In der Schwebe

Don´t Weigh Down The Light
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Ein starkes leises Album mit Träumen, Geschichten und Gefühlen, das sich um aufgeblähte Alltagstaktgeber nicht schert.

In einer Welt mit Verheißung sind Frontex und Fifa allenfalls noch Namen einer Vollfruchtmarmelade. Gewiss, eine Utopie, aber in der Blauen Stunde dennoch erfahrbar, wenn die Sonne bereits untergegangen ist und noch nicht Nachtdunkel herrscht, das Licht weicher, die Ebenen von Wahrheit verschoben: Nicht mehr und noch nicht, das Dazwischen. Auch Philipp in Wolfgang Koeppens Roman "Tauben im Gras", dem ersten seiner "Trilogie des Scheiterns", liebt "die Stunde am Abend, da die Radfahrer durch die Straßen sausen und den Tod verachten. Die Zeit der niederfallenden Dämmerung, des Ladenschlusses, der Heimkehr der Werktätigen, die Stunde des Ausschwärmens der Nachtarbeiter. Die Stunde des Träumens, eine Spanne relativer Freiheit, der Augenblick des Freiseins von Tag und Nacht. Die Menschen freigelassen von ihren Werkstätten und Geschäften, noch nicht eingefangen von den Ansprüchen der Gewohnheit und dem Zwang der Familie. Die Welt hing in der Schwebe. Für eine Weile schien alles möglich zu sein."

"Don't Weigh Down the Light", das dritte Soloalbum der Folksängerin Meg Baird, ist Musik für diese Stunde oder schafft sie vielleicht erst. Mitten am Tag oder nachts, irgendwann. Wovon das abhängt? Wer weiß. Plötzlich ist sie da, eingetreten, ihr könnt euch sehen, riechen, zusammen sein. Eine Klarheit, die not tut, kein Quietismus oder Eskapismus.

Baird hat die Fähigkeit, diese Stunde heraufzubeschwören. Sie stammt aus New Jersey an der Ostküste und lebt in San Francisco, spielt Gitarre, Schlagzeug und Piano und war Gründungsmitglied der Psychedelic Folkband Espers. Sie arbeitete mit Will Oldham und Steve Wynn, tourte mit Bert Jansch und Michael Hurley und tritt mit ihrer Schwester im Duo auf. Ihr Großonkel war einer jener Appalachen-Folksänger, von denen die Library of Congress einst Feldaufnahmen machen ließ. Aktuelle Außenseiter-Folkies haben Baird ebenso beeinflusst wie britische Folkbands der späten Sechzigern, allen voran Pentangle und Fairport Convention. Das kann man auf "Don't Weigh Down the Light" hören. Elf Tracks (nicht alle sind 'Songs', sie setzt ihre somnambule und klare Stimme mitunter nur als Instrument ein) zwischen Erinnern und Vergessen, Beisichsein - Heure-Bleue-Gemälde und -Zeichnungen. Starkes, oft hypnotisch perlendes Gitarrenpicking, darüber Soli, dichter Sound, trotzdem leicht, manche Zeilen nur gehaucht.

Die Assoziationen oszillieren zwischen Neil Young, psychedelischen Westcoastbands und dem Klang alter Feldaufnahmen. Koordinaten, die das Feld abstecken, auf das Meg Baird einen führt. Ein starkes leises Album mit Träumen, Geschichten und Gefühlen, das sich um aufgeblähte Alltagstaktgeber nicht schert. Ein Alphabet der Freiheit, das mühelos über Mauern springt.

Meg Baird: Don't Weigh Down the Light. Wichita/pias/Rough Trade 2015.

Udo Feist

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