An der Sache vorbei

Eine jüdische Sichtweise zum Streit um Notger Slenczka und das Alte Testament
Mit Kommentaren (Masora) versehene hebräische Bibelhandschrift (10./11. Jahrhundert), Staatsbibliothek Berlin. Foto: Staatsbibliothek Berlin
Mit Kommentaren (Masora) versehene hebräische Bibelhandschrift (10./11. Jahrhundert), Staatsbibliothek Berlin. Foto: Staatsbibliothek Berlin
Dem Berliner Theologen Notger Slenczka wird vorgeworfen, seine Position zur Kanonizität des Alten Testamentes würde antijudaistischen Tendenzen Vorschub leisten. Dagegen nimmt ihn Hanna Liss, Professorin für Bibelauslegung an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, in Schutz. Sie fordert vielmehr, seine Thesen sollten Konsequenzen für die wissenschaftliche Bibelforschung haben.

Wenn man den Streit, der um die Thesen des Berliner systematischen Theologen Notger Slenczka seit Neuestem entbrannt ist, aus jüdischer Perspektive betrachtet, so wundert man sich ein wenig, wie die Forderung, das Alte Testament solle nicht zum Kanon der kirchlichen Bibel gehören, einen solchen Furor hervorzaubern kann. Für die jüdische Betrachterin wirkt es auch deshalb ein wenig unglaubwürdig, weil schon der Blick in jede christliche Kinderbibel zeigt, dass das sogenannte Alte Testament, wenn es denn überhaupt enthalten ist, in der christlichen Vermittlung bestenfalls deutlich unterrepräsentiert ist, schlimmstenfalls - wie derzeit im Gesprächskreis Juden und Christen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken erarbeitet wird - in der unkritischen Übernahme von neutestamentlichen Stereotypen über Juden und Pharisäer, noch immer ausgesprochen antijudaistisch daherkommen kann, ohne dass sich jemand daran stört! Auch der Blick in die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Leitartikel vom 2. April: Gründonnerstag und gleichzeitig der Tag vor dem jüdischen Pesachfest!) genügt schon, um zu sehen, dass (protestantische) Christen es offensichtlich bis heute nicht anders erklären können, als dass der "Kern des 'Evangeliums'" "ein[en] prinzipielle[n] Vorrang gegenüber jedem göttlichen oder menschlichen 'Gesetz'" habe. Wenn nun also Notger Slenczka formuliert, dass das Alte Testament als etwas zu betrachten sei, das in die eigene religiöse Lebenswirklichkeit nicht so wirklich hineinpassen mag, bringt er, von außen betrachtet, doch wohl auf den Punkt, was im religiösen Vollzug der Christen in der Predigt im Gottesdienst und zumindest teilweise auch (systematisch-)theologischer Arbeitsalltag zu sein scheint.

Verfehlt scheint es mir zu sein, hier von "Antijudaismus" zu sprechen, wie dies immer wieder vorgebracht wird. Dieser Vorwurf ist vielleicht dadurch motiviert, dass sich die im christlich-jüdischen Dialog Bemühten um ihre harte Arbeit betrogen fühlen. Schließlich wiegte man sich in der Gewissheit, dass das Alte Testament, das spätestens nach der Schoa zum "Ersten Testament" geworden war, eine gemeinsame Quelle des Lernens und Betens sei. Aber dabei wird gerne übersehen: Für die jüdische Rezeption ist vor allem das sogenannte "Gesetz", also die Tora (einschließlich ihrer rituellen Performanz in der Synagoge) entscheidend, für die christliche Rezeption dagegen noch immer vor allem die Psalmen und das im Judentum bis heute weitgehend ungelesene Buch Hiob als ein "reiche(r) Schatz wunderschöner religiöser Lyrik über Leben und Sterben, auch Glück und Leid ... sowie faszinierende Reflexionsprosa zum Seelenkampf des Einzelnen ob der eigenen Widersprüchlichkeit" (Friedrich Wilhelm Graf in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" vom 26. April 2015).

Bewusstsein von Fremdheit

Aus Sicht der jüdischen Theologie und der Wissenschaft des Judentums (genitivus subjectivus wie objectivus) ist hinsichtlich der Forderungen Slenczkas in zwei Richtungen hin etwas zu sagen: Zum einen haben wir es mit der Tatsache zu tun, dass Slenczka ein bestimmtes Bild von der "Normativität" der Hebräischen Bibel für die Juden zeichnet, das man so nicht unwidersprochen stehen lassen kann. Zum anderen bergen seine Thesen auch wissenschaftspolitische Konsequenzen, die die akademische Erforschung der Hebräischen (!) Bibel betreffen.

Was immer auch Slenczka unter "'Fremdeln' des frommen Selbstbewusstseins" (Slenczka, "Die Kirche und das Alte Testament", 119) versteht: Wenn eine Fremdheitserfahrung und das Bewusstsein eines gehörigen Abstandes zwischen dem Entstehungskontext des Textes und den Rezipienten gemeint ist, so gilt dies auf jeden Fall auch für das Judentum. Das Bewusstsein von Fremdheit und die Notwendigkeit zur (Um-!)Deutung ist keine spezifisch christliche Erfahrung, sondern durchzieht auch die jüdische Leseerfahrung von Rabbinen bis in die Moderne. Es ist Grund für eine jahrhundertealte und bis heute aktive Auslegungstradition: Die Rabbinen hatten Israel in einer tempellosen Zeit auf der Basis eines eben diese Tempelzeit reflektierenden und in ihr gründenden Textes zu etablieren, mussten es dabei aber gleichzeitig transformieren. Das hier entstandene Judentum formulierte die Idee der mündlichen Tora (tora she-be-al-peh) als der schriftlichen ebenbürtig und bereits am Sinai mitgeteilt (mi-Sinai). Dies zeigt uns, dass es den Rabbinen in ihrem Umgang mit der Schrift nicht in erster Linie um die Entfaltung dieses Textes als eines heiligen Textes oder um die Etablierung einer mittels dieses Textes gegebenen oder gerechtfertigten Autorität ging, sondern um das Umgehen einer spezifischen Gruppe, die ihr Selbstverständnis nicht im Text oder aus dem Text, sondern, wenn man so will, trotz des Textes zu etablieren und zu bewahren suchte.

Und hier zeigt sich auch schon das erste Mal, dass die Debatte, so wie sie bislang geführt wird, ein Bild vom Judentum entwirft, das nicht mehr als eine Projektion ist, die mit dem Judentum in seinem Selbstverständnis nur eingeschränkt zu tun hat. Mag auch für die Kirche das Alte Testament eine kanonische im Sinne einer normierenden Funktion haben, so bedeutet das nicht, dass dies für das Judentum gleichermaßen der Fall ist. Kanon und Normativität gehören nicht per se zusammen. In einem anonymen Ausspruch in der Mischna (mHag 1,8) wird erklärt, dass viele der religionsgesetzlichen Bestimmungen nur eine sehr schwache biblische Grundlage haben und das Religionsgesetz gerade nicht aus der Autorität des Bibeltextes heraus entwickelt wird, sondern aus einer kontextabhängigen Weiterentwicklung des gesetzlichen Materials. Das heißt, die Halachot stehen längst fest, bevor eine exegetische Operation angestrengt wird, um einen religionsgesetzlichen Sachverhalt an den Bibeltext anzuhängen. Normative Geltung kommt also nie der Bibel an sich zu, sondern ihrer Auslegung. Die Juden sind deshalb auch nicht einfach das Volk des Buches, sondern das Volk der Buchauslegung. Aus jüdischer Sicht muss deshalb festgehalten werden, dass Slenczka Kanon und Normativität zu schnell miteinander identifiziert und darin auch die Problematik auf eine schiefe Ebene gerät.

Der zweite Punkt betrifft die im Kontext der ganzen Debatte immer wieder geäußerte und zuletzt von Ludger Schwienhorst-Schönberger in der Zeitschrift "communio" (IKaZ 44, 2015) nochmals diskutierte These, wonach die "christliche Aneignung des Alten Testaments" einer "Enteignung des Judentums gleich(komme)". Im Lichte des zuvor Gesagten geht dieser Einwand an der Sache vorbei, denn das Judentum war (und ist) selbstbewusst genug, sich seine Bibel und damit ja wohl vor allem seine Deutung der Hebräischen Bibel nicht von anderen nehmen zu lassen. So diskutiert schon der Midrasch "Pesiqta Rabbati, Pisqa 5" die Konkurrenz unter denen, die sich als "Israel" verstehen und schließt die Debatte mit dem Hinweis darauf, dass die Kinder Gottes eben jene seien, die Gottes Geheimnisse, das ist die Mischna, besäßen.

Allerdings ist doch darauf zu insistieren, dass das rabbinische Judentum das hebräisch-aramäische Buch auslegt, nicht das griechische. Und deshalb ist auch Schwienhorst-Schönbergers These zurückzuweisen, wonach "die jüdische Deutung ... nicht ursprünglicher (ist) als die christliche" und "dem Alten Testament prinzipiell nicht näher(steht) als die christliche". Das rabbinische Judentum steht in der hebräisch-aramäischen Rezeption dem hebräisch-aramäischen Text natürlich viel näher als die christliche Gemeinde, die in der Rezeption der griechischen Fassung überdies eine weitere heilige Schrift auf Griechisch etabliert! Wohl ist die Septuaginta (LXX) aus dem mediterranen Judentum heraus entstanden; die griechische(n) Bibel(n)/Bibelübersetzungen haben sich aber im Judentum in der rabbinischen Zeit nicht behauptet und sind sozusagen auf dem Weg von Philo zu Origenes Eigengut der Kirche geworden.

Und hier gewinnt nun der Einwand, die konfessionelle Lesart beraube die Juden ihrer Bibel in der Tat einen pikanten Sinn, denn der christliche, konfessionelle Deutehorizont stützt sich auf die griechisch-lateinische Tradition (LXX; Vetus Latina; Vulgata), aber die historisch-kritische Erforschung hat den hebräischen Text im Blick. Aus dieser Konstruktion heraus wurde die masoretische Bibel zu einem hybriden Gebilde, weil der Konsonantentext in die Antike (und damit auch in die antike Religionsgeschichte zur Zeit der Entstehung von Judentum und Christentum), der vokalisierte, masoretische Text als dem "Endtext" einer innerjüdischen Text-Geschichte demgegenüber aber in die jüdische Religionsgeschichte seit dem frühen Mittelalter gehört. Dies war möglicherweise den Dominikanern in ihrem Zugriff auf die hebräische Bibel seit dem 13. Jahrhundert noch nicht bis ins Letzte bewusst, aber sicher den Reformatoren und ihren Nachfolgern: Stefan Schorch verweist in seinem Aufsatz "Der Pentateuch der Samaritaner: seine Erforschung und seine Bedeutung für das Verständnis des alttestamentlichen Bibeltextes" (2012) darauf, dass es letztlich den katholisch-protestantischen Auseinandersetzungen zu verdanken sei, dass man - wie explizit von der reformierten Theologie formuliert - nicht nur den hebräischen Konsonantentext, sondern mit ihm das gesamte Punktations- und Akzentsystem in Übereinstimmung mit dem Neuen Testament als Richtschnur anerkannte. In dieser Betonung einer lückenlosen Rezeption wird der masoretische Text zum christlichen Text. Überspitzt formuliert könnte man also sagen, dass eigentlich erst die christliche Hebraistik seit der Renaissance und der Reformationszeit die Hebräische Bibel konfessionalisiert und damit eigentlich wirklich erstmals den Juden weg- und in die Kirche hineingenommen hat, und dies bis in die heutige akademische Tradition hinein. Und gerade im 16. Jahrhundert ging die Hochachtung vor dem (hebräischen) Alten Testament mit gesteigerter Judenfeindschaft einher.

Diese auf den ersten Blick sehr harsch wirkende Formulierung erfährt eine (unfreiwillige) Bestätigung vor dem Hintergrund der von Slenczka ausgeführten protestantischen Argumentation, wonach dem "ursprünglichen Sinn des Textes" der Vorrang vor der in der Auslegungsgeschichte jeweils neu zu ermittelnden "Sinnintention" gegeben wird. Dies ist nun wirklich das zentrale Problem, denn damit gewinnt der religionsgeschichtlich eruierbare Sinn eine konfessionelle Gültigkeit und vereinnahmt damit zwar noch immer nicht die jüdische Hebräische Bibel, erzwingt sich darin aber das Monopol zu ihrer konfessionell beschränkten akademischen Erforschung.

Aus jüdischer Sicht ist daher zu bemerken, dass das Insistieren auf der für die Kirche behauptete Zusammengehörigkeit beider Testamente stärker Ernst damit machen sollte, dass diese Testamente für die Kirche von Anfang an auf Griechisch und Latein vorlagen und vorliegen. Es ist eben nicht die Religionsgeschichte, die die Bibel-Forschung konfessionell werden lässt, sondern die Rezeptions- und Interpretationsgeschichte! Die alttestamentlichen Lehrstühle, wenn sie denn konfessionelle Bibelforschung betreiben wollen, sollten daher ihr akademisches Augenmerk viel stärker auf die Bearbeitung der Septuaginta-Traditionen legen, wie dies ja auch schon an einigen Lehrstühlen der Fall ist. Dass die Septuaginta seit 1999 in interdisziplinärer Zusammenarbeit ins Deutsche übertragen und kommentiert zur Verfügung gestellt wurde, zeugt von einem neuen Bewusstsein für diese Tatsache in kirchlich-(akademischen) Kreisen.

Die auf der anderen Seite und zuletzt prominent von Friedrich Wilhelm Graf geforderte "radikale Historisierung" lässt sich demgegenüber doch wohl am ehesten dadurch erreichen, dass die religionsgeschichtlich-archäologische Forschung an der Hebräischen Bibel nicht mehr unter einer konfessionellen Flagge segelt, sondern analog den amerikanischen "Near Eastern Languages and Civilizations Departments" als Teil der altorientalischen oder vorderasiatischen Literaturen mit philologisch-historisch-archäologischen Methoden bearbeitet wird. Man würde damit auch erreichen, dass Juden und Jüdinnen sowie auch bekenntnislose Forscherinnen und Forscher die Hebräische Bibel nicht nur in Israel und den USA, sondern endlich auch in Deutschland uneingeschränkt an den Universitäten erforschen dürften.

Hanna Liss

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