Herausforderung für Europa

Empfehlungen für eine angemessene EU-Flüchtlingspolitik
"Flüchtlinge willkommen" heißt die Kampagne von Online-Aktivisten im Brüsseler Europa-Viertel. Foto: dpa/ Wiktor Dabkowski
"Flüchtlinge willkommen" heißt die Kampagne von Online-Aktivisten im Brüsseler Europa-Viertel. Foto: dpa/ Wiktor Dabkowski
Die zunehmende Zahl von Flüchtlingen, die nach Europa kommen, stellt die Mitgliedstaaten der EU vor große Aufgaben. Die bisherige Asylpolitik stößt an ihre Grenzen. Nicht nur die Bundesregierung fordert eine neue, gemeinsame Flüchtlingspolitik. Doris Peschke, Generalsekretärin der kirchlichen Kommission für Migranten in Europa (CCME), beschreibt die Problemlage und Grundsätze, die eine europäische Flüchtlingspolitik beachten muss.

Seit Ende 2013 macht der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Antonio Guterres, die Weltgemeinschaft auf die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg aufmerksam. Ende 2014 wurden 59,5 Millionen Vertriebene gezählt, davon 38,2 Millionen innerhalb ihres Landes, 19,5 Millionen Flüchtlinge und 1,8 Millionen Asylsuchende außerhalb ihres Landes. Der Krieg in Syrien hat mehr als vier Millionen Flüchtlingen außerhalb des Landes und acht Millionen innerhalb des Landes zur Folge. Entsprechend wurde die internationale Gemeinschaft bereits im Dezember 2014 aufgerufen, wenigsten zehn Prozent der syrischen Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten neuanzusiedeln (Resettlement) und die Nachbarstaaten bei der Beherbergung der großen Flüchtlingszahlen, allein im Libanon rund 1,5 Millionen, zu unterstützen.

Seit 2013 stieg die Zahl der Flüchtlinge, die versuchten, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, stark an; es verloren aber auch immer mehr Menschen ihr Leben bei diesen Versuchen. Nach dem dramatischen Tod von mehr als 360 Menschen vor Lampedusa im Oktober 2013 steuerte die italienische Regierung um und begann eine umfassende Seenotrettung mit der Operation Mare Nostrum, mit der nahezu 100.000 Menschen gerettet wurden. Mehr als 175.000 Menschen kamen 2014 in Italien an.

Weniger wahrgenommen wurde der beständige Anstieg von Flüchtlingen in Griechenland. Nachdem Griechenland und Bulgarien 2013 die Landgrenze zur Türkei mit Zäunen schlossen, wurden die Ägäischen Inseln zum wichtigsten Ziel. Der Anstieg nahm 2015 drastisch zu, bis August kamen bereits mehr als 165.000 Flüchtlinge über die griechischen Inseln, in Italien wurden 104.000 Ankünfte gezählt.

Italien und Griechenland haben nach wie vor unzureichende Aufnahmekapazitäten: In den vergangenen Jahren wurde eher in Grenzsicherung als in Flüchtlingsaufnahme investiert. Entsprechend unvorbereitet waren die Länder auf die hohe Zahl an Flüchtlingen, die zwar häufig registriert wurden, aber selten eine Unterkunft oder Unterstützung erhielten. In beiden Ländern wurde seit 2012 zwar das Asylsystem verbessert, nicht aber den - erwartbaren - Zahlen angepasst.

Die EU-Mitgliedsstaaten hörten die Aufrufe aus Italien und Griechenland und des UN-Flüchtlingskommissares, sich an der Bewältigung der Aufnahmekrise zu beteiligen, spät und unzureichend. Erst im Frühjahr 2015 stimmten die Mitgliedsstaaten zu, das Mandat der Frontex Operation "Triton" auf die Seenotrettung deutlich auszuweiten. Von einer Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedsstaaten, wie von der italienischen Regierung vorgeschlagen, wollte man lange nichts wissen.

Neuansiedlungsprogramm beschlossen

Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten hatten 2013/2014 die Überarbeitung der Richtlinien für das Gemeinsame Europäische Asylsystem abgeschlossen, die Mehrheit der Richtlinie ist spätestens Mitte Juli 2015 in Kraft getreten. Darin sind gemeinsame Standards für die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende ebenso enthalten wie die Regeln für die Zuerkennung von internationalem Schutz (Flüchtlingsstatus oder subsidiärer Status) und welche Rechte damit verbunden sind. Auch die Regeln für ein Asylverfahren und die Neufassung der Richtlinie, nach der bestimmt wird, welcher Mitgliedsstaat für ein Asylverfahren zuständig ist, auch Dublin III genannt, zählen dazu.

Ebenfalls beschlossen wurde 2012 ein gemeinsames Europäisches Neuansiedlungsprogramm für Flüchtlinge. Dafür wurden eigene Finanzmittel der Europäischen Kommission zur Verfügung gestellt, aber auch die Freiwilligkeit betont, nach der EU-Mitgliedsstaaten die Aufnahme von Flüchtlingen selbst entscheiden. Während Kirchen und NGOs gemeinsam mit dem UNHCR zu diesem Zeitpunkt von den EU-Mitgliedsstaaten eine jährliche regelmäßige Aufnahme von 20.000 Flüchtlingen forderten, blieb die Zahl der angebotenen Quoten unter 10.000.

Kritik an den EU-Regeln gibt es viel, insbesondere an dem Dublin-System. Danach wird zunächst geprüft, welcher Staat für die Durchführung des Asylverfahren zuständig ist, was die Anhörung in der Sache, also das Fragen nach dem Fluchtgrund einer Person, verzögert. Auch führt dieses System schnell zu einer unverhältnismäßigen Belastung von Grenzstaaten wie derzeit Griechenland und Italien. Aufgrund der unzureichenden Aufnahmebedingungen in Griechenland wurden Rücküberstellungen, die nach der Dublin-Regel eigentlich rechtlich vorgesehen sind, in den vergangenen Jahren ausgesetzt. Auch nach Ungarn oder Italien werden Asylsuchende nicht aus jedem Land der EU zurückgeschickt. Versprochen und noch nicht vorgeschlagen ist eine Richtlinie, nach der der Schutzstatus von Flüchtlingen in der ganzen Union anerkannt wird; auch hier besteht ein Ungleichgewicht, denn die negativen Bescheide eines Mitgliedsstaates werden bereits gemäß einer EU-Entscheidung gegenseitig und überall in der Union anerkannt.

Das Europäische Asylsystem hat mit den Richtlinien in den vergangenen fünfzehn Jahren zu Verbesserungen geführt. Dennoch muss konstatiert werden, dass der Schwerpunkt der europäischen Flüchtlingspolitik sehr stark auf Abwehr und Verlagerung des Flüchtlingsschutzes und der Zuständigkeit geführt hat. Nicht nur die Dublin-Regel verlagert die Zuständigkeit für ein Asylverfahren, auch die Konzepte für so genannte sichere Herkunftsstaaten und sichere Drittstaaten verfolgen das Ziel, die Asylsuchenden möglichst schnell an andere Orte zu bringen. Schnell geht dies aber in der Regel nicht.

Für die gemeinsame Grenzpolitik wurde die EU-Grenzschutzagentur Frontex eingerichtet, für die gemeinsame Asylpolitik das Europäische Asylunterstützungsbüro EASO. Während Frontex die Grenzkontrollen an den EU-Außengrenzen operativ unterstützt, ist EASO bislang nur bedingt aktiv: in der Ausbildung und Beratung, aber nicht - zumindest noch nicht - mit Bereitstellung von Personal aus anderen Ländern zur Durchführung der Asylverfahren. Auch die finanzielle Ausstattung der beiden Behörden lässt sich nicht vergleichen, und so ist die Zuwendung an EASO im Nothilfeprogramm der Europäischen Kommission vom Mai 2015 vielleicht symptomatisch: Für Frontex-Operationen wurden zusätzlich 18,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, für EASO gerade einmal 132.000 Euro. Immerhin wurden für die Stärkung der Aufnahmekapazitäten 57 Millionen Euro vorgesehen. Wenn diese Mittel gut und zügig verwendet werden, kann die Situation vielleicht entlastet werden.

Sichere Wege nötig

An den Grenzen in Griechenland und Italien wird häufig gedacht und gesagt, "die Flüchtlinge wollen ja gar nicht hier bleiben". Als Konsequenz wurden häufig keine Informationen über mögliche Asylverfahren mitgeteilt und keine Unterstützung gewährt. Entsprechend versuchen Flüchtlinge und Asylsuchende immer öfter sich selbst durchzuschlagen.

Wie sollte nun die EU auf diese Herausforderungen reagieren? Hier ein paar Empfehlungen für angemessene europäische Antworten:

Die Mitgliedsstaaten der EU sind nun gefordert, anzuerkennen, dass es zu allererst um eine Flüchtlingskrise vor den Toren Europas geht. Entsprechend müssen sie sich auf eine faire Verteilung der Flüchtlinge verständigen. Zunächst müssen aber alle EU- und Schengen-Mitgliedsstaaten anerkennen, dass insgesamt mehr Flüchtlinge aus Krisenregionen aufgenommen werden müssen, und dass sie dringend mehr in die Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge investieren sollten. Auch wenn die Krise für viele überraschend erscheint, so ist sie es eigentlich nicht: Nicht oder zu spät zu handeln führt zu den Aufnahmeproblemen, die derzeit in Europa zu sehen sind.

Flüchtlingsaufnahme erfordert auch Maßnahmen zur Integration, am besten vom ersten Tag an: Angebote zum Spracherwerb, medizinische Versorgung, Kontakt zur Bevölkerung, Schulbesuch für Kinder, Anerkennung von Qualifikationen und möglichst zügige Vermittlung in den Arbeitsmarkt sind notwendig.

Flüchtlinge brauchen sichere Wege: Um das Sterben an den Grenzen und auf den Wegen in die EU oder Schengen-Mitgliedsstaaten zu verhindern, müssen sichere und reguläre Möglichkeiten zur Einreise geschaffen werden. Vorrangig sollten Familienangehörige schnell und großzügig Einreisegenehmigungen erhalten. Botschaftsmitarbeiter könnten dafür konsularische Beratung und Genehmigungen in den Flüchtlingslagern etwa im Libanon und Jordanien erteilen. Auch humanitäre Visa könnten hier erteilt werden. Für syrische und eritreische Flüchtlinge sollte eine Aufhebung der Visapflicht erwogen werden, damit könnte den Schleppern und Menschenhändlern die Geschäftsgrundlage entzogen und Menschen eine geregelte Reise und Einreise ermöglicht werden. Die Zahl der neuanzusiedelnden Flüchtlinge muss dringend auf maßgebliche und glaubwürdige Quoten angehoben werden, damit darüber eine tatsächliche Alternative für Flüchtlinge besteht, mit diesem Programm eine realistische Chance auf einen Neuanfang zu haben.

Zusätzlich braucht es geplante und gut kommunizierte Einwanderungsregeln für Studierende und Arbeitskräfte.

Insbesondere im Nahen Osten, aber auch in anderen Krisenregionen, muss die Unterstützung für die Beherbergung von Flüchtlingen dringend - und zusätzlich zur Aufnahme von Flüchtlingen - aufgestockt werden.

Keine dieser Maßnahmen allein wird die globale Flüchtlingskrise lösen können. Je mehr jedoch diese Maßnahmen komplementär zueinander genutzt werden, und je mehr tatsächlich alle gemeinsam sich der Aufgabe stellen, desto höher sind die Chancen, diese Krise zu meistern - und damit Flüchtlingen den notwendigen Schutz zu gewähren und die Würde jedes einzelnen Menschen zu achten.

Doris Peschke

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