Handeln, wenn es nottut

Am 1. Oktober vor 50 Jahren erschien die berühmte Ostdenkschrift der EKD
Wirkmächtiges Symbol: Der Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Ehrenmal der Helden des Ghettos in Warschau am 7. Dezember 1970. Foto: epd/ Keystone
Wirkmächtiges Symbol: Der Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Ehrenmal der Helden des Ghettos in Warschau am 7. Dezember 1970. Foto: epd/ Keystone
Die Ostdenkschrift der EKD löste 1965 große Diskussionen aus. Sie gilt als Wegbereiterin der Entspannungspolitik. Heute wünscht sich eine Gruppe mit dem ehemaligen Generalsekretär des Weltkirchenrates, Konrad Raiser, eine "Neue Ostdenkschrift". Ihm lassen die neuen Konflikte in Osteuropa keine Ruhe, und er fordert: Die EKD soll erneut handeln.

Donnerstag, 4. Juni 2015, es ist heiß - der Kirchentag ächzt. Umso angenehmer ist die Kühle im Ludwig-Raiser-Haus in Stuttgart-Bad Cannstatt: Gut drei Dutzend Menschen sind gekommen, um die Veranstaltung "Initiative für eine neue Ostdenkschrift" zu erleben. Die Initiative wird getragen von einem Freundeskreis mit dem Theologen Konrad Raiser, von 1992 bis 2003 Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Warum eine "neue" Ostdenkschrift? Bei der "alten", die vor fünfzig Jahren veröffentlicht wurde, ging es um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Versöhnung mit Polen. Ist das nicht heute im guten Sinne erledigt? Haben wir nicht ganz andere Sorgen in Sachen Osteuropa?

Natürlich haben wir die. Aber genau deswegen hält Konrad Raiser eine "neue Ostdenkschrift" von Seiten der Kirche für nötig. Der 77-Jährige präsentiert an diesem heißen Donnerstag die wesentlichen Anliegen der Initiative. Raiser stellt fest: "Der Krieg in der Ukraine hat zu besorgniserregenden Spannungen zwischen Russland und der NATO geführt. Ein neuer Rüstungswettlauf droht." Einseitige Schuldzuweisungen lässt er nicht gelten: "An den Ursachen der schwerwiegenden Krise sind beide Seiten beteiligt. Russland durch seine völkerrechtswidrige Annexion der Krim, durch seine Einmischung in der Ost-Ukraine, die NATO durch ihre Osterweiterung, die Europäische Union durch das Versäumnis, bei den Verhandlungen um ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine Russland einzubeziehen", heißt es in dem Aufruf der Initiative und weiter: "Überwunden geglaubte Feindbilder und konfrontative Politikmuster bestimmen erneut die Diskussion. Entspannungsbemühungen werden durch demonstrative Aufrüstungsgesten beider Seiten konterkariert."

Konrad Raiser ist besorgt: In Politik und Gesellschaft sei noch nicht angekommen, dass Europa vor wichtigen neuen Herausforderungen steht. Heute gehe es darum, "grundsätzlich darüber nachzudenken, wohin wir mit Europa gehen". Nach der raschen Erweiterung der Europäischen Union in Richtung Mittel- und Osteuropa zeige sich, "dass die Grundlagen, auf denen die EU seinerzeit gebildet worden ist, und die Orientierungspunkte für die europäische Einigung neu ausgehandelt werden müssen". Warum aber die Anknüpfung an die Ostdenkschrift von 1965? Raiser: "Die Ostdenkschrift ist Symbol geworden für den Versuch der Kirchen, Einfluss zu nehmen auf die öffentliche Debatte." Deshalb halte er bei seiner Initiative zumindest einen "symbolischen Bezug" aufrecht, auch wenn es natürlich heute um andere Fragen gehe.

"Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn. Eine evangelische Denkschrift" - lautet der Titel des bald als "Ostdenkschrift" bezeichneten Textes, der am 1. Oktober 1965 veröffentlicht wurde. Erarbeitet hatte ihn die Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Vorsitzender der Kammer war der Tübinger Rechtsprofessor Ludwig Raiser (1904-1980), der Vater Konrad Raisers, damals einer der führenden Intellektuellen der Bundesrepublik. Ludwig Raiser gehörte von 1949-1973 der Synode in der EKD an und stand ihr die letzten drei Jahre als Präses vor.

Heftige Konflikte

Die Denkschrift löste gleich nach ihrer Veröffentlichung heftige Konflikte aus. Worum ging es damals? Die Ostdenkschrift der EKD wird zumeist mit der Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in Verbindung gebracht. Wer aber den Text liest, nimmt überrascht wahr, dass diese Forderung gar nicht explizit erhoben wird. Zunächst einmal geht es um etwas ganz anderes. Der erste Satz des ersten Kapitels - Überschrift: "Umfang und Zusammenhänge der Probleme" - lautet: "Jede Betrachtung zur Lage der Vertriebenen und zum künftigen Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn muß damit beginnen, den Umfang der menschlichen Seite der Katastrophe des deutschen Ostens bewußtzumachen" (zitiert nach 5. Auflage 1965, Seite 10). In diesem Sinn handelt der Text im zweiten Kapitel "Die Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche" vom Wahrnehmen und Anerkennen der besonderen Lasten, die die Vertriebenen auch zwanzig Jahre nach Kriegsende noch tragen. Die ärgsten materiellen Probleme der Wiedereingliederung waren 1965 in Westdeutschland zwar überwunden, doch die Denkschrift mahnt, es sei ein "grobes Mißverständnis" anzunehmen, "man könne ein soziales Problem, das immer zugleich ein menschliches und politisches ist, allein mit wirtschaftlichen Mitteln lösen" (11).

Der fortbestehenden Trauer und Traumatisierung vieler Vertriebener wendet sich der Text mit seelsorglicher Behutsamkeit zu und erkennt: "Vor dem deutschen Volk stand und steht noch immer die Aufgabe, zu einer neuen Gemeinschaft aus Einheimischen und Vertriebenen zusammenzuwachsen." Diese Gemeinschaft müsse sich der "gemeinsamen geistigen und sittlichen Werte" bewusst werden, "auf denen sie beruhen will". Dieses Ziel, so der Text weiter, sei noch nicht erreicht, sondern vielmehr "unter gegenseitigen Vorwürfen verdunkelt" (14). Diese Sätze zeigen, dass die öffentliche Diskussion Mitte der Sechzigerjahre von schweren Zerwürfnissen geprägt war.

Aus heutiger Perspektive ist schwer zu verstehen, dass es noch 1965 in der Bundesrepublik einem Tabubruch gleichkam, öffentlich zu vertreten, dass die seit 1945 "unter polnischer Verwaltung" stehenden Gebiete östlich der Oder-Neiße-Grenze dauerhaft bei Polen bleiben sollten. Und das, obwohl es zur Zeit des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs keine realistische Perspektive der Vertriebenen und ihrer Nachkommen gab, in die alte Heimat zurückzukehren. Zudem hatten dort inzwischen viele Polen eine neue Heimat gefunden, die aus den polnischen Ostgebieten stammten, die durch den Hitler-Stalin-Pakt 1939 an die Sowjetunion gefallen waren. Wer wollte sich eine neuerliche Vertreibung vorstellen? Trotz dieser unabweisbaren Fakten bestand damals eine Art Common Sense, diese bei Lichte besehen unrealistischen Gebietsansprüche aufrechtzuerhalten. Besonders die Parteien scheuten eine neue Positionierung, waren doch die Vertriebenen eine wichtige, millionenstarke Wählergruppe, mit der man sich nicht anlegen wollte.

Im weiteren Verlauf des zweiten Kapitels der Denkschrift finden sich neben seelsorgerlich-annehmenden Passagen auch thetische Sätze, die das Schicksal der Vertriebenen theologisch deuten, zum Beispiel so: "Als der Herr der Geschichte verfährt Gott mit dem einzelnen und mit den Völkern in einer Souveränität, die niemandem Rechenschaft schuldig ist. Deshalb darf auch die kirchliche Predigt von dem Handeln Gottes in der Geschichte nicht den Eindruck erwecken, als könne sie den Sinn der Geschichte aufdecken. Das Widerfahrnis der Vertreibung gehört zu den Katastrophen des Lebens, die der Verarbeitung im Glauben bedürfen, ohne daß dem menschlichen Verstand eine befriedigende Auskunft über ihren Sinn gegeben werden kann" (15). Nur ein "Ja zum Gericht Gottes" mache den Weg frei, um neue Aufgaben zu bewältigen. Aber "dieses Ja" müsse "zusammen mit den Vertriebenen von der Gesamtheit des Volkes in der Solidarität einer einzigen großen Schuld- und Haftungsgemeinschaft gesprochen werden" (17). An diesen Passagen entzündeten sich nach der Veröffentlichung 1965 die heftigsten Konflikte.

Eigenes Gewicht

Dann folgt Statistik: Im dritten Kapitel "Zur gegenwärtigen Lage in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie" wird detailliert aufgeschlüsselt, dass die größte Gruppe der Menschen, die 1965 in den polnisch verwalteten deutschen Ostgebieten leben, nämlich 36 Prozent, "dort geborene und aufgewachsene Kinder" seien (23). Darauf fußend wird im vierten Kapitel "Völkerrechtliche Fragen" festgehalten: "Die zwanzig Jahre, die verstrichen sind, seitdem Polen von dem Gebiet Besitz ergriffen und die deutsche Bevölkerung daraus vertrieben hat, haben auch für die rechtliche Beurteilung des Anspruchs auf Wiederherstellung ihr eigenes Gewicht" (29).

Im fünften Kapitel der Denkschrift "Theologische und ethische Erwägungen" werden schließlich zwei entgegengesetzte Positionen referiert, die damals im Raum der evangelischen Kirche vertreten wurden und die dezidiert theologisch argumentieren. Zum einen die "Lübecker Thesen", ein Text des Ostkirchenausschusses der EKD, der die Standpunkte und Interessen der Vertriebenen vertrat, sowie eine Veröffentlichung des "Bielefelder Arbeitskreises der Kirchlichen Bruderschaften", die dafür plädiert, den Anspruch auf die Ostgebiete endgültig aufzugeben.

Die EKD-Ostdenkschrift identifiziert sich nicht mit einer der beiden Positionen, sondern bewertet sie so: "Beide Betrachtungsweisen schätzen offenbar die Leistungsfähigkeit der Theologie für den politischen Rat und die politische Entscheidung falsch ein. Die Theologie wird ähnlich wie das Völkerrecht nur einen Teilbeitrag zur Lösung der anstehenden politischen Fragen leisten können. Ihr politisches Mitreden betrifft weniger die Oberschicht der konkreten politischen Entscheidung als vielmehr die Tiefenschicht der inneren Voraussetzungen, des realistischen Urteils und der wirklichen Bereitschaft zur Versöhnung" (38).

"Wirkliche Bereitschaft zur Versöhnung" - das ist das Leitmotiv der Ostdenkschrift, und diese Bereitschaft vermissen die Autorinnen und Autoren damals. So findet sich am Ende des fünften Kapitels wie eine Art Stoßseufzer der Satz: "Die Diskussion über das ,Recht auf Heimat' und über Fragen der deutschen Ostpolitik leidet unter einem unnüchternen Pathos und ist in ihrem sachlichen Gehalt unzulänglich. Manche öffentliche Äußerungen lassen vermuten, daß sie zu den tatsächlichen Überzeugungen in einem Spannungsverhältnis stehen" (41). Diese ungute Situation, so die Ostdenkschrift im abschließenden sechsten Kapitel "Die deutschen Ostgebiete als politische Aufgabe" dürfe nicht durch tatenloses Zuwarten ins Unendliche verlängert werden. Vielmehr müsse das deutsche Volk "auf die notwendigen Schritte vorbereitet werden, damit eine Regierung sich ermächtigt fühlen kann zu handeln, wenn es nottut" (43).

Bereits wenige Jahre später begann die sozial-liberale Bundesregierung unter Willy Brandt diese Intention der EKD-Ostdenkschrift durch ihre Entspannungspolitik unter dem Motto "Wandel durch Annäherung" umzusetzen. Insofern gilt die Ostdenkschrift zu Recht als Meilenstein auf dem Weg der Versöhnung Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn.

Für Konrad Raiser, der sich daran erinnert, dass er damals, Anfang der Sechzigerjahre die "intensivsten politischen Gespräche" mit seinem Vater geführt hat, ist jetzt, 2015, die Zeit gekommen, um eine neue Initiative im Geist der Ostdenkschrift zu starten, denn die Geschichte sei noch nicht zu Ende. Raiser: "Die Tatsache, dass in den ehemals zur Sowjetunion gehörenden und in den ehemals sozialistischen Ländern in Mittel- und Osteuropa die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Neubildung einer eigenen Identität in Abgrenzung von Russland entstanden sind - all das sind Langzeitfolgen der radikalen Veränderungen, die aufgrund des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion eingetreten sind." Deshalb sei er der Überzeugung, dass sich Deutschland gerade jetzt darüber Rechenschaft geben müsse, "was die geschichtliche Verantwortung und Mithaftung Deutschlands für die neu entstandenen Konflikte in Osteuropa ist" und welche spezifische Rolle Deutschland "bei dem Versuch der Neuformulierung oder Weiterformulierung der Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben in Europa" einzunehmen habe.

Nach Auffassung Raisers krankt die Situation daran, dass die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt worden sei. Dies sei misslich, denn die OSZE ist die einzige sicherheitspolitische Organisation, in der alle europäischen Länder, die Nachfolgestaaten der Sowjetunion und auch die USA vertreten sind. Und ein kirchliches Wort zur rechten Zeit, könne durchaus etwas bewirken, zumal Deutschland 2016 für ein Jahr den Vorsitz der OSZE übernähme. Raiser ist klar, dass in der kurzen Zeit natürlich kaum eine neue Denkschrift entstehen wird, aber zumindest ein Memorandum der EKD könnte erarbeitet werden. "Es soll kein Text sein, der irgendwelche Positionen formuliert, sondern der sich darauf konzentriert, die richtigen Fragen zu formulieren", so Raisers Wunsch, der, so seine Hoffnung, bei den Verantwortlichen erhört werden möge.

Informationen

Am 17. September 2015 findet in Berlin, in der Französischen Friedrichstadtkirche, um 15:30 Uhr ein Festakt in Erinnerung an den 50. Jahrestag der Veröffentlichung der Ostdenkschrift statt. Veranstalter sind die EKD und der Polnische Ökumenische Rat. Den Festvortrag hält Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier.

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Reinhard Mawick

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