegründet. Aber sie strahlte auf die Landeskirche nicht stark aus. Dies veränderte sich erst nach Gründung des „Nordelbischen Arbeitskreises Christen und Juden“ im Jahre 1981. Meilensteine waren bis dahin die vom Rat der EKD 1975 verabschiedete Studie „Christen und Juden“, die Gedenkfeiern zum 30. Jahrestag der Reichspogromnacht 1978 und Anfang 1979 die Fernsehserie „Holocaust“ gewesen. In einem Vortrag, den er zum 40. Jahrestag der Reichspogromnacht vor der Kirchenkreissynode Altona hielt, bilanzierte der Hamburger Historiker Werner Jochmann: „Solange die evangelischen Christen nach 1945 an ihrem volkskirchlichem Konzept festhielten und an eine Rechristianisierung des gesamten Volkes glaubten, waren sie nicht bereit, den Juden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihnen einen Platz im Volksleben einzuräumen, sie in ihrem Glauben anzuerkennen. Erst als sich die Erkenntnis durchsetzte, dass die Christen in der modernen Gesellschaft mit Andersgläubigen und sogar mit Ungläubigen zusammenleben mussten, wuchs auch die Bereitschaft, diese Tatsache anzuerkennen und vor allen Dingen mit den Juden ins Gespräch zu kommen.“

Die Wanderausstellung „Neue Anfänge nach 1945?“ ist an verschiedenen Orten der Nordkirche zu sehen. Termine bis November 2016 siehe www.nordkirche-nach45.de

Literatur

Stephan Linck: Neue Anfänge? Der Umgang der Evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien. Band 1: 1945–1965, Lutherische Verlagsgesellschaft, Kiel 2013, 352 Seiten, Euro 19,95. Band 2: 1965–1985, Lutherische Verlagsgesellschaft, Kiel 2016, 480 Seiten, Euro 24,95.

Sebastian Linck

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