Mehr Geld, mehr Leistung

Die Pflegereform der großen Koalition bringt zahlreiche kleine Verbesserungen
Pflegekräfte hoffen auf mehr Zeit für Patienten ... Foto: dpa
Pflegekräfte hoffen auf mehr Zeit für Patienten ... Foto: dpa
Wie wird die Pflege in einer alternden Gesellschaft künftig noch zu leisten und zu finanzieren sein? Zwar bringt die neue Pflegereform kleine Verbesserungen, doch eine Antwort auf diese Frage kann auch sie nicht geben. Die Berliner Journalistin Bettina Markmeyer gibt einen Überblick.

Wie wäre es, wenn Politiker anfingen auszusprechen, was sie wirklich denken? Der Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, Giovanni di Lorenzo, stellte diese Frage einem anonym bleibenden Regierungsmitglied: Jeder wisse doch zum Beispiel, dass die Aufwendungen für Rente und Pflege eines Tages nicht mehr so wie heute getragen werden könnten. Müsse die Politik das nicht zum Thema machen?

"Ja", antwortete der Politiker. "Man müsste den jungen Berufstätigen sagen: 'Fangt rechtzeitig an, euren Ruhestand zu organisieren!' Und den Älteren: 'Bildet Wohngemeinschaften, in denen Menschen einander helfen können.' Der Staat kann in zwanzig Jahren den Unterhalt der Alten nicht mehr in dem versprochenen Umfang stemmen", sagte er und fragte seinerseits: "Was meinen Sie, was hier los wäre, wenn ein Politiker das offen sagen würde?"

Gemessen an diesem kleinen Lehrstück über Ehrlichkeit in der Politik ist die Pflegereform der großen Koalition wahrlich keine Offenbarung. Doch gemessen an vergangenen Novellierungen der Pflegeversicherung wird in den nächsten zwei Jahren wohl mehr passieren als in den zwanzig Jahren zuvor. Die Leistungen wurden zum Januar 2015 um vier Prozent erhöht, in der Pflegestufe iii (stationär) beispielsweise von 1.550 auf 1.612 Euro. Als Nächstes sollen statt der bisherigen drei Pflegestufen fünf Pflegegrade eingeführt werden, die sich nicht nur nach dem körperlichen, sondern auch nach dem psychischen und geistigen Zustand eines Pflegebedürftigen richten. Das ist endlich die Antwort auf die Zunahme der Demenzerkrankungen.

Der erste Schritt wurde zu Beginn dieses Jahres getan, der zweite solle 2017 folgen, hat Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (cdu) versprochen. Das Budget der Pflegeversicherung soll um rund sechs Milliarden Euro steigen und 2017 knapp ein Viertel höher liegen als heute. Rund fünf Milliarden Euro fließen in bessere Leistungen. 1,2 Milliarden Euro werden bis 2035 jedes Jahr in einem Fonds bei der Bundesbank angelegt, der danach bis 2055 Jahr für Jahr wieder abgebaut werden soll, um die Pflege der geburtenstarken Jahrgänge mitzufinanzieren.

Man muss indes wissen, dass die bisherige Erhöhung der Leistungen den kontinuierlichen Wertverlust der Pflegeversicherung nicht ausgleicht. Nach ihrem Start 1995 gab es lange Jahre nicht einmal einen Inflationsausgleich. Erst seit 2008 wurden unter der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (spd) und unter dem fdp-Minister Daniel Bahr jeweils Extrabeträge für Demenzkranke eingeführt und die Leistungssätze leicht erhöht.

Dass das nicht ausreichte, zeigt der um vier Prozent jährlich wachsende Anteil der Menschen, die für ihre Pflege Sozialhilfe beantragen müssen. In den beiden vergangenen Jahren benötigten rund 450.000 von insgesamt gut 2,6 Millionen Pflegebedürftigen die staatliche Unterstützung. Aus dem jährlichen Pflegereport der Krankenkasse Barmer gek geht hervor, dass die Versicherung die Kosten für einen Heimplatz nicht einmal mehr zur Hälfte deckt.

Stärker bemerkbar machen als die geringfügige Anhebung der Leistungen dürfte sich in den Pflegeheimen, dass ab sofort 20.000 zusätzliche Betreuungskräfte finanziert werden können. Bisher werden bundesweit 25.000 von ihnen bezahlt. Diese Frauen und Männer, die keine Pflegeausbildung haben, sondern die AltenpflegerInnen entlasten, kümmern sich künftig nicht nur um die Demenzpatienten, sondern um alle Heimbewohner.

In die häusliche Pflege sollen nach dem Willen von Union und spd zunächst 1,4 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich fließen, 400 Millionen Euro mehr als in die stationäre Pflege. Dafür gibt es gute Gründe: Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden von Angehörigen und Pflegediensten versorgt. Es gibt keine kostengünstigere Pflege als diese, und die meisten alten Menschen wollen zu Hause bleiben.

Mehr Geld für Wohnungsumbau

Das Pflegestärkungsgesetz, das am 1. Januar in Kraft getreten ist, bringt zahlreiche kleine Verbesserungen, die sich erst nach und nach im Alltag der Familien bemerkbar machen werden. Jeder, der zu Hause gepflegt wird, hat Anspruch auf 104 Euro pro Monat für Betreuungsleistungen. Das ist neu. Bisher gab es diese Summe nur für Demenzkranke, sie erhalten bei fortgeschrittener Erkrankung auch weiterhin doppelt so viel. Das Geld wird nicht ausgezahlt, sondern verwendet, um beispielsweise eine Begleitung zum Arzt zu bestellen, jemanden, der vorliest oder da ist, damit pflegende Angehörige aus dem Haus gehen können. Solche Leistungen werden von Pflegediensten und Ehrenamtlichen angeboten.

Es gibt zudem mehr Geld für den Umbau der Wohnung und für Pflege-Wohngemeinschaften. Angehörige, die selbst krank werden oder Urlaub machen wollen, können bis zu sechs statt jährlich vier Wochen lang eine Vertretung in Anspruch nehmen. Sie können die Pflegebedürftigen auch acht statt bisher vier Wochen pro Jahr in eine Kurzzeitpflege geben - oder beides kombinieren. Diese Leistungen gibt es jetzt auch für Demenzkranke mit der so genannten "Pflegestufe 0". Das sind jene, die ein Anrecht auf Betreuungsleistungen, aber noch keine Pflegestufe haben.

Weiter ist es jetzt möglich, bis zu 40 Prozent der für den ambulanten Pflegedienst bestimmten Summe für Alltagsbegleiter einzusetzen. Deren Arbeit wird geringer entlohnt als die einer Pflegefachkraft, so dass die Familien für dasselbe Geld mehr Betreuungszeit "einkaufen" können. Der Arbeitgeberverband der privaten Pflegeanbieter warnte schon vor unliebsamer Konkurrenz durch "Billigkräfte". Tatsächlich liegt darin eine Gefahr - andererseits jedoch ist die Alternative häufig nur private Pflegekräfte aus Osteuropa. Die Betreuung, nicht die eigentliche Pflege, ist für die meisten Familien am schwierigsten zu organisieren.

Auch der Umgang mit einem plötzlichen Pflegefall in der Familie dürfte etwas einfacher werden. Wer sich am Anfang um alles kümmert, kann zehn Tage im Job aussetzen. Die Tage können auch einzeln genommen werden. Bisher gab es dafür keine Lohnfortzahlung, jetzt gibt es dafür bis zu 90 Prozent des Nettolohns. Außerdem ist mit der "Familienpflegezeit" der halbjährliche Ausstieg aus dem Job oder das Recht auf eine Teilzeitarbeit von bis zu zwei Jahren erleichtert worden. Allerdings haben auf Druck der Wirtschaft nur Beschäftigte in Betrieben mit mehr als 25 Mitarbeitern darauf einen Rechtsanspruch. Das ist ein klarer Minuspunkt: Nach Berechnungen der Linksfraktion schließt diese Untergrenze sieben Millionen Beschäftigte aus. Neu ist weiter, dass das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Köln zinslose staatliche Darlehen vermittelt.

Beitrag erhöht

Zur Finanzierung der Verbesserungen ist der Pflegebeitrag zum Januar um 0,3 Prozentpunkte erhöht worden und soll 2017 um weitere 0,2 Punkte steigen. Er beträgt dann 2,55 Prozent des Bruttolohns. Kinderlose zahlen 0,25 Prozent mehr. Proteste gegen die Beitragserhöhung gibt es bisher nicht: Laut einer Infratest-Umfrage aus dem Dezember 2014 halten 70 Prozent der Bürger den höheren Pflegebeitrag für angemessen, weitere 14 Prozent für immer noch zu niedrig: Das Volk zeigt Realitätssinn.

Bis zur Sommerpause will Gesundheitsminister Gröhe den Gesetzentwurf für die zweite Stufe der Pflegereform vorlegen. Letzte Tests für das neue Einstufungsverfahren das nun schon seit einem Jahrzehnt im Gespräch ist, sind abgeschlossen. Bisher richtet sich die Einstufung eines Pflegebedürftigen danach, wie viele Minuten pro Tag er Hilfe bei körperlichen Verrichtungen braucht - daher der Negativbegriff von der "Minutenpflege". Davon wollen alle weg, selbst der Medizinische Dienst, dessen Gutachter die Einstufung vornehmen. Das alte System sei überholt, urteilte kürzlich der Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen, Peter Pick. Die künftige Einteilung in fünf Pflegegrade werde dem Einzelnen gerechter werden und außerdem dazu führen, die Leistungen gerechter zu verteilen.

Bisher wird die Pflegestufe danach errechnet, wie viel Hilfe ein Mensch beim Essen, der Körperpflege, bei der Mobilität und im Haushalt braucht. Künftig wird erhoben, wie selbstständig er noch in seinen geistigen und kommunikativen Fähigkeiten ist, bei sozialen Kontakten und wie bisher auch bei der Mobilität, beim Essen, Trinken, Anziehen und der Körperpflege. Darüber hinaus wird begutachtet, wie weit pflegebedürftige Menschen mit den Einschränkungen selbst zurechtkommen, und ob auffälliges Verhalten, zum Beispiel Aggressivität, Ängste oder Wahnvorstellungen, die Betreuung erschwert.

Für Demenzpatienten, aber auch für pflegebedürftige behinderte Menschen, wird die neue Einstufungsweise Verbesserungen bringen. Hoffnungen auf deutlich mehr Geld sollten sie sich aber nicht machen. Denn die Umstellung der Pflegeversicherung ist mit einem Bestandsschutz für alle verbunden, die heute schon Leistungen bekommen.

Zwei hochkarätig besetzte Pflegebeiräte zweier Vorgängerregierungen waren nicht in der Lage, der Bevölkerung zu sagen, wer nach dem Umbau der Pflegeversicherung künftig in welcher Pflegestufe wie viel Geld beziehungsweise Sachleistungen bekommen wird. Und auch Gesundheitsminister Gröhe zögert den Tag noch hinaus, an dem er die Zahlen auf den Tisch legen muss.

Der renommierte Bremer Pflegeökonom Heinz Rothgang geht davon aus, dass die zusätzlichen zwei Milliarden Euro aus der Beitragserhöhung 2017 lediglich reichen werden, um das gegenwärtige Pflegeniveau zu halten. Künftig müssten die übrigen Pflegebedürftigen zugunsten der Demenzkranken schlechter gestellt werden, sagt Rothgang, sofern nicht mehr Geld in die Pflegeversicherung fließe. Es gehe lediglich um die Frage, wie viele von den neuen Pflegebedürftigen es treffen wird, die ihren Antrag nach 2017 stellen.

Genaugenommen gibt es heute bereits fünf Pflegegrade, rechnet man die "Pflegestufe 0" für Demenzkranke und die Härtefälle zu den drei Pflegestufen hinzu. Wenn also künftig mehr Anträge Demenzkranker genehmigt werden, aber nicht deutlich mehr Geld verteilt wird, so werden sich die Leistungen anders verteilen. In jedem Fall aber bleibt es dabei, dass lediglich ein Teil der tatsächlichen Ausgaben ersetzt wird. Die Pflegeversicherung ist eben nur ein Teil der Antwort auf die politisch bisher nicht wirklich beantwortete Frage: Wie wird die Pflege in einer alternden Gesellschaft künftig noch zu leisten und zu finanzieren sein?

Informationen

Informationen auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums:

Informationen auf der Seite des Pflegebeauftragten Karl-Josef Laumann

Kampagne des Sozialverbandes VdK:

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Bettina Markmeyer

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