Evangelikal statt jüdisch

"Messianische Juden" in Israel sind leider nicht das, was sie vorgeben, zu sein
Messianischer Gottesdienst in Kirjat Jam: Männer ohne Kopfbedeckung ... Fotos: Rainer Stuhlmann
Messianischer Gottesdienst in Kirjat Jam: Männer ohne Kopfbedeckung ... Fotos: Rainer Stuhlmann
Das Phänomen "Messianische Juden" fasziniert Rainer Stuhlmann. Der rheinische Ruhestandspfarrer, der als Studienleiter in der christlichen Siedlung Nes Ammim in Nordisrael tätig ist, hat sich auf die Spurensuche begeben.

Messianische Juden haben in Israel anders als in Deutschland die Chance, jüdisch zu bleiben und das heißt jüdisch zu leben, auch wenn sie an Jesus als Messias glauben. In Israel wären sie besser als in anderen Ländern vor einer das Judentum auflösenden Assimilation geschützt. Sie könnten zum Beispiel ungeniert Kippa und Kopftuch tragen, den Sabbat und die jüdischen Feiertage halten, koscher essen und ihre Söhne beschneiden lassen. Ihr Judentum würde durch den Glauben an Jesus als den Messias nicht zerstört, sondern bewahrt und würde - in einer modifizierten Weise - an Kinder und Enkel weitergegeben.

Auf einmal gäbe es wieder, was seit dem zweiten (oder dritten) Jahrhundert verschwunden ist: jüdisch lebende Gruppen, die an den Messias Jesus glauben und ihr Judentum an die nächsten Generationen weitergeben und sich damit deutlich von den Kirchen unterscheiden. Das ist ein aufregender Gedanke, wäre eine neue zukunftsweisende Perspektive und echte Herausforderung für die christliche Theologie.

Wohl gemerkt: Messianische Juden sind keine Judenchristen. Diese bezeichnen allenfalls ihre Herkunft als jüdisch. Denn sie haben längst aufgehört, jüdisch zu leben. Bis in die Gegenwart hat es das immer gegeben: einzelne Juden, die zum Glauben an den Messias Jesus gekommen sind. Aber immer mussten sie aufhören, jüdisch zu leben, und sich stattdessen den Lebensgewohnheiten ihrer nichtjüdischen Mitchristen anpassen. Sie haben ja auch keinen anderen Ort als eine Kirche, die sich mehr und mehr von ihren jüdischen Wurzeln gelöst hat. Und so verblasst bei denen, die Juden waren und sich taufen ließen, die Erinnerung an ihre Wurzeln spätestens mit der zweiten oder dritten Generation.

Die Taufe von Juden war ursprünglich nichts anderes als ihre Einverleibung in den Machtbereich des Messias. Erst später wurde sie zum Übertritt von einer Religion zur anderen, was sie für Nichtjuden immer schon war. Wenn Juden zum Christentum konvertierten, ließen sie mit der Taufe das Judentum als Lebenspraxis hinter sich. Sie verließen damit die Gemeinschaft des Judentums und wurden Christen.

Eine Gruppe im bunten Judenum

Eine Religion wie das Judentum, die in der Lebenspraxis sichtbar wird und die keine Mission treibt, muss jede Taufe als Verrat und Angriff verstehen. Man muss nicht so weit gehen, wie der badische Altlandesrabbiner Nathan Peter Levinson (93), der die Judenmission einen "Holocaust mit anderen Mitteln" nannte. Andere formulieren weniger drastisch aber treffend: "Judenmission hat immer ganz freundlich angefangen, aber am Ende blieb nur zerstörtes Judentum."

Messianische Juden könnten - wie einst im Neuen Testament - praktizierende Juden bleiben und als solche an den Messias Jesus glauben. So wären sie eine Gruppe im bunten, vielgestaltigen Judentum der Gegenwart. Messianische Juden müssten weder Teil einer vorhandenen Kirche noch eine neue Kirche werden, sondern könnten ein einzigartiges Glied im Leib des Messias sein. Ihre Sonderexistenz würde sie höchst interessant und zu einer echten theologischen Herausforderung machen - für die jüdische wie die christliche Seite.

Um es gleich vorweg zu sagen: diese Herausforderung habe ich in Israel vergeblich gesucht. Gefunden habe ich bei meiner Suche (fast) immer nur Judenchristen, Leute mit einer jüdischen Vergangenheit, an die allenfalls ein paar Accessoires erinnern. Schon die Gottesdienste sind eine einzige große Enttäuschung. Dass sie am Sabbat stattfinden, sagt gar nichts. Das tun auch christliche, denn der Samstag ist in Israel der freie Wochentag. Beim ersten Besuch eines Gottesdienstes Messianischer Juden hatte ich meine Kippa eingesteckt, was ich immer tue, wenn ich zu einem jüdischen Gottesdienst gehe. Doch hätte ich sie aufgesetzt, wäre ich mir overdressed vorgekommen. Denn bis auf einige wenige trug hier niemand die Kippa.

In Haifa hatte die Gemeinde der Messianischen Juden Geld genug, um eine aufwendige neue "Kehila" zu bauen. Aber ich hatte Mühe, sie zu finden. Kein Passant wusste Bescheid, als ich nach der "Kehila", der "Messianischen Gemeinschaft" oder den "Messianischen Juden" fragte, bis einer plötzlich zurückfragte: "Meinen Sie die evangelikale Kirche?"

Und so sah sie auch aus, außen und innen. Ob in diesem pompösen Neubau oder in der schlichten Fabrikhalle in Kirjat Jam und Akko oder in einem großen Wohnzimmer in Jerusalem, immer hatte ich den Eindruck, in eine Versammlung nordamerikanischer Fundamentalisten geraten zu sein.

Die erste Stunde bestand aus "worshiping", endlosen Gesängen inhaltsleerer Texte, von einer kleinen Band musikalisch begleitet. Der einzige Unterschied zu den USA war, dass auf Hebräisch gesungen wurde. Ekstatische Rufe, Gesten und Tänze einzelner begleiteten das worshiping ebenso wie das Schwingen von Fahnen und Reigentänze nicht mehr ganz junger barfüßiger Damen in fast durchsichtigen Gewändern. Später erzählten Einzelne von ihren spirituellen Erfahrungen. Freie Gebete und Segnungen mit Handauflegung schlossen sich an. Die Predigt war selten textbezogen und oft eher ein Vortrag über religiöse Inhalte: Einmal wurde ich Zeuge einer flammenden Anklage der israelischen Gesellschaft wegen ihrer liberalen Abtreibungspraxis. Ein anderes Mal predigte der Gemeindegründer über die Liebe, erzählte über vierzig Minuten von seiner über vierzig Jahre währenden glücklichen Ehe, und er zeigte Lichtbilder von sich und seiner attraktiven jungen Frau als Hippies in einer Landkommune in Kalifornien.

Ohne jüdische Sozialisierung

Dass diese Messianischen Juden Juden sind, wird daran deutlich, dass sie irgendwo eine Menora aufgestellt, vielleicht auch die Namen der zwölf Stämme samt ihrer Symbole ausgestellt haben und hin und wieder den Shofar blasen. Und natürlich haben sie auch eine Torarolle in einem Schrank, aus der aber nicht in jedem Gottesdienst vorgelesen wird. Das alles kann man aber auch in christlichen Gemeinden in Deutschland finden, die eine besondere Liebe zum Judentum entwickelt haben.

Die Zusammensetzung der Gemeinden wird schon daran deutlich, dass sie meist dreisprachig sind. Neben Hebräisch wird Englisch und Russisch gesprochen - in wohlhabenden Gemeinden mit Synchronübersetzungen. Ganz selten findet man echte Israeli. Ein Teil kommt aus den USA oder aus Kanada und ist meist schon als "Jude für Jesus" eingewandert. Der andere Teil sind Russen oder Ostmitteleuropäer, meist Frauen zwischen vierzig und sechzig. Sie wurden zwar über das jüdische Ticket israelische Staatsbürger, waren aber ohne jüdische Sozialisierung aufgewachsen. Wie die russischen Juden in Deutschland kommen sie oft als religiöse Analphabeten ins Land. Hat die russische Seele eine größere Affinität zum Christentum und seiner Spiritualität als zum Judentum? Viele von diesen "Juden aus Russland" landen jedenfalls in den verschiedenen orthodoxen oder katholischen Kirchen Israels.

Unter den Amerikanern begegneten mir bei aller Vielfalt ähnliche Biographien. In den USA säkular oder christlich-liberal aufgewachsen, trafen sie irgendwann evangelikale Christen, bekehrten sich, wurden "gläubig", ließen sich taufen und wurden Mitglieder einer evangelikalen Gemeinde. Später entdecken sie ihre jüdische Herkunft und gewichteten sie neu. Sie schlossen sich mit Menschen ähnlicher Biographie als "Juden für Jesus" zusammen. Dann wanderten sie nach Israel aus, verschwiegen bei der Einreise ihre christliche Identität, um israelische Staatsbürger werden zu können, und gründeten mit Gleichgesinnten messianisch-jüdische Gemeinden, die missionieren. Und die Mission ist vor allem unter den Einwanderern aus Russland erfolgreich.

Wie in Deutschland betreiben diese Messianischen Juden eine umfangreiche Sozialarbeit vor allem für Neueinwanderer. Altkleider- und Lebensmittelpakete werden verschenkt. Hilfen bei Behördengängen gehören ebenso dazu wie Dolmetschen und eine Schwangerenberatung mit dem Ziel, Abtreibungen zu verhindern. Ist das eine "Mission mit unlauteren Mitteln", die in Israel verboten ist? Die messianischen Gemeinden bemühen sich, dieses Gesetz nicht zu verletzen.

Irreführendes Etikett

Die römisch-katholische Kirche hat in Israel Gemeinden Hebräisch sprechender Mitglieder. Wer Jude ist und an den Messias Jesus glaubt, wird Mitglied dieser Gemeinschaft. Aber für Rom sind Messianische Juden Judenchristen, nämlich Hebräisch sprechende Katholiken.

Und wer als Jude das Christentum in seiner evangelikalen Spielart kennenlernt, wird evangelikaler Christ. Evangelikale Gemeinden sind unabhängig. Sie können sich anders als erwähnte römisch-katholische "messianisch" nennen. Aber sie bleiben nicht jüdischer als hebräisch sprechende Katholiken oder Orthodoxe.

"Messianische Juden" ist ein irreführendes Etikett. Denn "gläubig" zu sein ist ihnen wichtiger als jüdisch zu sein. Und "gläubig" meint, ein persönliches Verhältnis zu Jesus zu haben, wiedergeboren, bekehrt zu sein.

Evangelikale aus Deutschland oder den Niederlanden, mit denen ich bei meiner Arbeit viel zu tun habe, empfinden zu diesen Gemeinden und ihren Gottesdiensten eine besondere Liebe, weil sie sich dort zuhause fühlen. Die ihnen vertrauten US-Songs auf Hebräisch zu singen, hat einen reizvollen Verfremdungseffekt und fördert die Sprachkenntnisse. Für diese Evangelikalen handelt es sich um Hebräisch sprechende evangelikale Mitchristen. Mit dem Begriff "Messianische Juden" können sie dagegen oft nichts anfangen. Nichtjüdische evangelikale Christen aus Europa oder Amerika können dort auch formell Mitglieder werden. Das zeigt ebenfalls, dass messianische Gemeinden in Wahrheit judenchristliche Gemeinden mit nichtjüdischer Minderheit sind.

Gefühl der Überlegenheit

Dass die Identität der Messianischen Juden als "Gläubige" stärker ist als ihre jüdische Identität, zeigen auch ihre wachsenden Kontakte und Kooperationen mit anderen "Gläubigen" im Land, evangelikalen Palästinensern. Auf der evangelikalen palästinensischen Konferenz "Christus am Kontrollpunkt" hießen sie schlicht "die messianischen Christen". Auch institutionell haben sich palästinensische Evangelikale mit Messianischen Juden zusammengeschlossen, zum Beispiel zu "Musalaha - Dienst der Versöhnung". Dort leisten sie einerseits eine bewundernswerte politische Versöhnungsarbeit zwischen Juden und Palästinensern. Aber andererseits betreiben sie eine offensive Mission unter Juden.

In der Vergangenheit war Judenmission Ausdruck des Überlegenheitsgefühls der Christen gewesen, nach dem Motto: "Wir wissen mehr als die Juden, wir wissen es besser. Wir kennen ihren Messias. Deshalb haben wir die Aufgabe, Juden zu belehren, zu bekehren, zu Christen zu machen."

Schlimme Beispiele für dieses Überlegenheitsgefühl finden sich auch bei Messianischen Juden in Israel. Da macht sich der Prediger in der Messianisch-Jüdischen Gemeinde über die Bräuche am Sederabend lustig, bei der Juden für jede Speise auf dem Sederteller eine Geschichte erzählen. Die wahre Bedeutung dieser Speisen bleibe ihnen verborgen, der Hinweis auf die fünf Kreuzeswunden am Leib Jesu - meint der Prediger. Und ein anderer versteigt sich in Anspielung auf die Trockenlegung der Sümpfe Palästinas durch die Zionisten zu der Aufforderung, den "Sumpf Israel", das nicht an seinen Messias glaube, durch Mission trocken zu legen.

Die gleiche Arroganz kommt auch in den Namen zum Ausdruck, die sich manche messianischen Gemeinden in Israel gegeben haben. Die "Ernte Aschers" heißt sie in Akko, das mitten im Gebiet des biblischen Stammes Ascher liegt. Vollmundig beanspruchen sie für sich, als Messianische Juden die Ernte zu sein. Jesus hatte das Gottesreich, um dessen Kommen zu bitten er lehrte, bescheiden mit der Saat verglichen.

Das "Haus des Elia" nennt sich die Gemeinde auf dem Karmel in Haifa und grenzt sich so von den übrigen Juden ab, die in ihren Augen offensichtlich ihre Knie vor Baal beugen.

Messianische Juden? Unter den rund fünfzig Gemeinden in Israel habe ich eine einzige, kleine gefunden, die vielleicht am ehesten diesen Namen rechtfertigt. Hier trugen die Männer Kippa, und man durfte nicht fotografieren. Der Gottesdienst folgte dem Sidur, dem jüdischen Gebetbuch. Die Tora wurde ausgehoben, umhergetragen und geküsst. Gelesen wurden die Wochenabschnitte aus der Tora, die Haftara und ein Abschnitt aus dem Neuen Testament. Und aus dem Sidur wurde gebetet mit der Schlussformel: "Das bitten wir im Namen des Messias Jeschua".

Ich habe persönliche Erfahrungen beschrieben ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Darum bleibe ich dem Phänomen weiter auf der Spur - in der Hoffnung, in Israel neben der Masse der Hebräisch sprechenden Evangelikalen den einen oder anderen Messianischen Juden zu finden.

Literatur

Rainer Stuhlmann: Zwischen den Stühlen. Alltagsnotizen eines Christen in Israel und Palästina. Verlag Neukirchener Aussaat, Neukirchen-Vluyn 2015, 160 Seiten, Euro 12,99.

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