88 Cent und täglich drei Gebete

Unterwegs in der Augsburger Fuggerei, der ältesten Sozialsiedlung der Welt
Foto: Anika Taiber
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180.000 Touristen kommen jährlich nach Augsburg, um die Siedlung zu sehen, die Jakob Fugger vor langer Zeit gestiftet hat. Damals wie heute gilt: Wer katholisch und unschuldig in Armut geraten ist, kann hier fast umsonst wohnen. Die Journalistin Barbara Schneider hat sich in der Fuggerei umgesehen.

Nachts, wenn der Zeiger der Kirchturmuhr der nahe gelegenen Jakobskirche auf zehn Uhr wandert, geht ein Nachtwächter durch die geteerten Gassen der Fuggerei. Er schließt das Haupttor ab und bezieht sein Bett in der Stube neben einem Seiteneingang. Wer jetzt noch hinein will oder heraus will, kommt an ihm nicht vorbei. Fremde oder Touristen schon gar nicht. Denn es gelten ganz eigene Regeln, hier in der mit einer hohen Mauer umgrenzten Wohnsiedlung mitten in Augsburg. Fünfzig Cent zahlen die Bewohner für ihre Rückkehr vor Mitternacht, nach Mitternacht kostet es einen Euro. Der Obolus an den Nachtwächter ist Tradition in der ältesten bis heute bestehenden Sozialsiedlung der Welt.

Ehrenamt gehört dazu

Als Renate Weißinger vor elf Jahren in die Fuggerei einzog, arbeitete sie auch als Nachtwächterin. Eine Woche lang tauschte sie ihre Matratze mit dem Bett in der Kammer neben dem Nachttor. Bei jedem Klingeln stand sie auf, schaute durch die Luke, öffnete per Knopfdruck die Tür und nahm die Münzen entgegen. Auf Dauer waren die Nachtschichten aber nichts für sie, sagt Weißinger. Sie hat sich deshalb ein anderes Ehrenamt gesucht: Mehrmals im Monat sitzt sie jetzt an der Kasse am Eingang und verkauft Eintrittskarten.

Foto: Anika Taiber
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Renate Weißinger lebt seit elf Jahren in der Fuggerei. Sie ist eine von 150 Bewohnern, der jüngste ist ein halbes Jahr alt, der älteste 97.

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180.000 Touristen zählt die Fuggerei jährlich. Sie kommen mit Bussen aus Bozen, aus Stuttgart, vom Bodensee oder aus Frankreich. Auch Japaner schauen sich die Siedlung gerne an. Gerade ist eine italienische Schulklasse angekommen. Die Jugendlichen stehen schwatzend und kichernd im Eingangstor, spielen mit ihren Handys. Weißinger, kurze graue Haare und Brille, winkt die Schüler durch den Eingang. Langsam setzen sich die Jugendlichen in Bewegung und laufen die Gasse entlang, vorbei an den ockergelben Häusern mit ihren grünen Fensterläden, hinein in einen kleinen Park. Hier haben die Augsburger dem reichen Kaufherren und Bankier Jakob Fugger (1459-1525) ein Denkmal gesetzt. Von seinem Sockel aus schaut er, in Bronze gegossen, mit strengem Blick auf die Jugendlichen. So, als wolle er sagen, seht her, was ich geschaffen habe.

Sorge um das Seelenheil

Jakob Fugger leitete ein Familienunternehmen, das durch Textilproduktion, Handel, Bankgeschäfte sowie Bergbau zu Reichtum gekommen war. Bis heute gilt er als einer der reichsten Männer seiner Zeit. Er spann Handelsnetzwerke durch ganz Europa, betrieb Seehandel nach Ostindien und schmiedete zugleich durch sein diplomatisches Geschick und mit Kalkül eine enge Allianz aus Wirtschaft und Politik. Er war der Bankier der Päpste und finanzierte den Aufstieg der Habsburger. Zugleich war er aber auch der Stifter der nach ihm benannten Sozialsiedlung. 1521 verfügte er in einer Stiftungsurkunde den Bau der Einrichtung. Als reicher Bürger sah er sich dazu in der Pflicht, von seinem von Gott empfangenen Reichtum wieder etwas zurückzugeben. Jakob Fugger war ein frommer Mann, fest im Glauben seiner Zeit verwurzelt. Die Sorge um sein Seelenheil trieb ihn um. Und so sollten die Bedürftigen, denen er in der Fuggerei ein Zuhause gab, als Fürsprecher vor Gott für ihn eintreten. So schrieb es Jakob Fugger im Stiftungsbrief, der bis heute gilt.

Foto: Anika Taiber
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Dass er beim Bau geknausert hat, kann man Jakob Fugger nicht vorwerfen. Wer damals eine Wohnung in der Fuggerei bekam, lebte vergleichsweise luxuriös, auf rund 60 Quadratmetern, mit separatem Eingang und eigener Hausnummer. Es gab eine Schule und der niederländische Jesuit Petrus Canisius war als erster Fuggerei-Geistlicher für die Seelsorge in der Wohnsiedlung zuständig. Die Wohnungen im Erdgeschoss hatten jeweils einen kleinen Hof. Man kann sich vorstellen, dass hier auch mal ein Huhn herumlief oder eine Ziege festgebunden war.

Stadt in der Stadt

Mit ihren engen Gassen, den von Efeu überwachsenen Fassaden ist die Fuggerei bis heute eine eigene kleine Stadt inmitten von Augsburg. In den Vorgärten blühen Blumen, auf einem Fenstersims räkelt sich eine Katze in der Mittagssonne, vor einer Haustür stehen Liegestühle, vor manch anderem Eingang Rollatoren. Viel hat sich seit der Gründung geändert, eine Schule gibt es nicht mehr, die Wohnungen sind ans Fernwärmenetz angeschlossen, Strom und fließend Wasser sind selbstverständlich. Geblieben ist aber der Geistliche, der täglich die Messe in der St-Markus-Kirche der Fuggerei zelebriert. Und auch die Jahreskaltmiete ist gleich geblieben. 88 Cent zahlen die Bewohner, hinzu kommen Nebenkosten für Strom, Wasser, Heizung, Müllabfuhr, Verwaltung. 88 Cent, das entspricht dem Rheinischen Gulden, den die Bewohner zu Fuggers Zeiten jährlich bezahlten. Damals war das der Wochenlohn eines Handwerkers. Heute kriegt man dafür oft nicht einmal mehr eine Kugel Eis. Und auch nach Mitternacht nach Hause zu kommen ist für Fuggerei-Bewohner teurer.

Foto: Anika Taiber
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Spendensammler Gerhard Schlich trägt die Kleidung eines Patriziers.

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"Der Reiche" Jakob Fugger war Gründer der Siedlung.

Inzwischen hat Weißinger ihren Dienst an der Kasse beendet und macht sich auf den Weg nach Hause. Vor dem Museum wird sie von einem Mann in schwarzem T-Shirt und Kamera um den Hals angesprochen, der gerade noch eine Eintrittskarte bei ihr gekauft hat. Er will es genau wissen. Wie bekommt man denn heute eine Wohnung in der Fuggerei, erkundigt er sich. Weißinger lacht. "Sie müssen aus Augsburg kommen, bedürftig und katholisch sein", sagt sie und fügt hinzu: "Wenn Sie sich heute bewerben und ich morgen, ich aber bedürftiger bin als Sie, krieg' ich die freie Wohnung."

Fugger-Nachkommen entscheiden

In der Fuggerei leben heute Hartz-IV-Empfänger, aber auch Rentner, Friseurinnen und Verkäufer, die sich eine normale Miete nicht mehr leisten können. Der jüngste der rund 150 Bewohner ist ein halbes Jahr, der älteste 97. Nicht jeder, der sich um eine Wohnung in der Sozialsiedlung bewirbt, bekommt eine Zusage. Eine Sozialarbeiterin ist für das Aufnahmeverfahren zuständig, sie prüft die Bedürftigkeit und hält hierzu mit dem Sozialamt Rücksprache. Außerdem nimmt sie Kontakt zur Heimatpfarrei der Bewerber auf und überprüft so die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Über die endgültige Aufnahme beraten bis heute die Nachkommen Jakob Fuggers.

Foto: Anika Taiber
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Impressionen: Eine Stadt für sich innerhalb von Augsburg.

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Drei Linien der Fugger gibt es heute: Fugger-Kirchberg, Fugger-Babenhausen und Fugger von Glött. Sie stellen das Fürstlich und Gräflich Fuggersche Familienseniorat, das nach den Kriterien entscheidet, die einst Jakob Fugger verfügt hat: Eine Wohnung bekommt nur, wer Augsburger ist. Der Bewerber muss unschuldig in Armut geraten sein. Und er verpflichtet sich - so schrieb es Jakob Fugger in der Stiftungsurkunde fest - drei Gebete am Tag für den Stifter und seine Familie zu sprechen: Das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis und das Ave Maria. Das gilt bis heute. Und es ist der Grund, warum bis heute kein Evangelischer in der Fuggerei wohnt.

Wie im Zoo

Ob die Gebete tatsächlich noch von allen gesprochen werden? Weißinger zuckt mit den Schultern. Überprüft wird das tägliche Beten nicht, sagt die 65-Jährige. Sie ist inzwischen vor ihrer Haustüre angekommen. "Die Leute, die in der Fuggerei wohnen, kommen sich manchmal vor wie im Zoo", sagt sie. Immer wieder beobachtet sie Touristen dabei, wie diese einen Blick durch die Gardinen in eine Wohnung erhaschen wollen. Weißinger ist froh, eine Wohnung im Obergeschoss zu haben. Zwar ohne Garten, aber eben auch ohne Touristen, die durch die Scheiben gucken. Sie schließt die Türe auf und steigt 13 Treppenstufen hinauf. Oben angekommen öffnet sich die Wohnungstür, hinter der ihr Jakob Fugger entgegenblickt. Der Druck des Stifters gehört zum Inventar einer jeden Wohnung der Fuggerei.

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Weißinger ist viel herumgekommen in ihrem Leben. Sie war Arzthelferin in einer chirurgischen Praxis in Berlin, ist als Außendienstmitarbeiterin eines Telefonverlags kreuz und quer durch Franken gefahren. Zuletzt verkaufte sie Versicherungen. "Am 3. März 2003 habe ich Insolvenz angemeldet", sagt sie und geht in ihr Wohnzimmer. Von den Holzregalen, in denen Telefonbücher aus Haiti, China und aus Tunesien stehen, hat sie die Deckelleisten abgeschraubt. Die Möbel aus ihrer alten Wohnung waren zu hoch für die Räume in der Fuggerei. Weißinger zeigt in Richtung der Fenster, durch die warme Sonnenstrahlen fallen und den Raum in helles Licht tauchen. "Schön, nicht?"

Roter Samt und Füllhorn

Nicht einmal fünfzig Meter weiter beendet eine Reisegruppe vor dem Brunnen ihren Rundgang. Sie haben die Schauwohnung besichtigt, waren im Bunker, in dem fast alle Bewohner der Fuggerei die Bombardierung Augsburgs im Zweiten Weltkrieg überlebt haben, und haben sich einen Film über die Geschichte der Fugger angesehen. Die Touristenführerin will sich gerade verabschieden, als Gerhard Schlich zu der Gruppe tritt. Er trägt roten Samt, verkleidet wie ein Patrizier aus dem 16. Jahrhundert, mit einem Füllhorn in der Hand. Schlich sammelt ehrenamtlich Spenden für die Fuggerei. Der Erhalt der Sozialsiedlung wird zu siebzig Prozent durch Einnahmen aus der Holzwirtschaft in stiftungseigenen Wäldern und zu zehn Prozent aus Immobilienbesitz außerhalb der Fuggerei finanziert. Hinzu kommen die Eintrittsgelder, die zwanzig Prozent ausmachen. Und eben auch Spenden. "Wenn sie da jetzt ein paar Münzen reinstecken, kriegen sie von mir drei Gebete, die jedem edlen Spender zustehen", sagt Schlich.

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Touristen gehen durch die Fuggerei: Die Eintrittsgelder decken aber nur 20 Prozent des jährlichen Finanzbedarfs.

Um 18 Uhr läuten die Glocken der St-Markus-Kirche zur Messe. Eine Frau betritt die Kapelle gebückt und auf einem Stock gestützt. Sie bekreuzigt sich, verneigt sich in Richtung Altar und lässt sich auf einer Holzbank nieder. Acht Gottesdienstbesucher sind an diesem Abend gekommen, alle weit über siebzig Jahre alt. Ehe die Messe beginnt, tritt die Mesnerin vor den Altar. Gemeinsam mit den anwesenden Fuggerei-Bewohnern spricht sie laut die drei Gebete für den Stifter - Vaterunser, Glaubensbekenntnis, Ave Maria. Touristen haben sich nicht in die Kirche verirrt. Hier sind die Bewohner der ältesten bestehenden Sozialsiedlung der Welt unter sich.

Text: Barbara Schneider / Fotos: Anika Taiber

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