Widerspruch

Reformation radikalisieren
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Die 500-jährige Wiederkehr des Beginns der Reformation wird hier mit dem Anspruch radikal in die Gegenwart gezogen:"Reformation kann auch heute wieder neu zum Kairos der Transformation werden."

Von welcher Perspektive her sollte die Reformation in den Blick kommen? Die auf fünfBände angelegte Reihe "Die Reformation radikalisieren" wählt die Doppelperspektive: den Blick auf die Krise der herrschenden Zivilisation und den Blick auf die Bibel, um von dort auf die Reformation mit ihrer Wirkungsgeschichte schauen zu können. Dabei nehmen die hier vorzustellenden Bücher die Reformation beim Wort, denn es ist die "lebendige Stimme des Evangeliums", dem sich die Reformation verpflichtet weiß. Vernehmbar wird diese Stimme durch eine sozialgeschichtliche Bibellektüre. Der Ort, der die Perspektive bestimmt, ist die Krise der herrschenden Zivilisation. Das ist mehr als nur die ökonomische Krise. Die Reformation hat die Herausbildung der Moderne geprägt. Kein Zufall ist, dass der Beginn der Kolonialismus und die Reformation in Europa zeitlich zusammenfallen. "Hier liegt nun eine direkte Verbindung zur Frage der Reformation vor." Wenn die Kultur der Moderne an ihrem Ende steht, weil sie tödlich ist, dann müssen sich Bibel und Reformation aber nicht nur danach befragen lassen, was sie zu der fundamentalen Bedrohung des Lebens und des Planeten zu sagen haben. Zugleich ist zu prüfen, in welcher Weise die Reformation auch selber, so wie sie den Beginn der Moderne mitgeprägt hat, an ihrer krisenhaften Entwicklung beteiligt war und ist. Befreiung ist deshalb das durchgehende Stichwort aller fünfBände der Reihe.

Eine internationale und ökumenische Arbeitsgemeinschaft von lutherischen, reformierten, mennonitischen, anglikanischen und methodistischen Theologinnen und Theologen hat das Gesamtkonzept erarbeitet und in 94Thesen gefasst, denen das Leitmotto voran steht: "Ruft eine Befreiung aus im Land" (Lev 25,19). Prägte das lutherische Denken noch der Gegensatz zum römischen Katholizismus, so gilt der Umkehrruf heute den unterdrückenden Strukturen und dem Wirtschaftssystem, das menschliches und nicht-menschliches Leben zerstört. Die 500-jährigeWiederkehr des Beginns der Reformation wird hier mit dem Anspruch radikal in die Gegenwart gezogen: "Reformation kann auch heute wieder neu zum Kairos der Transformation werden."

Der erste Band beschäftigt sich unter dem Titel Befreiung zur Gerechtigkeit mit dem Herzstück der Reformation: Rechtfertigung - Gesetz - Evangelium. Aufgeräumt wird hier mit zweigrundlegenden Missdeutungen: Irreführend sei es, wenn seit Augustin die Rede des Paulus von Gottes Gerechtigkeit individualistisch gedeutet werde. Damit sei der kalkulatorische Kapitalismus vorbereitet worden. Eine weitere Umdeutung des Paulus mit verheerenden Folgen zeige sich dort, wo das Gesetz mit der biblischen Thora und nicht mit dem tödlichen Gesetz des römischen Imperiums identifiziert werde. So habe die Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium bis zu Antijudaismus und Antisemitismus geführt (Beitrag von Brigitte Kahl mit einer Neuinterpretation des Galaterbriefes). Frank Crüsemann bindet das neutestamentliche Verständnis von Rechtfertigung an die Tradition der rettenden Gerechtigkeit Gottes, wie sie in der hebräischen Bibel zum Tragen kommt. Die "lebensförderliche Weisung der Thora" (Marlene Crüsemann) wird im Kontext des Systems des Imperium Romanum gelesen, in dem sich für Paulus die Macht der Sünde zeigt. Widerpart des Paulus ist nicht die jüdische Thora, sondern das Gesetz des Imperium Romanum. Und dieses Gesetz, dem gegenüber Gottes Thora heute zum Zuge kommen muss, sind nach Franz Hinkelammert die vermeintlich ehernen Gesetze des freien Marktes. Mit Paulus wäre Rechtfertigung hier als Durchbrechung solcher Gesetze zu verstehen, die zum Tode führen. Im Hinblick darauf nimmt sich das Projekt viel vor: "Hier muss reformatorische Theologie mit Hilfe der Bibel und auch der späteren Trinitätslehre neu konstruiert werden."

Der zweiteBand Befreiung vom Mammon knüpft hier an: Die im Februar verstorbene Luise Schottroff zeigt auf, dass die Sünde bei Paulus nicht vorrangig als individuelle sündige Tat, sondern als Weltherrscherin verstanden wird, die versklavt. Die politischen Implikationen liegen auf der Hand. Christus ist der Kyrios und seine Herrschaft ist allumfassend. Und die Gemeinden sind Orte, wo befreite Menschen sich versammeln. Rainer Kessler liest die Weisheitsschrift des Kohelet im Zusammenhang mit der Entstehung der Geldwirtschaft und Luthers Kritik des "Mammon als des allergewöhnlichsten Abgottes auf Erden" im Kontext des entstehenden Frühkapitalismus. Rainer Kessler und Ulrich Duchrow zeigen, wie mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft im achten vorchristlichen Jahrhundert eine Entwicklung einsetzte, die nach dem früheren Bundespräsidenten Köhler zu einem "Monster" geworden ist. Nicht ohne Widerspruch wird dieser Ansatz des Projektes bleiben: Die Überwindung aus der Krise der herrschenden destruktiven Zivilisation soll einen befreienden und evangelischen Charakter bekommen. Ein nicht geringer Anspruch angesichts eines Papstes Franziskus, der zu einer vernehmbaren Stimme geworden ist, die zur Befreiung vom "Imperium des Geldes" aufruft.

Ulrich Duchrow/Hans G.Ulrich (Hrsg.): Befreiung vom Mammon. Lit Verlag, Münster 2015, 270 Seiten, Euro 24,90.

Franz Segbers

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