Wir sind eins

Hilfe für die, die nicht fliehen können
Diese Gewalt von Terroristen zu stoppen, ist eine humanitäre Verpflichtung - ebenso wie die Aufnahme von Menschen, die vor ihr fliehen.

Europa befindet sich im Ausnahmezustand. Mit den Attentaten vom 13. November hat der Terror, den der so genannte Islamische Staat (IS) ausübt, unseren Kontinent erneut erreicht. Wir können nun wissen, wovor diejenigen fliehen, die den Nahen Osten verlassen. Stattdessen werden die Flüchtlinge verantwortlich gemacht für das, wovor sie fliehen. Denn das geschieht, wenn die Terrorgefahr in Europa mit der Zuflucht aus dem Nahen Osten in Verbindung gebracht wird. Das ist beschämend. Widerspruch ist angesagt; Christen und die Kirchen müssen ihre Stimme erheben.

Aber auch von den Fluchtursachen muss geredet werden. Das geschieht zu wenig. Die Aufmerksamkeit ist ganz auf die Flüchtlingsbewegung konzentriert, eine angebliche Völkerwanderung. Dieser Vergleich trifft nicht zu. Die letzten verfügbaren Zahlen aus Syrien sprechen davon, dass den vier Millionen Syrern, die das Land verlassen haben, 7,6 Millionen Binnenflüchtlinge gegenüberstehen, Menschen also, die im eigenen Land auf der Flucht sind. Nicht gesprochen wird dabei von denen, die im eigenen Land von Bürgerkriegsgruppen oder vom IS gefangen genommen wurden. Sie haben keine Chance zu fliehen.

Ein bedrückendes Beispiel sind die assyrischen Christen aus dem Khabur-Tal, die im Februar 2015 vom IS als Geiseln genommen wurden. Deutlich zeigt sich daran die Brutalität, mit welcher der Terror nicht nur kulturelle Zeugnisse zerstört, die als unislamisch angesehen werden, sondern auch Menschen vernichten will, die Zeugen einer ungebrochenen christlichen Tradition im Nahen Osten sind. Drei dieser Gefangenen wurden vom IS vor laufender Kamera hingerichtet, auch die anderen sind vom Tod bedroht. Dass 180 dieser Geiseln zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Kommentars noch am Leben waren, verdankten sie am ehesten der Tatsache, dass der IS Lösegelder erpressen will. Wird jemand sie zahlen? Und was folgt darauf?

Christliche Führer in Syrien deuten schon an, diese Christen seien dazu bestimmt, Märtyrer zu werden. Mir stockt bei diesem Gedanken der Atem. Als Christen können wir das Lebenszeugnis von Menschen, die um ihres Glaubens willen ihr Leben lassen mussten, im Nachhinein als Martyrium bezeichnen. Aber wir können nicht tatenlos zusehen, dass sie dem Tod geweiht sind, und diesem schon im Vorhinein den Sinn eines Martyriums zuschreiben. Deshalb kann die christliche Gemeinschaft zum Schicksal der bedrängten und bedrohten Christen im Nahen Osten nicht schweigen. Sie muss sich schützend vor die assyrischen Christen aus dem Khabur-Tal stellen. Sie kann sich der Frage nicht entziehen, wie dem Terror des IS in Syrien und im Irak, an dem sich Dschihadisten aus Europa beteiligen, ein Ende gesetzt werden kann. Diese Gewalt zu stoppen, ist eine humanitäre Verpflichtung - ebenso wie die Aufnahme von Menschen, die vor ihr fliehen. Solidarität brauchen auch die, die nicht fliehen können. Der Kampf gegen die Fluchtursachen bleibt so wichtig wie die Zuwendung zu denen, die dem Grauen entkommen konnten. Auch hier gilt: Nous sommes unis, wir sind eins!

Wolfgang Huber war Bischof in Berlin und Ratsvorsitzender der EKD. Er ist Herausgeber von zeitzeichen.

Wolfgang Huber

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