Dunkle Seiten

Refomation und ihre Wirkung
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Wo Luther reformierend zu wirken suchte, aber die überkommene Theologie nicht überwunden hat.

Die anstehenden Feierlichkeiten des 500. Jahrestages der Reformation will der Historiker Wolfgang Wippermann nutzen, einen kritischen Blick auf die evangelische Kirche von heute zu werfen. In sechs Kapiteln stellt der Autor Fehlentwicklungen des deutschen Protestantismus dar: die Haltung der deutschen protestantischen Kirchen zum Staat, zu Krieg und Frieden, zum Geld, zu den Juden, den Roma und den Frauen. Von der Haltung Martin Luthers ausgehend skizziert Wippermann für jedes der sechs Kapitel die kirchengeschichtlichen Wurzeln der Themen seit der frühen Christenheit und beschreibt, wo Luther reformierend zu wirken suchte, aber die überkommene Theologie nicht überwunden hat.

Unter dem Einfluss Luthers seien Fürsten, Kaiser und Staat verherrlicht worden - bis in die NS-Zeit hinein. Erst die Bekennende Kirche habe die nazifizierte Reichskirche bekämpft, ohne aber Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime zu leisten. Erst die Kirche in der DDR habe dem kommunistischen Regime widerstanden und damit zu seinem Untergang beigetragen.

Unter Berufung auf Luther habe die Kirche alle deutschen Kriege einschließlich des Zweiten Weltkrieges verherrlicht. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein versuche die Kirche immer noch, Kriege zu rechtfertigen, weil sie sich nicht zu einer uneingeschränkten Einhaltung des biblischen Tötungsverbotes durchgerungen habe.

Bis fast in die unmittelbare Gegenwart habe die Kirche Partei genommen für die Reichen und gegen die Armen. Die deutsche evangelische Kirche sei bis in die NS-Zeit hinein (teilweise noch darüber hinaus) antisemitisch eingestellt gewesen. Sie habe den christlichen und von Luther nicht reformierten, sondern radikalisierten Antisemitismus nur partiell und damit unzureichend überwunden. Zur Verfolgung der Sinti und Roma habe die Kirche geschwiegen. Sie habe sich durch die Herausgabe der Kirchenbücher in der NS-Zeit auch daran beteiligt. Eine Entschuldigung für die Fehler der Vergangenheit stehe ebenso aus wie eine wirkliche Hilfe für die in vielen europäischen Ländern heute verfolgten Roma.

Die deutsche evangelische Kirche habe sich nicht nur an der Hexenverfolgung beteiligt, sie habe bis in die NS-Zeit hinein (und teilweise noch darüber hinaus) eine antifeministische Politik betrieben. Das sei heute zwar nicht mehr der Fall. Damit könnten die Fehler der Vergangenheit aber nicht entschuldigt werden.Wippermanns Kritik kann dazu beitragen, die dunklen Seiten Luthers und ihre historischen Wirkungen nicht zu verdrängen: seinen Antisemitismus und seine harsche Kritik an den Bauernaufständen zum Beispiel. Allerdings hat die kirchengeschichtliche Theologie die dargestellten Bereiche ausführlich bearbeitet. Auch den Einsatz für soziale Gerechtigkeit, das Engagement für Roma in den Kirchen sowie das heute formulierte Bekenntnis zum bleibenden Bund Gottes mit Israel hat Wippermann offenbar nicht wahrgenommen.

Bei der Darstellung des Verhältnisses von Kirche und Staat übersieht der Autor, dass Luther die weltliche Obrigkeit von der Freiheit des Gewissens begrenzt sieht. In der zitierten Schrift von 1523 "Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei" ist von kritiklosem Gehorsam nicht die Rede. Die von Wippermann unter Hinweis auf das Gebot: "Du sollst nicht töten" gewünschte radikale Ablehnung jeder Beteiligung am Krieg müsste anhand der Friedensdenkschriften der EKD ausführlicher diskutiert werden. Eine Reformation stehe noch bevor, schreibt der Autor. Dem ist ausdrücklich zuzustimmen.

Wolfgang Wippermann: Luthers Erbe. Primus-Verlag, Darmstadt 2014, 224 Seiten, Euro 24,95.

Manfred Kock

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