Dankbar aus gutem Grund

Über die Verkettung glücklicher Umstände
Warum soll nur die Not Beten lehren? Warum nicht auch das Glück?

Warum ist es nur so schwer, dankbar zu sein? Woher kommt diese Tendenz, vor allem das wahrzunehmen, was nicht gut läuft und für selbstverständlich zu halten, was gut läuft? Wir hadern mit dem Schicksal, wenn uns etwas Schlechtes widerfährt. Und wenn es etwas wirklich Schlimmes ist, ist das nur allzu gut nachvollziehbar. Aber warum machen wir uns so selten klar, wie vieles gut läuft? Was uns alles Schlechtes oder sogar Schlimmes erspart geblieben ist? Wir stehen im Stau und ärgern uns, sind genervt. Aber vielleicht war es eben jener Stau, der dafür gesorgt hat, dass wir ohne Schaden nach Hause gekommen sind. Wenn etwas passiert, reden wir von einer "Verkettung von unglücklichen Umständen". Warum reden wir so wenig von der "Verkettung von glücklichen Umständen", die uns vor Schaden bewahrt haben könnte?

Solche Überlegungen können unbarmherzig sein, wenn Menschen von Schaden oder Leid betroffen sind. Denn Klagen hat seine Zeit. Aber etwas anderes hat auch seine Zeit: Das Danken. In den letzten Wochen gab es immer wieder Gelegenheit dazu. Am Erntedankfest hat das Danken seinen festen Ort im Jahr. Die Bäuerinnen und Bauern, die dieses Fest in besonderer Weise lebendig gehalten haben, wissen aus ihrer täglichen Erfahrung, wie wenig selbstverständlich eine gute Ernte ist. Und wie sehr sie von Faktoren abhängig ist, die nicht in unserer Hand liegen. Ob es genug regnet und genug Sonne gibt, so dass die Früchte der Erde wachsen können, hängt vom Wetter ab. Und das liegt auch in Zeiten menschengemachter Klimaerwärmung nicht in der Kontrolle der Menschen.

Es hat seinen tiefen Sinn, dass das Erntedankfest immer auch ein Fest des Teilens ist und war. In der Gemeinde, in der ich Pfarrer war, haben wir die mitgebrachten und vor dem Altar versammelten Gaben zu einem großen Essen verarbeitet, zu dem Wohlhabende und Arme zusammengekommen sind. Und beim diesjährigen Erntedankfest haben Gießener Gemeinden dazu aufgerufen, "Erntedanktafeln der Gastfreundschaft" vor Flüchtlingsunterkünften aufzustellen.

All das sind Beispiele dafür, wie die Dankbarkeit Konsequenzen hat. Wer dankbar ist, weiß, dass er Grund dafür hat. Weiß, dass das eigene Glück weder selbstverständlich, noch verdient worden ist. Wer sich immer wieder daran erinnern lässt, dass das eigene Leben sich einer "Verkettung glücklicher Umstände" verdankt, gibt etwas von dem Segen weiter, der auf ihm liegt.

"Segen" - dieses Wort stellt die Wahrnehmung des eigenen Glücks in einen Horizont, der über die "Hinweise zum positiven Denken" oder die "Zehn Ratschläge zu einem glücklichen Leben", die die Glücksratgeberliteratur bietet, hinausgeht. Sein Leben in den Horizont der Gottesbeziehung zu stellen, heißt, Glück und Leid in Gottes Hand zu legen. Am Ende heißt es: bewusst leben und aus der Dankbarkeit für den selbst erfahrenen Segen zum Segen für andere zu werden. Und es könnte zu einer Neuentdeckung des Betens führen. Warum soll nur die Not Beten lehren? Warum nicht auch das Glück? Wenn wir heute danach fragen, wie wir es als Volk schaffen können, eine große Zahl von Flüchtlingen hier aufzunehmen und zu integrieren, dann ist eine Ressource wahrscheinlich der Schlüssel: die Dankbarkeit.

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm ist Vorsitzender des Rates der EKD und Herausgeber von zeitzeichen.

Heinrich Bedford-Strohm

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