Meisterhaft

Biblische Stoffe neu erzählt
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Ein Buch für Erwachsene, die den ungewohnten Blick auf scheinbar bekannte Landschaften nicht scheuen.

Dieses Buch ist schon seit einem Jahr auf dem Markt, aber nichts, wirklich gar nichts hindert daran, es auch in diesem Herbst zu kaufen, lesen, zu verschenken. Denn der Stoff ist sowieso schon sehr viel älter und gleichzeitig von zeitloser Aktualität, schließlich geht es um die Bibel. Sie neu zu erzählen, hatte sich der französische Autor Philippe Lechermeier vorgenommen und hat das in beeindruckender Weise umgesetzt. Denn auf das Erzählen kommt es hier an. In ungewohnten Formen, aber im inhaltlichen Kern stets nah am Original streift er durch die Geschichten des Alten Testaments, erzählt in einem ruhigen und poetischen Ton die beiden Schöpfungsberichte, berichtet vom Sündenfall und vom Brudermord bei Kain und Abel. Andere Geschichten kleidet er in andere Formen, macht aus der Josef-Geschichte ein Drama, aus dem Turmbau zu Babel einen Dialog auf der Straße und beschreibt den Exodus aus der Perspektive einer Mücke. Hin und wieder wirkt das Suchen nach überraschenden Formen etwas bemüht, doch niemals respektlos gegenüber dem biblischen Stoff. Alle Geschichten bleiben erkennbar, sie werden lediglich literarisch und satztechnisch bearbeitet und reizen zur Lektüre.

Diese lohnt vor allem dann, wenn Lechermeier nicht versucht, durch die Form Effekte zu erzielen, sondern einfach erzählt, sich in die Figuren einfühlt, ihnen Dialogpartner schenkt, sie reflektieren und leben lässt. Sehr überzeugend gelingt ihm dies im Neuen Testament, das aus einem durchgehenden Text besteht, der die Geschichte von Jesus erzählt. Man kennt das ja alles, will aber doch nicht aufhören zu lesen, weil es so gut geschrieben ist. Völlig klar, hier wird keine Exegese betrieben, nichts entmythologisiert, historisch-kritische Forschung interessiert nicht. Die weisen Sterndeuter heißen Caspar, Melchior und Balthasar, Maria wird ohne Sex schwanger, und die Wunder passieren. Nur der Engel wird zum Vogelmenschen. Die Bibel wird als literarischer Stoff genommen und neu gewebt, mit eigenen Fäden durchzogen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit. Die Bibel sei nicht der Religion vorbehalten, sagt Lechermeier im Vorwort, sie sei Gemeingut. Ihre Mythen, Legenden und Geschichten sieht er als Fundament unserer Gesellschaft, und es geht ihm wohl darum, dieses Fundament wieder allen zugänglich zu machen.

Dass dies in dieser Bibel so gut gelingt ist aber entscheidend den Illustrationen von Rébecca Dautremer zuzuschreiben. Aber was heißt Illustrationen? Es sind atemberaubende Kunstwerke, die hier üppig über die rund 380 Seiten verteilt werden. Mal in doppelseitiger farbiger Opulenz, mal in feingliedrigen schwarz-weißen Graphiken, im Stil variantenreich und doch miteinander korrespondierend - das ist meisterhaft. Die Bilder rufen alle möglichen Emotionen hervor, sie verstören, belustigen, überwältigen, sensibilisieren, entwickeln einen Sog ins Surreale. Dautremers bisher erfolgreichstes Bilderbuch war "Prinzessinen", ebenfalls mit Texten von Philippe Lechermeier. Es wurde weltweit über 550.000 mal verkauft und ist eines von diesen Kinderbüchern, das gerade auch - oder vor allem - Erwachsene fasziniert.

Und so ist es auch mit der Bibel dieses Künstlerteams. Kinder sind ebenso in ihrem Bann wie Erwachsene. Wer das Buch nur schnell durchblättern will, hat keine Chance dazu. Er bleibt hängen an diesen Bildern und beginnt irgendwann neugierig die alten Geschichten zu lesen. Manche von ihnen eignen sich tatsächlich auch für Kinder oder Jugendliche. Aber dieses Buch ist vor allem ein Buch für Erwachsene, die den ungewohnten Blick auf scheinbar bekannte Landschaften nicht scheuen und sich daran freuen, neu zu entdecken.

Philippe Lechermeier/Rébecca Dautremer: Die Bibel. Coppenrath Verlag, Münster 2014, 384 Seiten, Euro 44,-.

Stephan Kosch

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