Wider das staatsförmige Kleid

Rückblende: In den Schulen der DDR wurde häufig und gern das Kampflied der Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg gesungen – aufrüttelnde Marschmusik. In der letzten Zeile der ersten Strophe heißt es: "Wir kämpfen und siegen für dich, Freiheit!" Fast alle Schüler kannten diese Zeile auswendig. 1987 spielte sich bei einer "Friedenswerkstatt" in der Ost-Berliner Erlöserkirche folgende Szene ab: Die Kirche brechend voll, gespannte Stille. Noch geschah nichts auf der Bühne vor dem Altar, die aus einem Podest und zwei Laken gezimmert war. Gespannte Stille auf das, was zwischen den Zeilen deutlich zu lesen sein würde. Plötzlich erklang leise die Melodie des Spanienkämpferliedes und stoppte – jäh vor dem letzen Wort. Jede und jeder hatte sofort verstanden. Die Freiheit fehlte! Die Kirche bebte unter dem johlenden Applaus und dem aufbrausenden Getrampel auf den alten Holzdielen.
Die da aus der Enge der DDR in die Weite der Kirche gekommen waren, hatten verstanden. Natürlich. Sensibilität für Freiheit entwickeln Menschen dann, wenn sie sie nicht haben. Freiheit und Kirche – das schien zu diesem Zeitpunkt ein evidenter Zusammenhang. Freiheit ist im Doppelpack mit dem Begriff der Verantwortung so etwas wie ein Koordinatensystem des protestantischen Selbstbildes. Wir sind eine "Kirche der Freiheit", verkündete der vor fast einem Jahrzehnt angestoßene Reformprozess der ekd, weil wir Verantwortung für Kirche und Gesellschaft der Zukunft wahrnehmen.
Freiheit und Verantwortung haben beste Chancen, zum Reformationsjubiläum 2017 Schlüsselvokabeln zu werden. Aber was ist heute darunter zu verstehen? Es ist an der Zeit, den Gegenwartswert beider Begriffe anhand einiger Beobachtungen kritisch zu prüfen.
Das christliche, zumal das reformatorische Freiheitsverständnis ist voraussetzungsvoll. Die verständlichste Variante ist immer noch Martin Luthers Erläuterung in seiner berühmten Freiheitsschrift: Ein Christ ist nicht nur ein freier Herr oder eine freie Frau über alle Dinge, sondern auch ein Knecht oder eine Magd von jedermann und jederfrau.
Dies ist die Freiheit, sich nicht abhängig zu machen von den Anpassungs- und Sachzwängen dieser Welt, sondern in der Bindung allein an Jesus Christus frohe Befreiung zu erfahren aus den gottlosen Bindungen dieser Welt, wie es 1934 in Barmen gesagt und wie es in den Jahren vor 1989 im unfreien Teil unseres Landes vielfach wiederholt werden konnte.
Volkstümliches Missverständnis
Allerdings – im Laufe der Jahre nach 1989 scheint sich im freiheitlich-demokratischen Inland die Freiheitssehnsucht aus der Berliner Erlöserkirche und andernorts in ihr Gegenteil verkehrt zu haben. Volker Braun, "Provokateur und Parteigänger, Außenseiter und Aushängeschild" (Christ in der Gegenwart 31/2014) unter den Schriftstellern der DDR, notierte zu Beginn des neuen Jahrtausends in sein Tagebuch: "Freiheit, so lautet das neue Verschleierungs- und Totschlagwort." Krieg im Namen der Freiheit; Freiheit, sich selbst das Leben zu nehmen; Freiheit zur Rücksichtslosigkeit, Freiheit, Steuern durch Hinterziehung zu sparen, Freiheit, der Gier freien Lauf zu lassen.
Was das Wort von der Freiheit angeht, sollten die Kirchen – wie einst Luther – dem Volk aufs Maul schauen. Der Begriff von der Freiheit eines Christenmenschen ist heute tief vergraben unter dem volkstümlichen Missverständnis, dass Freiheit immer die Freiheit von etwas ist.
Für Viele im Osten klingt der Freiheitsbegriff wie ein Hohn – Freiheit war das Versprechen von 1989, die Antithese zur unfreien Gesellschaft und Bevormundung. Das Pathos der Freiheit ist dem Volk in den Kerngebieten der lutherischen Reformation zur Bindungslosigkeit in aller Selbstmächtigkeit mutiert. Die Freiheitssehnsucht verdünnt sich in einem Meer scheinbar unendlicher, individueller Möglichkeiten, die aber aus sozialen, wirtschaftlichen oder anderen Gründen nicht realisiert werden können.
Genau dies löst Ängste aus und beschädigt die Freiheit. Ein Teil des Unverständnisses für die Pegidaproteste hat hier seine Wurzel. Wer heute von Freiheit, zumal von christlicher spricht, muss sich mit der Gefahr auseinandersetzen, dass Freiheit mit Bindungslosigkeit verwechselt wird. Aber der Umgang mit Freiheit ist nicht voraussetzungslos. Von Freiheit zu reden und das christliche Doppelverständnis von Freiheit und Bindung mit zu sagen, erfordert heute genau so viel Mut wie in Diktaturen.
"Mut zur Freiheit und Mut zur Verantwortung" – so könnte eine Kurzformel reformatorischen Weltverständnisses heute lauten. Kirchen nehmen mit gutem Grund und auf vielfältige Weise Verantwortung für das Gemeinwohl in mehr oder weniger Staatsnähe oder Staatsferne wahr. Die evangelische Kirche hat sich von der Staatskirche zur Volkskirche entwickelt, aber auch dieses Modell scheint gerade an sein Ende zu kommen. Kommt damit auch die Verantwortung für das Gemeinwohl als das wichtigste Merkmal der Volkskirche an sein Ende?
Kurt Nowak, viel zu früh verstorbener Kirchenhistoriker in Leipzig, hat diese Verknüpfung des kirchlichen Selbstverständnisses mit der Orientierung am Staat als "protestantischen Gouvernementalismus" bezeichnet.
Gegenüber dem Kurs der DDR stellte er die kritische Frage, ob nicht im Anspruch, als Kirche für das Ganze zu sorgen, eine "Bewusstseinsfalle der volkskirchlichen Tradition" aufgestellt sei. Denn in der Sorge um das Gemeinwohl sahen sich die Kirchen in der DDR an den sozialistischen Staat gewiesen. Wollten sie ihren Auftrag erfüllen, den sie zunehmend als stellvertretendes politisches und gesellschaftliches Eintreten für die Bürgerinnen und Bürger auffassten, mussten sie sich um ein einigermaßen pflegliches Verhältnis zur Führungselite der DDR bemühen.
Aber war denn das Gegenüber der Kirchenführer in der kommunistischen Diktatur überhaupt ein "Staat im strengen Sinne"? Hatten es die Kirchen nicht vielmehr mit einer Machtelite zu tun, deren ganze Erbärmlichkeit im Herbst 1989 ans Licht gezerrt werden konnte? Nowak überlegte, ob nicht die Kirchen andere intermediäre Organisationen wie Gewerkschaften und Parteien hätten ermutigen müssen, ihre Aufgaben der politischen Willensbildung wahrzunehmen, anstatt ein stellvertretendes politisches Mandat für die Bürgerinnen und Bürger ausüben zu wollen.
In der Bundesrepublik ist das Gewiesensein der Kirchen an den Staat seit den Anfängen kaum hinterfragt worden. Im Jahr 2014 veröffentlichten die beiden großen Kirchen eine "Sozialinitiative". Sie hebt paradigmatisch die kirchliche Verantwortung für eine Wirtschafts- und Sozialordnung hervor, "die diesem Land ein hohes Maß sowohl an wirtschaftlichem Wohlstand als auch an sozialer Stabilität beschert hat", so der Text "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft – Initiative des Rates der ekd und der Deutschen Bischofskonferenz für eine gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung". Staat und Kirche arbeiten – in je unterschiedlichen Gestaltungssphären – an derselben Aufgabe, der Herstellung und Erhaltung des Gemeinwohls. Die
Sozialinitiative findet genau für diesen Zusammenhang den Begriff "unsere gemeinsame Verantwortung". Von einer gleichsam höheren Warte aus fordern die Kirchen zu einer Diskussion über "unsere gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" auf.
"Unsere gemeinsame Verantwortung" erscheint wie ein terminus technicus, der die wechselseitige Bezogenheit von Staat und Kirche zum Ausdruck bringt.
Was aber, wenn dieses Selbstbild der wechselseitigen Bezogenheit von Staat und Kirche der Realität in einer multireligiösen und säkularisierten Gesellschaft nicht mehr entspricht? Schnappt hier vielleicht auch die Bewusstseinsfalle volkskirchlicher Tradition zu? Greift hier das, was Kurt Nowak den "protestantischen Gouvernementalismus", also die Staatsförmigkeit der evangelischen Kirche genannt hat?
In der DDR-Diktatur bestand die Bewusstseinsfalle darin, die Frage nicht zu stellen, ob denn der Staat überhaupt ein Staat im Vollsinn war. Heute ist die Frage, ob die Kirche sich als Gegenüber zum Staat oder als Teil einer lebendigen Zivilgesellschaft versteht. Auf manchen Dörfern Brandenburgs, das hat der Fürstenwalder Frank Schürer-Behrmann in einer unveröffentlichten Studie verdeutlicht, ist der Einfluss der Christinnen und Christen größer, wenn sie sich als ein zivilgesellschaftlicher Akteur unter mehreren verstehen. Das mag sich in Hannover und Stuttgart anders anfühlen, aber das staatsförmige Kleid der Kirchen ist mancherorts längst zu weit geworden.
Die globalen Veränderungen des politischen und ökonomischen Machtgefüges, das die Kirchen in ihren Sozialpapieren sehr genau analysieren, sind an ihnen selbst nicht vorbeigegangen. Der hohe Ton des sozialethischen Mandats unterliegt zunehmend einer Tonprobe, die es bis vor kurzem in dieser Deutlichkeit nicht gab – der Glaubwürdigkeitsprobe. Glaubwürdigkeit, das eigene Tun zum Maßstab des eigenen Redens zu machen – das ist im zivilgesellschaftlichen Umgang normal, für die Kirchen ist es relativ neu und vor allem existenziell. Matthias Drobinski, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, hält die Glaubwürdigkeitsprobe für eine Folge abnehmender Bindung an die Kirchen, es könnte auch ein Teil der Demokratisierung und Pluralisierung orientierender Angebote sein. Langsam, aber stetig werden die Kirchen auch in Deutschland auf einen Markt gedrängt, auf dem sie sich behaupten müssen.
Volkskirchliche Areligiosität
Was ist das Leitbild einer Institution, die sorgsam mit ihrem Glaubwürdigkeitskapital umgehen muss und nicht in die volkskirchliche Falle tappen darf? Noch ist das Religionsverfassungsrecht de jure nicht auf einen pluralen Markt religiöser und sozialethischer Orientierungen ausgelegt. De facto aber entwickelt sich seit Längerem eine Vielfalt von Religion in der Zivilgesellschaft, einschließlich der Realität fast volkskirchlicher Areligiosität im Osten des Landes.
Aber genauso wie das Freiheitsverständnis nicht aufgegeben, sondern kritisch und kreativ weiterentwickelt werden muss, wird sich auch das Verständnis von Verantwortung wandeln. Die staatsnahe Gemeinwohlverpflichtung kann zum Potenzial einer unvollendeten Reformation werden, kann Kräfte freisetzen, die nach neuen, politiknahen, aber staatsferneren Formen der Verantwortungsübernahme suchen. Die Kirchen werden – so die Prognose – staatsferner werden, aber politiknah bleiben. Sie werden Mut zur Freiheit von liebgewordenen Traditionen aufbringen müssen und Verantwortung in der Nähe zur Politik wahrnehmen. So wird aus diesem Dual von mutiger Freiheit und zivilgesellschaftlicher Verantwortung mindestens eine Trias – Freiheit, Verantwortung, Glaubwürdigkeit.