Im Herzen angerührt

Von der Barmherzigkeit Gottes und der Menschen
In einer Gesellschaft, die den Eigennutz zur Kardinaltugend erhoben hat, deckt die Provokation zur Barmherzigkeit die Unbarmherzigkeit der Lebensverhältnisse auf.

Papst Franziskus hat das Jahr 2016 als ein neues Heiliges Jahr ausgerufen. Als "Jubiläum der Barmherzigkeit" soll es gefeiert werden. Durch sein Buch "Islam ist Barmherzigkeit", das nicht nur unter Muslimen heiß diskutiert wird, hat uns der muslimische Theologe Mouhanad Khorchide daran erinnert, dass Barmherzigkeit eines der Hauptwörter der biblischen Überlieferungen ist. Im Buch Exodus ist Barmherzigkeit der letzte der Namen Gottes, mit denen sich Gott selbst vorstellt: "Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue" (Exodus 34,6). Barmherzigkeit gehört zur Identität Gottes und ist nicht nur eine Qualität seines Handelns. Wer "Gott" sagt, sagt "Barmherzigkeit". Darum kann Gott seine Barmherzigkeit bedingungslos und uneingeschränkt den Armen in ihrer Not zuwenden.

Im Licht der Christusoffenbarung wird die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel in ihrer Wahrheit und Verbindlichkeit für alle Menschen erkannt. Weil die Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus ein menschliches Antlitz gewonnen hat, kann sie nun radikal auf das Verhältnis zum Nächsten angewendet werden. Wer selbst die Barmherzigkeit Gottes erfahren hat, der wird im Herzen angerührt und hineingezogen in die Bewegung der Barmherzigkeit Gottes zu den in sich selbst verlorenen und der Hartherzigkeit preisgegebenen Menschen. Dabei wird der Unterschied zwischen der Barmherzigkeit Gottes und der Barmherzigkeit der Menschen stets gewahrt. So verbindet der Evangelist Lukas die Aufforderung "Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist" mit den warnenden und befreienden Hinweisen: "Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben." (Lukas 6, 36-37). Barmherzigkeit ist Leidenschaft für das Wohl des Nächsten in seiner Not.

In einer Gesellschaft, die den Eigennutz zur Kardinaltugend erhoben hat, deckt die Provokation zur Barmherzigkeit die Unbarmherzigkeit der Lebensverhältnisse auf. Verwandelt sich unsere Gesellschaft in eine Wüste der Unbarmherzigkeit, in der die Barmherzigkeit Gottes neu entdeckt werden muss als übersprudelnde Quelle einer gerechten und menschenfreundlichen Gesellschaft? Wie groß das Dürsten nach der Barmherzigkeit ist, merken wir dann, wenn wir sie nicht nur in besonderen Taten der Barmherzigkeit als Ausnahmeforderung in Notsituationen verstehen, sondern als Normaltugend einer gerechten Gesellschaft, die auch in unseren Institutionen Raum gewinnen muss.

Martin Luther, der durch seine Bibelübersetzung das Wort Barmherzigkeit - wörtlich: sein Herz bei dem Armen haben - im Deutschen populär gemacht hat, hat das Evangelium als "Geschrei von der Gnad und Barmherzigkeit Gottes" verstanden. Kardinal Kasper hat diesen Ursinn der christlichen Botschaft in seinem Buchtitel "Barmherzigkeit: Grundbegriff des Evangeliums - Schlüssel christlichen Lebens" treffend auf den Begriff gebracht. Ist uns damit ein Grundthema für ein wahrhaft ökumenisches Reformationsjubiläum 2017 ans Herz gelegt, das auf das Verhältnis der Religionen und in alle Dimensionen des Lebens ausstrahlt?

Christoph Schwöbel ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Tübingen und Herausgeber von zeitzeichen.

Christoph Schwöbel

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