Mehr als nur Nuancen
Nichts ist sicherer als der Tod. Unsicher bleibt, wie das eigene Sterben geschehen wird. Zu diskutieren ist darum, welche Rahmenbedingungen die Gesellschaft dafür setzen soll. In diesen Diskussionen um das Lebensende werden die Kirchen nahezu reflexhaft um ihre Meinung gefragt. Worin ihre Position besteht und welche Möglichkeit sie haben, Einfluss auf die gesellschaftliche Debatte zu nehmen, müssen die Kirchen allerdings zunächst erst selbst erörtern. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Diskussionen zwar national geführt werden, aber nicht unwesentlich von den Entwicklungen in den europäischen Nachbarländern geprägt sind. Die liberalen Gesetzgebungen in den Niederlanden, Luxemburg, in Belgien und der Schweiz bilden stets Vergleichspunkte - sei es als Zielperspektive oder als Negativbeispiel - für die innerdeutschen Debatten. Aufgrund dieser europäischen Perspektivweitung und nicht zuletzt da der christliche Glaube übernational ausgerichtet ist, steht es auch den Kirchen gut an, zu prüfen, wie sie sich in ihren jeweiligen Kontexten oder im europäischen Miteinander positionieren und womöglich gemeinsam argumentieren.
Die evangelischen Kirchen haben es in dieser Hinsicht schwerer als die römisch-katholische Kirche, lehnen sie für sich doch eine lehramtliche Moralnormierung ab. Den Christinnen und Christen trauen sie grundsätzlich ein eigenes ethisches Urteil zu. Für viele evangelische Kirchen gehört die Beteiligung an gesellschaftlichen Aushandlungs- und Gestaltungsprozessen zu ihrem Proprium. Deshalb sind viele offen, im Gespräch mit den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren bei Vorliegen plausibler Gründe ihre Meinung zu verändern. Die evangelische Gratwanderung besteht folglich darin, so ernsthaft wie treu die Glaubensüberzeugungen zu vertreten und trotzdem ebenso glaubwürdig auf der Höhe gesellschaftlicher Diskurse zu agieren.
Die evangelischen Kirchen stützen sich in der Regel in ihrer ethischen Positionierung auf die Überlegungen der theologischen Wissenschaften. Extreme Argumentationen lassen sich in diesem Kontext nur selten finden. Es bildet sich dort aber dennoch ein breites Spektrum an möglichen Haltungen in der Sterbehilfe-Diskussion ab, in dem sich zum Beispiel in Deutschland die unterschiedlichsten Gesetzentwürfe der aktuellen Debatte bestätigt sehen können: Am einen Ende dieses evangelisch-ethischen Spektrums wird der Umgang mit dem Lebensende auf dem Feld individualethischer Programmatik verhandelt. Freiheit und Selbstbestimmung - auch gegen das eigene Leben - gelten dort als Ausdruck der Menschseins. Im Wunsch nach einem authentischen Leben soll dessen Aktivität auch im Sterben fortgeführt werden können. Auf diese Weise sollen Menschen im Sinne eines autarken Freiheitsverständnisses Herr oder Frau des eigenen Lebens bleiben und die Gestaltungsfäden bis zuletzt in der eigenen Hand halten dürfen. Autonomistisch verstandene Gewissens-, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit steht demnach nicht in Spannung zum christlichen Menschen- und Gottesbild. Die persönliche Gewissensbildung erfolgt letztlich unabhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen und institutionellen Rahmenbedingungen, da den Menschen zugetraut wird, sich kritisch distanzieren zu können. Darum spielen auch Sorgen vor Dammbrüchen oder sozialem Druck eine geringe Rolle.
Am anderen Ende des Spektrums evangelischer Ethik steht ein sozialethischer Zugang zu den Konflikten um das Lebensende. Der einzelne Mensch, seine Überzeugungen und Entscheidungen, werden innerhalb seiner sozialen und institutionellen Strukturen verstanden. Die Begriffe "Freiheit" und "Selbstbestimmung" lassen sich demnach nur geprägt vom gesellschaftlichen Klima, vom Recht, von institutionell angebotenen Handlungskorridoren begreifen. Sie sind nicht ohne Bindung und Verantwortung denkbar, die theologisch betrachtet zu und vor Gott, den Nächsten und der Mitwelt bestehen. Befürchtet wird ein zumindest indirekter gesellschaftlicher und gesundheitsökonomischer Druck auf verletzliche Menschen, die dann vermeintlich selbstbestimmt ihren eigenen Tod einfordern. Auch in der jüngsten Studie von EKD und Diakonischem Werk bilden sich diese Befürchtungen ab: steigt doch die Zustimmung zum ärztlich assistierten Suizid mit der Zunahme des Einkommens. Unter den Ärmsten herrscht die geringste Zustimmung, möglicherweise weil sie ahnen, dass sie ihr kostbares, aber eben kostspieliges Leben am Ende rechtfertigen müssen.
Unterschiedliche Akzente
Betrachtet man nun die europäische Kirchenlandschaft, so lassen sich auch dort durchaus unterschiedliche Akzente in der Argumentation zum Umgang mit dem Lebensende erkennen. Ein Überblick über die offiziellen kirchlichen Positionierungen zeigt, dass deren Existenz einer Gemengelage geschuldet ist: aus der Rolle der Kirchen im jeweiligen Land, aus den finanziellen und personellen Ressourcen der Kirchen für diese ethische Arbeit und nicht zuletzt aus der Bedeutung, die diese medizinethische Debatte in den jeweiligen Ländern spielt. Gerade für südost- und mitteleuropäische Kirchen kann die Diskussion um das Lebensende als ein ziemliches "Luxusproblem" anmuten, das vorrangig die nordwestlichen Länder Europas betrifft. Ablesen lässt sich dies auch an den gesetzlichen Regelungen, die in den Ländern dieser Regionen meistens weniger ausgearbeitet sind, bisweilen noch ganz fehlen. Es überrascht nicht, dass, wo die Sterbehilfedebatten nicht öffentlich geführt werden, auch die Kirchen anderen Themen Vorrang geben.
In Ländern, die Tötung auf Verlangen und ärztlich assistierten Suizid legalisiert haben oder sich mit entsprechenden Gesetzentwürfen auseinandersetzen, werden die kirchlichen Argumentationen ausgefeilter und differenzierter. Im europäischen Vergleich schlagen sie dann allerdings auch bisweilen Töne an, über die innerevangelisch keine Übereinstimmung besteht.
Ein Beispiel dafür bietet der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK). Er ist mit dem legalisierten Wirken von Sterbehilfeorganisationen wie Exit und Dignitas konfrontiert. In seinen Stellungnahmen lässt der SEK seine Kritik daran deutlich werden. Die Existenz der Organisationen stellt er aber nicht mehr grundsätzlich in Frage. Stattdessen konzentriert sich der SEK mittlerweile auf den ihm möglichen Spielraum der Kritik und fordert vor allem engere Rahmenbedingungen und Sorgfaltskriterien ein: "Für den SEK geht es nicht um ein generelles Verbot von Suizidhilfe, sondern um eine Reglementierung von organisierter, kommerzieller Suizidhilfe. Die Verwendung von Helium oder Hotels und Autos als Sterbeorte sind Auswüchse der organisierten Suizidhilfe, die klare rechtliche Grenzen unumgänglich machen." Auch der SEK fürchtet die schiefe Ebene und warnt besonders vor der geplanten Ausweitung der Zielgruppe auf psychisch kranke Menschen diesseits der Sterbephase, auf "Lebenssatte", und auf "Jugendliche und Paare."
Ein Beispiel für den Spannungsreichtum innerhalb der evangelischen Positionen geben auch die niederländischen evangelischen Kirchen (heute PKN). 1985 hatten sie in "Euthanasie en Pastoraat" erklärt "dass der Beschluss, das eigene Leben zu beenden/beenden zu lassen, vom Gesichtspunkt des christlichen Glaubens aus gesehen, verantwortet werden kann." Derart liberale Stimmen lassen sich bis heute unter Kirchenvertretern hören. So erklärt jüngst etwa der Vorsitzende der Synode, Arjan Plaisir, auf der PKN-Homepage die Euthanasie zu einer Form der "Sterbekunst" und fordert emphatisch, sie zu rehabilitieren. Dies verwirrt, hat sich doch die PKN 2006 in einer umfänglichen Veröffentlichung ("Medizinische Entscheidungen im Umfeld des Lebensendes") deutlich gegen die aktiven Formen der Sterbehilfe ausgesprochen. Diese Stellungnahme erklärt sich wohl am besten daraus, dass in den Niederlanden die ansonsten in der Ethik so beargwöhnte schiefe Ebene erkennbar ist: Was als Ausnahme gedacht war, hat sich den Weg in die Normalität gebahnt. Der Radius der vermeintlich engen Grenzen dafür, wer wann warum seinen eigenen Tod einfordern kann, ist immer größer geworden und hat folglich die Zahl der Euthanasiefälle steigen lassen. Die PKN ist in Folge dieser Entwicklung von eher individualethisch ausgerichteten Argumentationen für die vorsichtige Akzeptanz des selbstverfügten Sterbens umgekehrt zu eher sozialethischen Begründungen ihrer Ablehnung gelangt.
So gern die evangelischen Kirchen die Pluralität in Fragen der Lebensführung zu einem Markenzeichen erklären und ihr einen theologischen Gewinn zuschreiben, wird er doch nicht überdehnt. Erkennbar ist dies daran, dass die evangelischen Kirchen in Europa einen Arbeitsprozess anstreben, wie das Lebensende gestaltet werden kann. Als Ergebnis entstand der bis heute kirchlich viel zitierte Text "Leben hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit", den die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) 2011 verabschiedet hat. Inhaltlich konstatiert der Text einerseits die innerprotestantischen Differenzen, erkennt aber andererseits in der spannungsvollen Trias von "Freiheit, Liebe und Verantwortung" immer wiederkehrende evangelisch-ethische Grundkonstanten, die sowohl auf den Sterbenden als auch auf die Menschen in ihrer Umgebung hin ausgedeutet werden. Dazu gehört auch, dass die Kirchen nicht im Sinne letzter Urteile Menschen ob ihres Sterbewunsches oder ihrer Entscheidung verurteilen. Die evangelischen Kirchen wollen informieren und abwägen helfen, ohne sich anzumaßen, Gottes Urteil über den Menschen vorwegzunehmen.
In der Frage nach dem assistierten Suizid sieht die GEKE im Vergleich zur aktiven Sterbehilfe ethische Differenzen im Blick auf die Rolle der ausführenden Person, aber dennoch vor allem Gemeinsamkeiten mit Blick auf die sozialethische Beurteilung des Geschehens: "Obwohl sie (die assistierte Selbsttötung) formal im reinen Sinne eine autonome Handlung ist, die vom Patienten selbst ausgeführt wird, bleibt es zudem ein schweres Problem und eine Herausforderung, dass die Beihilfe zur Selbsttötung, wie die Tötung auf Verlangen, dazu neigt, mit dem Verlassen des Patienten verbunden zu sein, wo stattdessen Trost, Gemeinschaft und Fürsorge verlangt sind." Von Kirchen und Gemeinden in Ländern mit liberaler Gesetzgebung fordert die GEKE, trotzdem an der Seite der Menschen zu bleiben, "den Patienten zu begleiten, zu ermutigen und zu unterstützen, auch wenn es die feste Entscheidung des Patienten ist, die unterstützte Selbsttötung zu Ende zu führen."
Individuelle Überzeugungen
Die zuvor erwähnten individualethischen Argumentationen werden von der GEKE dabei durchaus ernstgenommen. Sie werden aber mit dem seelsorglichen Handeln der Kirche beantwortet, das die Einzelentscheidungen respektiert und begleitet. Dagegen wird die offizielle Position zum Umgang mit den Konflikten am Lebensende stark an den sozialethischen Argumenten ausgerichtet. Die GEKE beschließt ihr Dokument mit dem deutlichen Aufruf, dass die Kirchen sich zivilgesellschaftlich engagieren sollen: "Sie sind aufgerufen, Protest zu äußern, wenn rechtliche Barrieren, die das Leben schützen, niedergerissen werden. Sie sind aufgerufen, sich öffentlich für ausreichende ökonomische Ressourcen in Krankenhäusern und Hospizen einzusetzen, um jenen, die mit dem Tod ringen, die bestmögliche Pflege zu ermöglichen." Und darum haben die Kirchen, so endet die GEKE, "die Aufgabe, für die Schaffung einer Lebenswelt in der Gesellschaft einzutreten, die ein erfülltes Leben für jedes Mitglied der Gesellschaft fördert, einschließlich derer, die dem Tode nahe sind." Die individuellen Überzeugungen und Entscheidungen - der Sterbenden, der Ärzte, der Angehörigen - werden damit nicht missachtet. Die evangelischen Kirchen verstehen in den öffentlichen Verlautbarungen ihren Auftrag allerdings eher inklusiv, sprich als Anwälte der Menschen, die durch eine Liberalisierung der Sterbehilferegelungen benachteiligt und damit unfreier werden könnten.
Stefanie Schardien
Stefanie Schardien
Dr. Stefanie Schardien ist Pfarrerin in Fürth seit Mai 2019 eine der Sprecherinnen des "Wort zum Sonntag".