Wider das staatsförmige Kleid

Kritische Anfragen an die real existierende Volkskirche in Deutschland
Kirche übt Protest. Demonstration beim Kirchentag in Köln im Juni 2007 gegen den zeitgleich stattfindenden G-8-Gipfel in Heiligendamm. Unter dem Motto „Kirche Gib 8!“ hatten die Evangelischen Studierendengemeinden (esg), die Initiative "Kirche von unten" u
Kirche übt Protest. Demonstration beim Kirchentag in Köln im Juni 2007 gegen den zeitgleich stattfindenden G-8-Gipfel in Heiligendamm. Unter dem Motto „Kirche Gib 8!“ hatten die Evangelischen Studierendengemeinden (esg), die Initiative "Kirche von unten" u
Die Staatskirche gehört in Deutschland der Vergangenheit an. Aber immer noch verstehen sich die beiden großen Kirchen in Deutschland als Pendant des Staates. Falsch, sagt Ellen Ueberschär. Die Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages ist überzeugt, dass eine größere Distanz der Kirchen zum Staat ihre Glaubwürdigkeit erhöhen würde.

Rückblende: In den Schulen der DDR wurde häufig und gern das Kampf­lied der Internationalen Brigaden im spa­nischen Bürgerkrieg gesungen – aufrüt­telnde Marschmusik. In der letzten Zeile der ersten Strophe heißt es: "Wir kämpfen und siegen für dich, Freiheit!" Fast alle Schüler kannten diese Zeile auswendig. 1987 spielte sich bei einer "Friedenswerk­statt" in der Ost-Berliner Erlöserkirche folgende Szene ab: Die Kirche brechend voll, gespannte Stille. Noch geschah nichts auf der Bühne vor dem Altar, die aus einem Podest und zwei Laken gezimmert war. Gespannte Stille auf das, was zwischen den Zeilen deutlich zu lesen sein würde. Plötzlich erklang leise die Melodie des Spanienkämpferliedes und stoppte – jäh vor dem letzen Wort. Jede und jeder hatte sofort verstanden. Die Freiheit fehlte! Die Kirche bebte unter dem johlenden Ap­plaus und dem aufbrausenden Getrampel auf den alten Holzdielen.

Die da aus der Enge der DDR in die Weite der Kirche gekommen waren, hat­ten verstanden. Natürlich. Sensibilität für Freiheit entwickeln Menschen dann, wenn sie sie nicht haben. Freiheit und Kirche – das schien zu diesem Zeitpunkt ein evidenter Zusammenhang. Freiheit ist im Doppelpack mit dem Begriff der Verantwortung so etwas wie ein Ko­ordinatensystem des protestantischen Selbstbildes. Wir sind eine "Kirche der Freiheit", verkündete der vor fast einem Jahrzehnt angestoßene Reformprozess der ekd, weil wir Verantwortung für Kir­che und Gesellschaft der Zukunft wahr­nehmen.

Freiheit und Verantwortung haben beste Chancen, zum Reformationsjubi­läum 2017 Schlüsselvokabeln zu werden. Aber was ist heute darunter zu verstehen? Es ist an der Zeit, den Gegenwartswert beider Begriffe anhand einiger Beobach­tungen kritisch zu prüfen.

Das christliche, zumal das reformato­rische Freiheitsverständnis ist vorausset­zungsvoll. Die verständlichste Variante ist immer noch Martin Luthers Erläu­terung in seiner berühmten Freiheits­schrift: Ein Christ ist nicht nur ein freier Herr oder eine freie Frau über alle Dinge, sondern auch ein Knecht oder eine Magd von jedermann und jederfrau.

Dies ist die Freiheit, sich nicht abhän­gig zu machen von den Anpassungs- und Sachzwängen dieser Welt, sondern in der Bindung allein an Jesus Christus frohe Befreiung zu erfahren aus den gottlosen Bindungen dieser Welt, wie es 1934 in Barmen gesagt und wie es in den Jahren vor 1989 im unfreien Teil unseres Landes vielfach wiederholt werden konnte.

Volkstümliches Missverständnis

Allerdings – im Laufe der Jahre nach 1989 scheint sich im freiheitlich-demokratischen Inland die Freiheits­sehnsucht aus der Berliner Erlöserkirche und andernorts in ihr Gegenteil verkehrt zu haben. Volker Braun, "Provokateur und Parteigänger, Außenseiter und Aushängeschild" (Christ in der Gegen­wart 31/2014) unter den Schriftstellern der DDR, notierte zu Beginn des neuen Jahrtausends in sein Tagebuch: "Freiheit, so lautet das neue Verschleierungs- und Totschlagwort." Krieg im Namen der Freiheit; Freiheit, sich selbst das Leben zu nehmen; Freiheit zur Rücksichtslosig­keit, Freiheit, Steuern durch Hinterzie­hung zu sparen, Freiheit, der Gier freien Lauf zu lassen.

Was das Wort von der Freiheit an­geht, sollten die Kirchen – wie einst Lu­ther – dem Volk aufs Maul schauen. Der Begriff von der Freiheit eines Christen­menschen ist heute tief vergraben unter dem volkstümlichen Missverständnis, dass Freiheit immer die Freiheit von et­was ist.

Für Viele im Osten klingt der Frei­heitsbegriff wie ein Hohn – Freiheit war das Versprechen von 1989, die An­tithese zur unfreien Gesellschaft und Bevormundung. Das Pathos der Freiheit ist dem Volk in den Kerngebieten der lu­therischen Reformation zur Bindungslo­sigkeit in aller Selbstmächtigkeit mutiert. Die Freiheitssehnsucht verdünnt sich in einem Meer scheinbar unendlicher, in­dividueller Möglichkeiten, die aber aus sozialen, wirtschaftlichen oder anderen Gründen nicht realisiert werden können.

Genau dies löst Ängste aus und be­schädigt die Freiheit. Ein Teil des Un­verständnisses für die Pegidaproteste hat hier seine Wurzel. Wer heute von Freiheit, zumal von christlicher spricht, muss sich mit der Gefahr auseinander­setzen, dass Freiheit mit Bindungslosig­keit verwechselt wird. Aber der Umgang mit Freiheit ist nicht voraussetzungslos. Von Freiheit zu reden und das christliche Doppelverständnis von Freiheit und Bin­dung mit zu sagen, erfordert heute genau so viel Mut wie in Diktaturen.

"Mut zur Freiheit und Mut zur Ver­antwortung" – so könnte eine Kurzfor­mel reformatorischen Weltverständnis­ses heute lauten. Kirchen nehmen mit gu­tem Grund und auf vielfältige Weise Ver­antwortung für das Gemeinwohl in mehr oder weniger Staatsnähe oder Staatsfer­ne wahr. Die evangelische Kirche hat sich von der Staatskirche zur Volkskirche ent­wickelt, aber auch dieses Modell scheint gerade an sein Ende zu kommen. Kommt damit auch die Verantwortung für das Gemeinwohl als das wichtigste Merkmal der Volkskirche an sein Ende?

Kurt Nowak, viel zu früh verstorbe­ner Kirchenhistoriker in Leipzig, hat die­se Verknüpfung des kirchlichen Selbst­verständnisses mit der Orientierung am Staat als "protestantischen Gouverne­mentalismus" bezeichnet.

Gegenüber dem Kurs der DDR stellte er die kritische Frage, ob nicht im An­spruch, als Kirche für das Ganze zu sor­gen, eine "Bewusstseinsfalle der volks­kirchlichen Tradition" aufgestellt sei. Denn in der Sorge um das Gemeinwohl sahen sich die Kirchen in der DDR an den sozialistischen Staat gewiesen. Wollten sie ihren Auftrag erfüllen, den sie zu­nehmend als stellvertretendes politisches und gesellschaftliches Eintreten für die Bürgerinnen und Bürger auffassten, mussten sie sich um ein einigermaßen pflegliches Verhältnis zur Führungselite der DDR bemühen.

Aber war denn das Gegenüber der Kirchenführer in der kommunistischen Diktatur überhaupt ein "Staat im stren­gen Sinne"? Hatten es die Kirchen nicht vielmehr mit einer Machtelite zu tun, deren ganze Erbärmlichkeit im Herbst 1989 ans Licht gezerrt werden konnte? Nowak überlegte, ob nicht die Kirchen andere intermediäre Organisationen wie Gewerkschaften und Parteien hätten er­mutigen müssen, ihre Aufgaben der poli­tischen Willensbildung wahrzunehmen, anstatt ein stellvertretendes politisches Mandat für die Bürgerinnen und Bürger ausüben zu wollen.

In der Bundesrepublik ist das Gewie­sensein der Kirchen an den Staat seit den Anfängen kaum hinterfragt worden. Im Jahr 2014 veröffentlichten die beiden gro­ßen Kirchen eine "Sozialinitiative". Sie hebt paradigmatisch die kirchliche Ver­antwortung für eine Wirtschafts- und So­zialordnung hervor, "die diesem Land ein hohes Maß sowohl an wirtschaftlichem Wohlstand als auch an sozialer Stabilität beschert hat", so der Text "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesell­schaft – Initiative des Rates der ekd und der Deutschen Bischofskonferenz für ei­ne gerechte Wirtschafts- und Sozialord­nung". Staat und Kirche arbeiten – in je unterschiedlichen Gestaltungssphären – an derselben Aufgabe, der Herstellung und Erhaltung des Gemeinwohls. Die

Sozialinitiative findet genau für diesen Zusammenhang den Begriff "unsere ge­meinsame Verantwortung". Von einer gleichsam höheren Warte aus fordern die Kirchen zu einer Diskussion über "unsere gemeinsame Verantwortung für eine ge­rechte Gesellschaft" auf.

"Unsere gemeinsame Verantwor­tung" erscheint wie ein terminus technicus, der die wechselseitige Bezogenheit von Staat und Kirche zum Ausdruck bringt.

Was aber, wenn dieses Selbstbild der wechselseitigen Bezogenheit von Staat und Kirche der Realität in einer multi­religiösen und säkularisierten Gesell­schaft nicht mehr entspricht? Schnappt hier vielleicht auch die Bewusstseinsfalle volkskirchlicher Tradition zu? Greift hier das, was Kurt Nowak den "protestanti­schen Gouvernementalismus", also die Staatsförmigkeit der evangelischen Kir­che genannt hat?

In der DDR-Diktatur bestand die Be­wusstseinsfalle darin, die Frage nicht zu stellen, ob denn der Staat überhaupt ein Staat im Vollsinn war. Heute ist die Fra­ge, ob die Kirche sich als Gegenüber zum Staat oder als Teil einer lebendigen Zivil­gesellschaft versteht. Auf manchen Dör­fern Brandenburgs, das hat der Fürsten­walder Frank Schürer-Behrmann in einer unveröffentlichten Studie verdeutlicht, ist der Einfluss der Christinnen und Christen größer, wenn sie sich als ein zi­vilgesellschaftlicher Akteur unter mehre­ren verstehen. Das mag sich in Hannover und Stuttgart anders anfühlen, aber das staatsförmige Kleid der Kirchen ist man­cherorts längst zu weit geworden.

Die globalen Veränderungen des politischen und ökonomischen Macht­gefüges, das die Kirchen in ihren Sozial­papieren sehr genau analysieren, sind an ihnen selbst nicht vorbeigegangen. Der hohe Ton des sozialethischen Mandats unterliegt zunehmend einer Tonprobe, die es bis vor kurzem in dieser Deut­lichkeit nicht gab – der Glaubwürdig­keitsprobe. Glaubwürdigkeit, das eigene Tun zum Maßstab des eigenen Redens zu machen – das ist im zivilgesellschaft­lichen Umgang normal, für die Kirchen ist es relativ neu und vor allem existen­ziell. Matthias Drobinski, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, hält die Glaubwür­digkeitsprobe für eine Folge abnehmen­der Bindung an die Kirchen, es könnte auch ein Teil der Demokratisierung und Pluralisierung orientierender Angebote sein. Langsam, aber stetig werden die Kirchen auch in Deutschland auf einen Markt gedrängt, auf dem sie sich be­haupten müssen.

Volkskirchliche Areligiosität

Was ist das Leitbild einer Instituti­on, die sorgsam mit ihrem Glaubwür­digkeitskapital umgehen muss und nicht in die volkskirchliche Falle tappen darf? Noch ist das Religionsverfassungsrecht de jure nicht auf einen pluralen Markt re­ligiöser und sozialethischer Orientierun­gen ausgelegt. De facto aber entwickelt sich seit Längerem eine Vielfalt von Reli­gion in der Zivilgesellschaft, einschließ­lich der Realität fast volkskirchlicher Areligiosität im Osten des Landes.

Aber genauso wie das Freiheitsver­ständnis nicht aufgegeben, sondern kri­tisch und kreativ weiterentwickelt wer­den muss, wird sich auch das Verständnis von Verantwortung wandeln. Die staats­nahe Gemeinwohlverpflichtung kann zum Potenzial einer unvollendeten Re­formation werden, kann Kräfte freiset­zen, die nach neuen, politiknahen, aber staatsferneren Formen der Verantwor­tungsübernahme suchen. Die Kirchen werden – so die Prognose – staatsferner werden, aber politiknah bleiben. Sie wer­den Mut zur Freiheit von liebgeworde­nen Traditionen aufbringen müssen und Verantwortung in der Nähe zur Politik wahrnehmen. So wird aus diesem Dual von mutiger Freiheit und zivilgesellschaft­licher Verantwortung mindestens eine Trias – Freiheit, Verantwortung, Glaub­würdigkeit.

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