Shitstorm ohne Ende

Vom Wüten der Empörungsgesellschaft im digitalen Zeitalter
Wasserstaustufe (2013) Foto: Thorsten Nerling
Wasserstaustufe (2013). Foto: Thorsten Nerling
Der Übergang von der Mediendemokratie zur Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters ist im vollen Gange. Permanent droht der Skandal. Aber einfach auf das Internet schimpfen, bringt nichts, meint der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Er hat die Hoffnung auf ein Ende der "mentalen Pubertät" noch nicht ganz aufgegeben.

Vielleicht werden Mentalitätshistoriker, die eines Tages in den Archiven und Datenspeichern nach kollektiven Bewusstseinsspuren fahnden, unsere Gegenwart einmal als die Epoche der Daueraufregung beschreiben, als die Zeit des permanenten Skandals. Denn es vergeht kein Tag, an dem diese Gesellschaft nicht mit neuen Empörungsangeboten geflutet würde.

Wer ist schuld? Das Netz? Hat diese "Spektakelmaschine in Echtzeit" (Sascha Lobo) den Ton bis an den Rand des Diskurs-Ruins verschärft? Das allerdings ist die falsche Frage. Denn zum einen würde die Netz-Verteufelung bedeuten, dass die Verantwortung des Einzelnen unsichtbar würde, der dieses so faszinierend plastische Medium auf die seine Weise benutzt: Manchmal eben für das absurde Spektakel, den Shitstorm ohne Sinn und Verstand, dann aber eben auch für die gesellschaftlich bedeutsame Aufklärung, die dringend benötigte Transparenz. Und zum anderen würde man sich den Blick dafür verbauen, dass die allmähliche Verwandlung der Öffentlichkeit in ein Testlabor für Erregungsvorschläge vielschichtige Ursachen besitzt.

Was sich am Beispiel der allgemeinen Skandalsucht offenbart, ist Symptom eines umfassenden Kultur- und Medienwandels, Ausdruck und Folge einer neuen publizistischen Formation. Aus der einst vornehmlich massenmedial geprägten Mediendemokratie entsteht allmählich die Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters. Hier wird die Deutungsmacht der Wenigen zum erbittert ausgefochtenen Meinungskampf der Vielen. Hier wird aus dem Gatekeeping (dem journalistischen Akt des Gewichtens, des Publizierens und Verschweigens von Information an der Zugangsschleuse zur Öffentlichkeit) das permanente, oft sorglos betriebene Gateblowing: Es genügt manchmal schon ein einziger Link, ein rasch mit dem Smartphone produziertes und dann online gestelltes Filmchen, eine sekundenschnell abgesetzte Twittermeldung, um gerade noch geschützte, abgeschottete Informationsräume aufzusprengen - eine Form der barrierefreien Ad-hoc-Publikation, die die Zahl möglicher Skandal-offerten noch einmal kräftig potenziert.

In der massenmedial geprägten Mediendemokratie konnten einst publizistische Großmächte darüber entscheiden, was als wichtig zu gelten hatte. Es gab räumlich einigermaßen eingrenzbare Wirkungsfelder, klar erkennbare, physisch fassbare Machtzentren. In der digitalen Empörungsdemokratie der Gegenwart sind räumliche, zeitliche und kulturelle Grenzen leicht passierbar geworden. Einmal digitalisierte Dokumente der Blamage und der Demontage, Spott- und Hassvideos lassen sich rasend schnell verbreiten, ohne Aufwand kopieren, kaum noch zensieren und immer wieder präsentieren. Sie zirkulieren heute global und das einst weitgehend stumme, zur Passivität verdammte Medienpublikum wird zunehmend selbst zum Akteur, zu einem neuen Player im Wettlauf um den Scoop und die Sensation. In der Empörungsdemokratie der Gegenwart besitzt fast jeder die Instrumente, um die eigenen Botschaften in die medialen Erregungskreisläufe einzuspeisen. Man braucht keine Redaktion, keinen Sender, lediglich einen Netzzugang und ein Thema, das fasziniert und alarmiert.

Publizieren in Rekordgeschwindigkeit

Nur zwei Beispiele aus der Frühzeit des Shitstorms: Ein paar Blogger waren es, die 2010 ein zunächst unbeachtet gebliebenes Radio-Interview Horst Köhlers wieder ausgruben, es als grundgesetzwidrige Rechtfertigung von Wirtschaftskriegen interpretierten und per Mail und über Twitter zahlreiche Medien auf das Thema brachten - mit der bekannten Folge des Blitzrücktritts des Bundespräsidenten. Und die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan wurde 2011 zunächst nur von einem anonymen Einzelnen als Plagiatorin attackiert, der sein Dossier online stellte, schließlich nachlegte; die Ministerin kämpfte vergeblich um ihr Amt.

Es lässt sich eine neue Logik der Enthüllung beobachten. In der Ära der mächtigen Leitmedien funktionierten Skandale nach dem Muster der linearen Kausalität - mit mächtigen Journalisten und einem weitgehend ohnmächtigen Publikum. Es gab eine Normverletzung, die irgendwer den Medien bekannt machte oder die diese selbst recherchierten; dann folgte die Publikationsentscheidung, schließlich ganz am Schluss des Kommunikationsprozesses die Veröffentlichung und die mögliche Empörung des Publikums, das sich aufregen konnte oder auch nicht. Heute kann das Publikum selbst in Aktion treten und in Rekordgeschwindigkeit, gleichsam testweise, publizieren - ohne vorab zu verifizieren, ob das Behauptete überhaupt stimmt. Es wird zu einem Enthüller eigenen Rechts, setzt seine eigenen Themen, attackiert Politiker oder Unternehmen und macht seine individuelle Empfindlichkeit auf der Weltbühne des Internets sichtbar.

Das Böse, das Bestialische und das Banale, die Attacken eines ekelhaften Mobs, aber auch das aufklärerische Engagement, der digitale Aufstand gegen Diktatur und Gewalt - alles ist heute gleichermaßen sichtbar, was einfach nur zeigt: Wir befinden uns in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den neuen Medien. Mal sind es verwackelte Videobilder, die ein Kriegsverbrechen dokumentieren, dann wieder Spottbilder über irgendeinen Prominenten; mal wird der Blog einer Schülerin, die ihr furchtbares Schulessen vor aller Augen seziert, bekannt. Dann wieder entflammt ein Shitstorm gegen eine Firma, die aus guten oder schlechten Gründen im Verdacht steht, sich falsch zu verhalten.

Ökonomische Gründe

Journalisten bekommen also eine manchmal äußerst professionell arbeitende Konkurrenz im Enthüllungsgeschäft. Und die journalistischen Skandalbehauptungen selbst, all die Aufmacher und Aufreger, auch das ist neu, werden selbst sehr rasch durch ein aktiv gewordenes Publikum skandalisierbar, was die allgemeine Erregung noch weiter steigert - im Netz, auf den Leserbriefseiten und in Protestmails. Aber die Veränderung des Diskursklimas hat auch handfeste ökonomische Gründe, nimmt doch die Konkurrenz auf dem Medienmarkt beständig zu. Wer "Skandal!" ruft, der zeichnet seine eigene Botschaft als unbedingt beachtenswert aus. Der Skandalschrei ist inzwischen so etwas wie die Ultrakurzformel eines aggressiven Werbens um Aufmerksamkeit. Erfolgreiche Aufreger sind schlicht profitabel, gerade in einer Zeit, in der etablierte Erlösmodelle nicht mehr reibungslos funktionieren, die Leserbindung schwächer wird, Auflagen sinken, Quoten einbrechen. Und schließlich lässt sich, auch das ist eine Ursache des allgemein spürbaren Klimawandels, eine Moralisierung aller Lebensbereiche beobachten, eine Neigung zum Tugendterror, der Maß und Mitte verloren hat.

Warum ist das so? Moralische Empörung suggeriert ein Ad-hoc-Verstehen, liefert die Möglichkeit, sich über den anderen zu erheben und im Moment der kollektiven Wut Gemeinschaft zu finden. Sie kommt dem allgemein menschlichen Bedürfnis nach Einfachheit, der Orientierung am Konkreten, Punktuellen und Personalisierbaren entgegen, bedient die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, dem Sofort-Urteil und der Instant-Entlarvung. Und eben dies führt uns wieder zu den neuen technischen Möglichkeiten und der radikalen Demokratisierung der Enthüllungspraxis zurück. Denn es braucht eben nur ein paar Klicks - und schon ist ein Zitat gefunden, ein Beitrag entdeckt, aus dem sich ein Widerspruch formen, der Vorwurf der persönlichen Inkonsequenz basteln lässt.

Die Wasser-Wein-Entlarvung ("predigt Wasser, trinkt aber Wein!"), eigentlich ein archaisches Erregungsprinzip, ist heute ein Gesellschaftsspiel geworden, an dem sich jeder ohne größere zeitliche oder intellektuelle Unkosten beteiligen kann. Die Folge für Politiker und alle, die in der Öffentlichkeit stehen: Die moralische Selbstfestlegung bedeutet womöglich einen gegenwärtigen Imagegewinn, stellt aber ein zukünftiges Reputationsrisiko dar. Vorsicht, die eigenen Sätze werden einem vielleicht morgen schon wieder um die Ohren gehauen.

Medienmix nötig

Es sind die technologischen Bedingungen, die medialen Konkurrenzverhältnisse, die gesellschaftlichen Moralisierungswellen im Verbund mit allgemein menschlichen Wahrnehmungsmustern, die in der Summe eine Skandalisierungsspirale in Gang setzen und eine beständig lauernde Erregungsbereitschaft erzeugen, die sich in rascher Folge neue Opfer und Objekte sucht. Die Massenmedien werden in diesem universal regierenden Kampf um Aufmerksamkeit keineswegs unwichtig; das glauben nur aufgeregte Social-Media-Berater, die mit solchen Ansagen ihr Geld verdienen müssen. Die rein netzinterne Erregung, so lässt sich zeigen, verpufft in der Regel sehr schnell. Die gesellschaftlich wirksame Empörung, die etwa einen Politikerrücktritt auslöst oder ein Unternehmen tatsächlich zum Handeln oder zumindest zum öffentlichen Schuldbekenntnis zwingt, braucht nach wie vor notwendig den Medienmix, die machtvolle Intervention von Zeitungen, Fernsehsendern, Radiomachern. Klassische Leitmedien, etablierte Online-Magazine und das aus der Ohnmacht entlassene Publikum bilden im digitalen Zeitalter vielmehr ein Wirkungsnetz eigener Art - und alle gemeinsam verändern sie die klimatischen Verhältnisse in dieser Republik.

Die Folgen: Es regiert, erstens, ein neuer Geschwindigkeitsrausch, ein allgemeiner Schnelligkeitswettbewerb - und zwar universal und in allen Medien. Es dominiert, zweitens, bei Politikern und Unternehmen eine neue Ängstlichkeit, eine verzagte Verkrampftheit, will man doch nicht derjenige sein, der die digitale Normpolizei und den nächsten Shitstorm provoziert. Und es zeigen sich, drittens, neue Asymmetrien, für unsere aktuelle Medienwirklichkeit charakteristische Missverhältnisse zwischen Ursache und Wirkung, Anlass und Effekt. Schon ein einzelner, idiotischer Filmtrailer, in dem der Prophet Mohammed verunglimpft wird, kann blutige, mörderische Gewaltausbrüche hervorrufen und im Extremfall in einem globalen Hassbeben enden.

Allerdings: Auf ein Leben im Wirkungsnetz plötzlich aufschäumender medialer Aufmerksamkeitsexzesse ist niemand wirklich vorbereitet. Denn dieses Leben braucht ein anderes Gespür für Netzwerk-Kausalität und eine Ahnung von den prinzipiell gewaltigen Wirkungsmöglichkeiten, die man eben auch als ein 10-Jähriger besitzt, wenn man seine Spaß- und Spottvideos ins Netz stellt. Im Umgang mit den neuen Digitaltechnologien im Internet zeigt sich ein noch unentdeckter, noch unverstandener Bildungsauftrag, der an den Schulen und Universitäten die Lehrpläne verändern müsste. Natürlich, es gibt längst zahlreiche Kurse in Sachen Medienkompetenz. Und es ist vermutlich auch irgendwie nützlich, wenn alle PowerPoint lernen und die neueste Spielerei in einem Computerpool ausprobieren dürfen. Aber das reicht bei Weitem nicht hin. Die Phase der mentalen Pubertät im Angesicht der digitalen Revolution kann nur einem reiferen Gebrauch weichen, wenn jeder versteht, dass er selbst zum Sender geworden ist und darüber entscheidet, was öffentlich wird - die böse Botschaft, die kluge Idee, der irrelevante Quatsch.

Aber man kann auch noch sehr viel grundsätzlicher, umfassender ansetzen. Nicht nur auf der Ebene der Produktion, sondern eben auch auf der Ebene der Rezeption von Empörungsofferten gleich welcher Art. Denn was wäre eigentlich, wenn die stimmberechtigten Mitglieder der Empörungsdemokratie (und das sind wir alle), sich - ganz unabhängig von der Frage, ob sie gerade und für den Moment auf der Sender- oder der Empfängerseite stehen - zu einem klügeren, sorgfältigeren, besser dosierten Umgang mit den eigenen Affekten entschließen und sich einer einzigen Frage stellen würden: Was ist wirklich wichtig? Bei welchem Thema lohnt die Wut, bei welchem nicht? Welche Debatten könnten dann entstehen, welche Formen der kreativen Nachdenklichkeit, des ausgeruhten Argumentierens?

Eine derartige, kollektive Sensibilisierung für Relevanz und eine plötzlich um sich greifende Begeisterung für die Nuance sind unrealistisch, gewiss. Aber man wird doch noch träumen dürfen, wenigstens für einen Moment. Bis zum nächsten Skandal ...

Dieser Essay basiert auf Artikeln, die in der Zeit, der Süddeutschen Zeitung und in der Zeitschrift Gegenworte erschienen sind.

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Bernhard Pörksen

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Foto: privat

Bernhard Pörksen

Bernhard Pörksen ist seit 2008 ist er Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Pörksen hat
zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt erschienen im Carl Hanser Verlag München „Die große Gereiztheit: Wege aus der kollektiven  Erregung“ (2018) und gemeinsam mit Friedemann Schulz von Thun „Die Kunst des Miteinander-
Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ (2020).


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