Fundamente berührt

Warum eine evolutionär ausgerichtete Theologie nötig ist
Jona und der Wal - französische Bibelinitiale aus dem 12. Jahrhundert. Foto: epd
Jona und der Wal - französische Bibelinitiale aus dem 12. Jahrhundert. Foto: epd
Was bleibt nach der Debatte über die Thesen des Berliner Theologen Notger Slenczka, nach denen das Alte Testament nur zu den Apokryphen, aber nicht mehr vollgültig zum christlichen Bibelkanon zu zählen sei? Der Theologe und Journalist Wolf-Rüdiger Schmidt meint, die Diskussion könnt dazu beitragen, die Art unseres theologischen Verstehens zu hinterfragen.

Die Aufregung um den Aufsatz des Notger Slenczka und seine dort vorgetragene These zur kanonischen Minderwertigkeit des Alten Testaments hat ihm ungewöhnliche Aufmerksamkeit beschert, auch in zeitzeichen. Wer sollte da nicht neidisch werden? Der erregte Aufschrei war und ist jedoch insofern nicht begründet, als bei eingehender Lektüre des 45-seitigen, oft sehr innertheologisch argumentierenden Beitrages im Marburger Theologischen Jahrbuch (2013) der Vorwurf des "Rückfalls in den unsäglichen Antijudaismus der protestantischen Theologie" am Thema vorbeigeht. "Belanglos" hingegen - von theologischen Antipoden Slenczkas im Verlauf der Debatte geäußert - ist die von dem Berliner angesprochene Frage wiederum auch nicht.

Professor Slenczka, dies sei zugestanden, formuliert seine ursprüngliche, später ein wenig abgeschwächte Anfrage tatsächlich an einer durchaus nicht unbelasteten Grenze, selbst wenn er heute vielfach Akzeptiertes zum historischen Verständnis des Alten Testamentes aufnimmt. So bezieht er sich auf die stringente "Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit" von Rainer Albertz oder auf Rolf Rendtorff, den Protagonisten einer veränderten christlich-jüdischen Wahrnehmung des alttestamentlichen Textkorpus, die beide neben manchen anderen nach 1945 jede christologisch-theologische Vereinnahmung der hebräischen Tradition zurückweisen.

Slenczka geht freilich einen Schritt weiter, wenn er behauptet, die Kirche werde in den Texten des Alten Testamentes überhaupt nicht angesprochen. Diese seien vielmehr die "Identitätsgrundlage" einer gerade nichtchristlichen Religionsgemeinschaft, eben des Judentums, von dem sich die Kirche über den Juden Paulus hinaus zunehmend in der Geschichte unterschieden hat. Und wirklich missverständlich wird es in dem umstrittenen Jahrbuchbeitrag, wenn Slenczka von Texten "minderen Rangs" spricht - gemeint ist: aus der Sicht eines "christlich-religiösen Bewusstseins". Ob das bereits judenfeindlich ist oder nicht, ist weiterhin des Streites in der Tat wert. Andeutungen einer Abwertung einer anderen Religion, mögen sie so kompliziert innertheologisch formuliert sein wie diese, könnten auf ein Defizit im grundlegenderen Zugang hinweisen, nämlich auf die Frage, wie heute überhaupt ein Dialog der Religion mit ihren jeweiligen Traditionen und mit anderen Religionen zu führen sei. Aber das ist nicht das Thema des Beitrages von Slenczka zur kanonischen Bedeutung des Alten Testamentes.

Frühe Entscheidung

Bei genauerer Hinsicht befasst sich Slenczka mit der altbekannten und durchaus auch heute noch berechtigten Grundfrage, wem die hebräische Bibel - von den Christen früh als "Altes Testament" angeeignet - gehört; das heißt, wem die Interpretationshoheit über die hebräischen Texte der Bibel zugefallen ist. So kann es bekanntlich Martin Luther in seinem abgründigen Hass auf die Juden nicht fassen, dass die Juden ("Lügner") das Alte Testament nicht konsequent vom Neuen her lesen wollen. Eine nicht auf Christus hin von der rabbinischen Auslegungstradition verfolgte Deutung des Alten Testamentes mache "Gott zum Lügner": "Leuget Gott oder leuget der Jude". Zu Luthers Judenhass werden die Protestanten im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 noch einiges zu hören bekommen.

Früh hatte die Kirche im Prozess der Kanonisierung während des zweiten Jahrhunderts bereits entschieden, dass die alten hebräischen Schriften unzweifelhaft ebenso zu ihrer Verheißungs- und Erfüllungsgeschichte gehören wie die Evangelien, die Paulusbriefe und andere Texte. Der Vater Jesu Christi sollte der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs bleiben; der alte Bund sollte durch den neuen Bund in Christus nicht gekündigt werden, wie es von Paulus sehr klar und früh bereits festgehalten wurde. Immer wieder wurden verschiedene Anläufe zur Abwertung des Alten von der Kirche zurückgewiesen, so besonders der erste große Versuch von Marcion (85-165 nach Christus) , der die hebräischen Texte als Dokumente eines bösen, vergeltenden Gottes aus dem werdenden Kanon ausschließen wollte, bis hin zu dem im 19. Jahrhundert äußerst einflussreichen Philosophen Friedrich Wilhelm Hegel, der von oben auf die jüdische Religion blickend nur deren "knechtische Observanz" oder eine "Kultur der Furcht, Herrschaft, Sklaverei ..." feststellen kann, zu Friedrich Schleiermachers im Judentum gesehenen "Geist der Vergeltung", bis zu Adolf von Harnacks oft dokumentiertem Urteil über das Alte Testament als "inferiores, überwundenes Element". Und stets war diese Sicht auf das Alte Testament als eines Dokumentes eines rächenden, strafenden, vergeltenden "Gottes des Gemetzels" und als Ursprung einer abgestorbenen, "todten Religion" verbunden mit der ganz alltäglichen abendländischen Abwertung des gelebten Judentums in der christlichen Nachbarschaft nebenan. Diese Selbstüberhebungstradition wurde schließlich noch einmal überboten in der unsäglichen, heute letztlich unvorstellbaren und von protestantischen Professoren "wissenschaftlich" gestützten Nazitheologie eines Eisenacher Institutes zur "Entjudung der Kirche" mit der Forderung der endgültigen Abschaffung des Alten Testamentes.

Natürlich kennt Notger Slenczka diese Abwertungstradition, zumal sein eigener Großvater als Pfarrer seine mutigen Predigten gegen die Nazis mit dem Leben bezahlt hat. Aber Slenczka fragt dennoch, ob die traditionelle kanonische Verbindung von Altem und Neuem Testament, ob auch der Gebrauch alttestamentlicher Texte im christlichen Gottesdienst noch dem Stand unseres historischen Wissens über einen Traditionskorpus entspricht, in dem primär nicht die Kirche, sondern eine andere Religionsgemeinschaft ihre Identitätsgrundlage sieht. Und er fragt weiter, ob der Zeitgenosse, ja die Kirche selbst in ihrem selektiven Umgang mit alttestamentlichen Predigttexten nicht mit den alten Texten "fremdelt". Dabei bezieht er sich auf Schleiermachers "religiöses, frommes Bewusstsein" und auf Harnacks "Universalität des Religiösen" und dessen an keine Bedingungen gebundenes religiöses Verhältnis, das allein der "Verkündigung Jesu und deren Wirkungsgeschichte entspringt". Spätestens hier wird dem Leser seines Beitrages klar, dass im Bezug Slenczkas zum Religionsverständnis Schleiermachers der Ursprung bestimmter grenzwertiger Aussagen zum Judentum zu suchen ist.

Religionsgeschichtliche Aspekte einer engen Verbindung von Altem und Neuen Testament werden in dieser liberalen Traditionslinie als bloß historisierend verstanden, die nichts zur gegenwärtigen Frömmigkeit, zum aktuellen religiösen, "frommen Bewusstsein" - an dem Slenczka so viel liegt - beitragen. Allein das verkündigende, aktuelle Wort der Kirche wecke den Glauben und mit Rudolf Bultmann, dem großen Vertreter eines "Entmythologisierungsprogramms" aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, meint der Berliner Theologe dann auch festhalten zu können: "Israels Geschichte ist nicht unsere Geschichte." Was aus christlicher Sicht "Gesetz" ist, sei für "Israel" - gemeint ist immer das Israel vor Jesus - "die Gnade der Zuwendung Gottes", allerdings unter der Bedingung der nationalen Zugehörigkeit zu einem Volk. Der Gesichtspunkt einer jüdischen "Gesetzes"-religion kann in der Tat schnell zu traditionellen Vorurteilen führen. Die einfachste Version lautet: Das Alte Testament predigt das Gesetz Gottes, das Neue die vergebende Liebe, das Evangelium, das die Gesetzesfrömmigkeit endgültig beendet. Gestützt wird diese verführerisch schlichte, wenn auch weit im allgemein christlichen Bewusstsein bei Predigern und Predigthörern verankerte Sicht tatsächlich durch Aussagen, dass die christliche Botschaft das Gnadenwort Gottes an Israel übertreffe. Wird das nicht überdeutlich in der Bergpredigt, lässt sich leicht fragen?

Stellt man hier zunächst einmal die kaum strittige historische Tatsache zurück, dass die Verkündigung der Nächstenliebe als der Erfüllung des Gesetzes bereits zutiefst in der pharisäischen Reformbewegung vor Jesus etwa bei dem großen Schriftgelehrten Hillel - vorgedacht und -gelebt wird, dass zudem das Judentum vor Jesus bereits seinen Ursprung als "Stammesreligion" mit dem Bewusstsein seiner Universalität - einem Bezug zur "Völkerwelt" - überstiegen hat, so wird bei Slenczka bereits im Ansatz eine bedenkliche Weichenstellung, vielleicht sogar ein Defizit deutlich, das ihn mit der Bultmann-Schule verbindet.

Slenczka und Co. suchen einen übergeschichtlichen Zugang zum "Wort Gottes", einen Zugang, der zwar an religionsgeschichtlichen Kontexten interessiert ist, diese jedoch für den Glauben als letztlich irrelevant ansieht. Es ist eben alles "vergangene Geschichte", kann der Berliner Systematiker mit Bultmann sagen. Glaube sei ein heutiges Ereignis und habe nichts mit einem vergangenen, historischen Ereignis zu tun.

Für viele Theologiestudenten und Pfarrer war diese Wendung der historisch-kritischen Theologie in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts geradezu eine Befreiung: Endlich wieder verkündigen, glauben können ohne historische Erschütterungen, theologisch argumentieren jenseits unangenehmer geschichtlicher Richtigkeiten bis hin zu der Frage, ob Jesus überhaupt gelebt habe.

Mit Schleiermacher, Harnack und gar Bultmann im Rücken bewegt sich Slenczka auf zunächst gut abgesicherten Bahnen, trotz seiner offensichtlichen Unbekümmertheit, potenzielle Unfallstellen zu übersehen. Neben manchen anderen drängt sich jedoch besonders eine grundsätzliche Frage auf: Könnte eigentlich eine Universitätstheologie heute nicht auch einmal eine, vielleicht ebenso als "liberal" zu benennende Herangehensweise wagen oder gar entwickeln, in der mit und in einer unverzichtbaren Unmittelbarkeit des religiösen Erlebens, wie immer auch inhaltlich gefüllt, Glaube zumindest in seiner reflektierten Gestalt auch in einem Verhältnis zur Religionsgeschichte, zur Menschheitsgeschichte, letztlich zum evolutionären Paradigma, zu verstehen ist? Könnte sich ein seiner selbst bewusster, argumentations- und dialogfähiger Glaube nicht auch aus einem nicht nur präsenten Kontext verstehen, um sich jenseits des gegenwärtigen, aktuellen Gefühls eines Angesprochen- und Betroffenseins in einem Größeren, sei es künstlerisch, philosophisch, religiös, zu verorten?

Wenn Religion als breites Spektrum des Menschseins, als Beschwören, Vergewissern, Feiern, als Antwort auf Fragen nach Sinn und einem tragenden Grund, eine spezifische, heute weitgehend in der Evolutionsbiologie anerkannte Disposition von homo sapiens ist, dann sind auch religiöse Manifestationen, Texte, Riten, Gottesbilder und so weiter, Produkte eines großen evolutionären Werdens, Hervorbringungen der kulturellen Evolution. Judentum und Christentum davon auszunehmen, wäre vermessen. Es reicht nicht, einfach zu der alten theologischen Sprache zurückzukehren. Die theologischen Fundamente sind berührt.

Offensichtlich dunkle Seiten

Die historisch-kritische Forschung, eines der großen Emanzipationsprojekte der Aufklärung, ist unter dem Aspekt einer evolutionär ausgerichteten Theologie nichts Defizientes, bloß Historisierendes, sondern im Zeitalter des wissenschaftlichen Denkens und Fühlens überhaupt die Bedingung der Möglichkeit, Religion im Denken und Leben des Menschen, der Menschheit positiv zu verorten, sie ein Stück weit auch in ihren offensichtlichen dunklen Seiten zu akzeptieren. Dass diese Perspektive eine ganz andere ist als die an Schleiermachers religiösem Bewusstsein angelehnte von Notger Slenczka, ist unübersehbar. Ein Zugang über das elementare, auch glaubensrelevante kulturelle, sogar evolutionäre Werden der Religion hat keine Probleme mit dem "Fremdeln", weil dies prinzipiell gegenüber historischen Zeugnissen anzutreffen ist, auch mit vielem, was vom Neuen Testament her auf uns zukommt: Adam-Christus-Typologie? "Einer für alle" dahingegeben? Sühnopfer? Ein Logos, "der Fleisch ward"? Nicht zuletzt "Wahrer Gott und wahrer Mensch": Auch die dem Neuen Testament folgende Sprache und Gedankenwelt ist bei genauerer Betrachtung ziemlich fremd, fremder oft als manche vitalen Geschichten und Weisheiten aus dem Alten Testament. Geschichtlich, anthropologisch, soziokulturell erklärungsbedürftig ist Religion in jedem Fall, mag uns die Unmittelbarkeit unter dem Wort Gottes "je und dann" überwältigen oder doch eher nicht.

Dies ist gegenüber Slenczka und anderen als Plädoyer für einen erweiterten Rahmen, für einen der Theologie und dem Bekenntnis vorgelagerten Zugangsbereich zu verstehen, den man fundamentaltheologisch nennen könnte oder auch anthropologisch-evolutionär. Er ist im Kern dialogfähig, fern von jeglicher Abwertung des Anderen, seien es moderne naturwissenschaftliche Weltdeutungen, von denen es viel theologisch zu lernen gibt, sei es von anderen nichtchristlichen Religionen, die in der Relativierung des Eigenen vieles völlig neu sehen lernen, so besonders auch das Judentum und die hebräische Bibel. Über eine 2?000-jährige Zugehörigkeit zu ihrem Kanon könnte die Kirche auch heute noch richtig dankbar sein: Dieses heilige Buch als wunderbare Quelle immerhin dreier Religionen.

Notger Slenczka könnte mit seiner so heftig kritisierten These - ich vermute eher unbeabsichtigt - dazu angestoßen haben, über eine allzu enge, innertheologische Hermeneutik hinaus nachzudenken. Ein Judenfeind will er mit diesem Impuls trotz gefährlicher Grenzberührung nicht sein. Auch Harnack wollte mit seinen für uns heute unerträglichen Thesen zu einem "inferioren" Alten Testament kein Antisemit sein, obwohl er es nicht in der Hand hatte, dass seine Sicht unsäglichem Missbrauch Vorschub leistete.

Wolf-Rüdiger Schmidt

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