Ein zweifelhaftes Jubiläum

Zehn Jahre Hartz IV - Was die Arbeitsmarktreform bewirkt hat
Hartz IV führte auch zu einer Ausweitung der Kinderarmut. Foto: dpa/ Walter G. Allgöwer
Hartz IV führte auch zu einer Ausweitung der Kinderarmut. Foto: dpa/ Walter G. Allgöwer
Seit vor zehn Jahren die Arbeitsmarktreform am 1. Januar 2005 eingeführt wurde, hat sich Deutschland tiefgreifend verändert. Umstritten ist jedoch, ob die Reform ein Erfolg oder ein Misserfolg war. Der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge blickt zurück.

Der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement hat das als "Hartz IV" abgekürzte Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt seinerzeit die "Mutter aller Reformen" genannt. Tatsächlich hat sich Deutschland in den zehn Jahren seit Einführung der Arbeitsmarktreform am 1. Januar 2005 tiefgreifend verändert. Umstritten ist jedoch, ob diese ein Erfolg oder ein Misserfolg war. Frank-Jürgen Weise, Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit, klopfte sich in "Bild" (20. 11. 2014) selbst auf die Schulter und erklärte das Programm des Förderns und Forderns als "das beste, das wir je hatten".

Hier wird eine konträre Position vertreten: Sowohl die von dem Gesetzespaket unmittelbar Betroffenen wie auch ihre Angehörigen und die mit ihnen in einer "Bedarfsgemeinschaft" zusammenlebenden Personen werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert. Auch für alle übrigen Gesellschaftsmitglieder hat sich die soziale Fallhöhe durch Hartz IV erheblich vergrößert. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, Betriebsräte und Gewerkschaften stehen unter einem stärkeren Druck, geringere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, seit die Furcht vor dem materiellen Absturz sogar in der Mittelschicht um sich greift. Die mit den Hartz-Reformen in Gang gesetzte soziale Abwärtsspirale erschwert den normalen Alltag vieler Durchschnittsbürger, beeinträchtigt jedoch auch ihren aufrechten Gang.

Nicht alle Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehungsweise Sozialgeld beziehen oder deren Antrag auf diese Transferleistungen des Staates abgelehnt wurden, sind in gleicher Weise von der nach Peter Hartz benannten Arbeitsmarktreform betroffen. Vielmehr gibt es Personengruppen, die zu den Hauptleidtragenden dieses Gesetzeswerkes gehören, und andere, die davon entweder überhaupt nicht tangiert sind oder dadurch sogar enorm profitiert haben.

Soziale Schieflage verschärft

Vor allem durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt hat sich die finanzielle Situation von Millionen Langzeit- und Dauererwerbslosen und ihren Familien verschlechtert. Hartz IV führte zu einer Verschärfung der sozialen Schieflage im Land, zu einer Ausweitung der (Kinder-)Armut bis in die Mitte der Gesellschaft hinein und vor allem zu einer Verbreiterung des Niedriglohnsektors. Weil das Arbeitslosengeld II als ergänzende Sozialleistung zu einem sehr niedrigen Lohn konzipiert war, hebelte es die bisherige Mindestlohnfunktion der Sozialhilfe aus. Armut ist daher eine der negativen Folgewirkungen, die Hartz IV in einem Großteil der Fachliteratur zugeschrieben werden.

Zwar machte Hartz IV zumindest einen Teil der zuvor verdeckten Armut sichtbar, verstärkte aber zugleich vorhandene Armut und erzeugte darüber hinaus neue Armut, wie es sie in dieser ausgrenzenden, erniedrigenden und entwürdigenden Form in der Bundesrepublik bis dahin kaum je gegeben hatte. Einerseits nehmen auch Menschen, darunter vor allem Beschäftigte im Niedriglohnbereich und (Solo-)Selbstständige, das Arbeitslosengeld II in Anspruch, die vermutlich vorher aus Scham nicht zum Sozialamt gegangen waren, gingen oder gegangen wären, um dort "Stütze" für sich und ihre Angehörigen zu beantragen, andererseits erhalten Millionen Langzeiterwerbslose, die früher Empfänger von Arbeitslosenhilfe waren oder geworden wären, seither weniger oder sogar überhaupt kein Geld vom Staat mehr, weil das Partnereinkommen (zum Beispiel gut verdienender Ehemänner und Lebenspartnerinnen) bei Hartz IV sehr viel strikter auf den Leistungsanspruch der Antragstellerinnen (überwiegend sind es Frauen) angerechnet wird.

Unter den Betroffenen waren überhaupt viele Ostdeutsche, weil der Kahlschlag der Arbeitsplätze im Beitrittsgebiet ein riesiges Heer an Langzeit- und Dauererwerbslosen schuf, dort kaum Flächentarifverträge existierten und das Lohn- und Gehaltsniveau nach Jahrzehnten immer noch deutlich hinter dem westdeutschen zurückblieb. Außerdem waren Frauen in Ostdeutschland zu einem erheblich höheren Anteil als ihre westdeutschen Geschlechtsgenossinnen erwerbstätig, was im Falle der Arbeitslosigkeit dazu führte, dass ihnen das Partnereinkommen verstärkt auf das Arbeitslosengeld II angerechnet und dieses entweder gestrichen oder der Zahlbetrag verringert wurde.

Jüngere erhalten fast bloß noch befristete Arbeitsverträge und schlagen sich als Scheinselbstständige mit Honorarverträgen oder als schlecht oder gar nicht entlohnte Hilfskräfte ("Generation Praktikum") durch. Hartz IV prägt seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzespaketes das Schicksal von Millionen jüngeren Menschen, deren Lebensperspektiven davon ebenso maßgeblich bestimmt werden wie ihr Alltag. So lebten im Jahresdurchschnitt 2013 hierzulande 777.000 (8,9 Prozent) von insgesamt etwa 8,777 Mio. jungen Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften.

Migranten waren im Allgemeinen stärker als Einheimische von einer sozialen Marginalisierung durch die Hartz-Gesetze bedroht. Dies betraf vor allem Gruppen mit einem prekären Aufenthaltsstatus und ihre Kinder. Zeitgleich mit Hartz IV trat am 1. Januar 2005 das Zuwanderungsgesetz in Kraft, welches die Folgen der Arbeitsmarktreformen für Migrant(inn)en stark beeinflusste. Unabhängig von zum Teil auch bei Deutschen vorhandenen Qualifikationsdefiziten wirkten bei Migrant(inn)en weitere Zugangsbarrieren, die einer gleichberechtigten Inanspruchnahme von Eingliederungsmaßnahmen der Jobcenter entgegenstanden.

Mehr Altersarmut

Man muss kein Prophet sein, um vorhersagen zu können, dass sich als eine Spätfolge der Hartz-Gesetze bei langjährigen Arbeitslosengeld-II-Bezieher(inne)n, prekär Beschäftigten und Niedriglöhner(inne)n im Alter vermehrt Armut einstellen wird, weil die Deregulierung des Arbeitsmarktes mit einer Demontage des Sozialstaates im Allgemeinen und der Gesetzlichen Rentenversicherung im Besonderen einherging. Durch die Streichung der Beiträge zur Rentenversicherung, welche die Bundesagentur für Arbeit im Falle der Langzeit- und Dauererwerbslosigkeit entrichtete, ist das Armutsrisiko für Senior(inn)en mit brüchigen Erwerbsbiografien drastisch gestiegen.

Selbst wenn die Grundsicherung für Arbeitsuchende mit ihrem Regelbedarf von maximal 399 Euro (2015) für eine alleinstehende oder alleinerziehende Person sowie der Übernahme "angemessener" Wohnkosten das soziokulturelle Existenzminimum gerade noch sichert, bedeuten jede fehlerhafte Berechnung und jede Kürzung wegen einer Sanktionierung zumindest relative Armut für Leistungsberechtigte. Darunter versteht man eine Lebenslage, bei der zwar die Grundbedürfnisse - ausreichende Ernährung, eine den klimatischen Bedingungen angemessene Unterkunft und Kleidung sowie eine medizinische Basisversorgung - abgedeckt sind, aber weder die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben noch die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen (zu Verwandten, Freunden und Bekannten) möglich ist. Im Falle einer Totalsanktion, die normalerweise zur völligen Mittellosigkeit und bei Unter-25-Jährigen manchmal sogar zur Wohnungslosigkeit des Leistungsbedürftigen führte, weil das Jobcenter die Übernahme seiner Miet- und Heizkosten vorübergehend beendete, lag eindeutig absolute, extreme und existenzielle Armut vor. Darunter versteht man den im Extremfall lebensbedrohlichen Zustand, dass ein Mensch seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann und am physischen Existenzminimum lebt, genauer: dahinvegetiert.

Armut, in der Bundesrepublik jahrzehntelang eher ein Rand(gruppen)-phänomen, ist durch die Arbeitsmarktreformen selbst für Teile der unteren Mittelschicht zur Normalität geworden. Besonders früh und intensiv wurde über die Folgen der so gennanten Hartz-Gesetzgebung für Kinder diskutiert, weil diese seit Alters her als "würdige Arme" gelten, die ihre soziale Misere im Unterschied zu "arbeitsscheuen" Erwachsenen nicht selbst verschuldet haben. Auf dem Höhepunkt des Konjunkturaufschwungs nach der rot-grünen Arbeitsmarktreform, im März 2007, lebten Angaben der Bundesagentur für Arbeit zufolge fast 1,929 Millionen Kinder unter 15 Jahren (von 11,44 Millionen. dieser Altersgruppe insgesamt) in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften. Verschärft wurde das Problem durch erhebliche regionale Disparitäten (Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle). So lebten in Görlitz 44,1 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, während es im ausgesprochen wohlhabenden bayerischen Landkreis Starnberg nur 3,9 Prozent waren.

Bis zum Jahr 2013 sank die Anzahl der in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften lebenden Kinder unter 15 Jahren zwar um 300.000 auf 1,64 Millionen, einen Stand, auf dem sie die nächsten zwei Jahre verharrte. Dies war jedoch weder der erfolgreichen Armutsbekämpfung durch die schwarz-gelbe Bundesregierung noch Vermittlungserfolgen der Jobcenter geschuldet, sondern Folge einer Bereinigung der Statistik und eine Begleiterscheinung des demografischen Wandels. Es gab nämlich inzwischen weniger als 10,65 Millionen Kinder in dem besagten Alter, wodurch sich natürlich auch die Zahl der potenziellen Sozialgeld-Empfänger verringerte. Außerdem hatte man vor allem Alleinerziehende im Arbeitslosengeld-II-Bezug nach der Reform des Kinderzuschlages ab 1. Oktober 2008 gedrängt, diesen und Wohngeld für sich und ihren Nachwuchs in Anspruch zu nehmen, was sie zwar meist nur knapp über den Regelsatz hievte, aber nichtsdestotrotz aus der leidigen Hartz-IV-Statistik herauskatapultierte.

Neben den genannten Verlierergruppen gab es bei Hartz IV auch manche Nutznießer und eine geringe Zahl an Gewinner(inne)n. Dazu gehörten bisherige Sozialhilfebezieher, die erwerbsfähig waren und ab 1. Januar 2005 die Eingliederungsmaßnahmen nach dem sgb II in Anspruch nehmen konnten, sofern die Jobcenter sie in deren Genuss kommen ließen und ihre Fördermaßnahmen nicht auf Höherqualifizierte konzentrierten. Die eigentlichen Profiteure der rot-grünen Arbeitsmarktreformen waren jedoch Unternehmen auf der Suche nach Arbeitskräften, die möglichst billig, willig und wehrlos sind. Hartz IV führt dem Niedriglohnsektor aufgrund der verschärften Zumutbarkeitsregeln und des enormen Sanktionsdrucks immer neuen Nachschub zu. Und sinkende Gehälter von Arbeitnehmer(inne)n bedeuten für deren Arbeitgeber ebenso höhere Gewinne wie die Abschaffung von aus Beitragsmitteln der Sozialversicherung finanzierten Transferleistungen. Während die Bezieher(innen) von Arbeitslosengeld II durch scharfe Zumutbarkeitsregeln und strenge Sanktionen einem Zwangsregime unterworfen wurden, stellten die Grundsicherungsleistungen für Unternehmer eine Möglichkeit dar, Hartz IV gewinnsteigernd als Kombilohnmodell zu nutzen. Für exzessives Lohndumping betreibende Unternehmer, die häufig aus der Leiharbeitsbranche stammen, bildet das Arbeitslosengeld II eine willkommene Subvention, deren Gesamtsumme sich inzwischen auf mehr als 75 Milliarden Euro beläuft, die Erwerbsaufstocker(innen) seit dem 1. Januar 2005 ausgezahlt bekommen haben.

Literatur

Christoph Butterwegge: Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik? Beltz Juventa, Weinheim 2014, 290 Seiten, Euro 16,95.

Christoph Butterwegge

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Foto: Wolfgang Schmidt

Christoph Butterwegge

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Sein aktuelles Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ (183 Seiten, Ladenverkaufspreis: 14,90 Euro) ist im September 2020 im  PapyRossa Verlag erschienen.


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