Weihrauchschwaden ziehen durch die kleine Kapelle in den Katakomben des alten Klosters. Kerzen beleuchten den Raum. Während sich draußen ein Unwetter entlädt, singen Priester und Ministranten Psalmen. Abtbischof Timotheos Samuel Aktas tritt vor den Altar und spricht ein Gebet. Wieder wird gesungen. Beim Vaterunser beten die gut 50 Gläubigen leise mit. Auf Aramäisch, der Sprache Jesu Christi. Wir sind im Kloster Mor Gabriel, das zur "Syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien und des ganzen Ostens" gehört, ein paar Dutzend Kilometer nur von der türkisch-syrischen Grenze entfernt, in der Nähe der Kreisstadt Midyat.
Tur Abdin nennen die Menschen diese Region, den "Berg der Knechte Gottes". Gut 3.000 syrisch-orthodoxe Christen leben heute noch hier, verstreut in kleinen Dörfern. Auf kargen Böden bauen die Menschen Wein und Melonen an, an den Hängen weiden Ziegen und Schafe. Einst waren die Christen hier in der Mehrheit, zählten viele Hunderttausend. Doch den Völkermord an den Armeniern und Aramäern 1915 bezahlten viele von ihnen mit dem Leben. Und die Kämpfe zwischen Türken und Kurden, bei denen die Christen oft zwischen die Fronten gerieten, sorgten dafür, dass noch vor 20 Jahren ein wahrer Exodus aus der Region stattfand. In vielen einst vollständig christlichen Dörfern leben heute nur noch einzelne Familien. Das Kloster Mor Gabriel ist ihr geistliches Zentrum. "Wir hoffen und glauben, dass es für uns eine Zukunft geben wird", sagt Erzbischof Aktas, als er eine kleine Delegation der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) und den Siegener Bundestagsabgeordneten Volkmar Klein (CDU) empfängt. "Denn Gott hat der Kirche versprochen: Du bist mein und ich bin Dein."
Während der Erzbischof redet, servieren zwei Jungen Früchte und Tee. Sie sind Klosterschüler: Weil an den staatlichen Schulen der Türkei der Unterricht in aramäischer Sprache verboten ist, leben die Kinder der christlichen Familien des Tur Abdin für einige Zeit im Kloster. Tagsüber besuchen sie die staatliche Schule, nachmittags lernen sie Aramäisch. Offiziell erlaubt ist dieser Privatunterricht nicht. Die Behörden drücken ein Auge zu. Aber Rechtssicherheit haben die syrisch-orthodoxen Christen nicht. Das gilt auch für den an den staatlichen Schulen verpflichtend vorgeschriebenen islamischen Religionsunterricht. "Unsere Schüler sind davon befreit", sagt Erzbischof Aktas. Doch ihnen fehlen dadurch wertvolle Punkte für das Abitur. "Das ist eine krasse Benachteiligung und widerspricht eklatant der Religionsfreiheit", sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Klein.
Und Aktas hat noch mehr Beispiele parat: Immer wieder erlebten die Christen, eine Art Staatsbürger zweiter Klasse zu sein. Baugenehmigungen würden nicht erteilt, die Renovierung von Kirchen nicht genehmigt. Ein Souvenirshop dürfe in Mor Gabriel nicht eröffnet werden. Selbst der Landbesitz des seit dem 4. Jahrhundert durchgehend bewohnten Klosters ist umstritten: Kurdische Dörfer in der Umgebung verklagten die Mönche wegen "illegaler Ansiedlung", derzeit sind noch drei Verfahren anhängig. Es geht um Felder, Gärten und die Klostermauer. Bis zum europäischen Gerichtshof für Menschenrechte reicht der Rechtsweg. "Hinter den Klagen steht das Ziel, uns von hier zu vertreiben", sagt Aktas. Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich deswegen schon für Mor Gabriel eingesetzt. Auf ihre Intervention hin gab der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan dem Kloster einige Hektar Land zurück, die zuvor der Staat beanspruchte. Ob die Türkei der Europäischen Union beitreten soll? "Wir würden einen EU-Beitritt begrüßen", sagt Timotheos Samuel Aktas. "Aber nur, wenn sich die Türkei gegenüber ihren Minderheiten dann auch wie ein EU-Land verhält." Und zwischen den Zeilen wird schnell deutlich, dass das für den syrisch-orthodoxen Abtbischof noch lange nicht der Fall ist.
Symbole der Verfolgung
"Die alten Klöster in dieser Region sind Symbole der verfolgten Christenheit", sagt Edgar Lamm, der Vorsitzende der deutschen Sektion der IGFM, im Auto auf dem Weg in die benachbarte Kreisstadt Midyat. "Wir fordern Rechtssicherheit für die Christen sowie eine offizielle Aufhebung des Verbots zur Erteilung des aramäischen Sprachunterrichts." Darüber würden sich auch die Einwohner Midyats freuen. Ursprünglich war der Ort eine Hochburg des Christentums im Tur Abdin: Bis 1972 gab es hier nur eine einzige Moschee - und sechs christliche Kirchen. Heute ist die Zahl der Moscheen auf 35 gestiegen. Die Christen sind zur kleinen Minderheit geworden. Auch in Midyat müssen syrisch-orthodoxe Jugendliche die aramäische Sprache in ihrer Freizeit lernen. Auch hier bewegen sich Schüler und Lehrer an der Grenze zur Illegalität: "Es ist geduldet, aber nicht erlaubt", sagt Pfarrer Isaak Ergün. Und auch in Midyat gibt es die Probleme mit dem Religionsunterricht - aber immerhin: "Die Schulverwaltung bemüht sich darum, dass alle christlichen Kinder in eine gemeinsame Klasse gehen." Die Christen in der Stadt haben sich in der bedrängten Situation eingerichtet, so gut es eben geht. "Wenn die Muslime das Opferfest feiern, gratulieren ihnen Bischof und Kirchenrat", sagt Ergün. "Zu Ostern und Weihnachten gratuliert man uns."
So geschieht es auch in Marbobo, einem kleinen Dorf am Rande der Euphrat-Ebene. Die Äcker sind fruchtbarer als in den Bergen des Tur Abdin. Wer hier Land besitzt, gilt in der Umgebung als wohlhabend. So wie die Familie von Bülent Alkin, die schon seit Generationen in Marbobo ansässig ist. Doch die Konflikte zwischen PKK und türkischer Regierung und das Auftreten der islamistischen kurdischen Hizbollah vertrieben die Christen von Marbobo 1993 aus ihrer Heimat. Bülent Alkin zog nach Hamburg-Billstedt, verkaufte Döner Kebap. Heute hat er einen deutschen Pass und ist in das Dorf seiner Ahnen zurückgekehrt. Mittlerweile ist die Kirche renoviert, ein Gemeindezentrum errichtet. Bülent Alkin und seine Nachbarn leben wieder von der Landwirtschaft. Doch auch in Marbobo gibt es Streit um Ländereien. Seit mehr als 40 Jahren sind die Baumwollfelder im staatlichen Kataster als Eigentum des türkischen Nachbardorfs eingetragen. Bestellt werden die Felder indes von den Christen, die auch die Grundsteuern zahlen müssen. "In muslimischen Dörfern hat der Staat Spielplätze angelegt, und einen Bürgersaal", sagt Alkin. "Das haben wir hier nicht."
Dann holt ein Nachbar seinen türkischen Personalausweis hervor. In der blau-weißen Karte findet sich ein Feld für die Religionszugehörigkeit. "Hristiyan" (Christ) steht darin. Was etwa bei der Jobsuche sofort deutlich macht, ob es sich beim Bewerber um einen Christen oder einen Muslim handelt. Diskriminierungen sind Tür und Tor geöffnet. "Bei uns wäre das schon aus Datenschutzgründen nicht möglich", sagt der Menschenrechtler Edgar Lamm. Von der Terasse von Bülent Alkin ist am Horizont die syrische Grenze zu sehen. Und während er unter den Olivenbäumen seines Gartens von seinem Dorf erzählt, ziehen Gewitterwolken auf. "Die Menschen, die uns damals vertrieben haben, würden uns heute genauso vertreiben, wenn sich die Gelegenheit böte", fürchtet der Heimkehrer. Doch energisch fügt er hinzu: "Aber wir sind nach Marbobo zurückgekommen, um zu bleiben."
Ein paar Autostunden weiter westlich, in der Provinzhauptstadt Mardin, hat es eine junge Frau indes geschafft. Die erst 25 Jahre alte Studentin Februnye Akiol wurde zur zweiten Bürgermeisterin der Stadt gewählt - als Kandidatin der kurdischen Partei. Sie war die erste Frau des Tur Abdin, die eine Universität besuchte. Und auch in ihrem Personalausweis steht "Christin". Doch weil prominente Kurdenführer überzeugt waren, nur mit Hilfe der assyrischen Christen die Kommunalwahlen gewinnen zu können, trat sie an, im Team mit dem früheren Parlamentsabgeordneten und Kurdenfunktionär Ahmed Türk. Ein Vorgang, dessen Symbolkraft vermutlich um einiges stärker ist, als die tatsächliche politische Macht von Februnye Akiol. "Ich arbeite für die Freiheit unseres Volks", sagt Akiol. "Heute kommen viele Menschen zu mir und entschuldigen sich für die Massaker von 1915." Und der frühere Parlamentsabgeordnete und politische Gefangene Ahmed Türk betont beim Anblick der Besucher aus Deutschland, dass er alles dafür tun werde, dass den kirchlichen Stiftungen der syrisch-orthodoxen Gemeinden die umstrittenen Ländereien zurückgegeben werden. "Wir arbeiten daran", sagt Türk. Ist das Taktik, um die Kurden gegenüber Ankara in ein besseres Licht zu tauchen? Oder meint er es tatsächlich ernst?
Manches in Mardin wirkt jedenfalls positiv. Das örtliche Kloster Zaffaran, ebenfalls ein Bischofssitz, ist frisch renoviert. Mit EU-Mitteln, die für die Stadterneuerung in Mardin geflossen sind, haben die Christen ihre Klosterfassade renovieren können. In einem Souvenirshop gibt es im Kloster angebautes Olivenöl, Kekse und Wein. Aber auch die Bibel auf Türkisch, christliche Literatur und Ikonen. Wer sich über den Glauben informieren will, findet hier reichlich Material. Natürlich, die Probleme gleichen sich: Auch in Zaffaran müssen die Christen um ihr Land mit den benachbarten Dörfern streiten. Auch in Zaffaran müssen die jungen Klosterschüler in den islamischen Religionsunterricht gehen. Und auch in Zaffaran wird der Aramäisch-Unterricht im Kloster nur geduldet. "Aber wir bemühen uns um gute Beziehungen zu unseren Nachbarn", sagt Bischof Philoxenos Saliba Özmen. Mit dem vorigen Provinzgouverneur sei er persönlich befreundet gewesen, mit dem Nachfolger gebe es eine funktionierende Arbeitsbeziehung. Und auch zum muslimischen Mufti halte er Kontakt. Manches ist für das Kloster Zaffaran dadurch möglich geworden, was anderswo im Tur Abdin schon durch den in jahrzehntelangen Auseinandersetzungen verhärteten Charakter der handelnden Personen blockiert worden wäre. "Wir brauchen Arbeitsplätze, damit sich die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak hier niederlassen, und nicht nach Europa ziehen", sagt der Bischof. "Wenn wir friedlich mit unseren Nachbarn zusammenleben können, können wir viel schaffen."
Die Straße von Zaffaran und Mardin zurück in die Gebirgsstadt Midyat ist steil und kurvenreich. Statt des beleuchteten Kirchturms von Mor Gabriel empfängt den Reisenden am Ziel ein Uhrenturm. Auf ihm findet sich ein Relief, dass nebeneinander eine Moschee und eine Kirche zeigt. Das Minarett der Muslime ist deutlich grösser als der Turm der Christen. Doch die syrisch-orthodoxe Minderheit hat es gelernt, mit der Situation zu leben. Und in den vergangenen Jahren haben die Christen sogar ein wenig aufgeholt.
Benjamin Lassiwe