Joseph, der erste Christ

In der Hamburger Staatsoper wird das Weihnachtsoratorium getanzt
Begeisterung, Kraft, Eleganz – John Neumeiers Ballett des Weihnachtsoratoriums, Hamburg 2014. Foto: Holger Badekow
Begeisterung, Kraft, Eleganz – John Neumeiers Ballett des Weihnachtsoratoriums, Hamburg 2014. Foto: Holger Badekow
Es war die Sensation der vergangenen Tanzsaison und steht auch in diesem Dezember wieder auf dem Spielplan: Die Tanzfassung sämtlicher Teile des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach an der Hamburger Staatsoper, die inzwischen als Film erschienen ist. John Neumeier, der Leiter des Hamburger Balletts und weltberühmte Impressario, schreibt über seine Inszenierung.

In meinem Gesamtwerk nimmt das Ballett über Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium eine einzigartige Stellung ein: 2007 auf der Grundlage der Teile I-III entstanden, nahm ich es 2013 erneut vor und überführte es in ein Gesamtkonzept, das als "Weihnachtsoratorium I-VI" sämtliche Teile der Vorlage einschließt. Fasziniert und bewegt von der großartigen Musik des einstigen Thomaskantors, hatte ich mich 2007 entschieden, das Weihnachtsoratorium zu choreografieren. Bei Gesprächen im Vorfeld mit dem Dirigenten Alessandro De Marchi, habe ich verschiedene Varianten diskutiert. Interessanterweise stand es zu keinem Zeitpunkt zur Debatte, alle Teile des Bach'schen Oratoriums auf die Bühne zu bringen, sondern nur die Teile I-III. Ich hatte großen Respekt vor der Musik Bachs, und für mich war es daher besonders wichtig, auf keinen Fall einzelne Musikstücke zu streichen.

In jedem Fall betrachtete ich "Weihnachtsoratorium I-III" als ein in sich abgeschlossenes Ballett. Erst im Nachhinein hatte ich das Gefühl, dass eine Erweiterung auf alle sechs Teile insbesondere auch der inneren Struktur von Bachs Oratorium gerecht würde. Auch Bedenken wegen der zeitlichen Ausdehnung erwiesen sich als unerheblich: Das "Weihnachtsoratorium I-VI" ist in etwa so lang wie meine großen Handlungsballette "Romeo und Julia" oder "Illusionen - wie Schwanensee".

Seit Jahrzehnten konzipiere ich Ballette zu christlichen Themen. Eine grundlegend wichtige Erfahrung war die "Matthäus-Passion", die ich 1981 kreierte und die mich in der Folgezeit auch als Tänzer intensiv begleitete. In dieser Choreografie habe ich erstmals ein Requisit entwickelt, das mich bis heute begleitet: das weiße Hemd als Christus-Symbol. Dieses Hemd macht Christus gerade wegen seiner Abstraktion auf vielfältige Weise zugänglich: für die Tänzer, jeder einzelne kann eine Beziehung zu ihm aufbauen, das Hemd sogar anziehen, aber auch für die Zuschauer, die mit der Frage konfrontiert werden, wie sie selber auf die dargestellte Situation reagieren würden.

Mir ist es wichtig, dass meine Ballette zu sakraler Musik nicht als eine Art Ersatzgottesdienst missverstanden werden. Ich will mit meiner Choreografie Bewegungen generieren, die einer inspirierten, uns noch heute berührenden Musik entsprungen sind. Wir bringen Bachs Musik in einen Theaterraum der Menschen, die kulturell und religiös unterschiedlich geprägt sind, für ein paar Stunden als Zuschauer vereint. Für mich geht es immer um menschliche Werte. Das ist auch der Grund, dass in meinem Ballett Maria als die Mutter bezeichnet wird und Joseph als ihr Mann.

Bei der Kreation des Balletts habe ich mich der Figur des Joseph erst nach und nach angenähert und sie gleichsam kennengelernt. Ich hatte den Anspruch, ihn als Mensch glaubwürdig auf die Bühne zu bringen und nicht nur als heilige Krippenfigur auszustellen. Die Weihnachtsgeschichte ist aus der Perspektive dieser Figur alles andere als einfach zu meistern: Seine junge Frau ist schwanger - und das Kind nicht von ihm. Nach dem jüdischen Gesetz hätte er sie verlassen können, und sie wäre dann gesteinigt worden. In dieser Situation innerer Unsicherheit verstehe ich die Worte des Chorals "Wie soll ich dich empfangen" als eine Frage, die Joseph in Gedanken an Maria richtet. Tatsächlich ist es in Bachs Oratorium üblich, in den Chorälen die Perspektive der Gemeinde darzustellen. In meinem Ballett erhält dieser erste Choral nun zusätzlich die Funktion, Joseph in das Zentrum des Geschehens hineinzunehmen.

Aus dem Matthäus-Evangelium wissen wir, dass Joseph im Traum ein Engel erschien und ihm versichert, Maria sei unschuldig und werde die Mutter Gottes sein. Daran anknüpfend habe ich in meiner Choreografie für die Arie "Großer Herr, O starker König" einen Engel erfunden, der Joseph die Kraft vermittelt, seinen Weg mit Maria weiterzugehen. Glauben bedeutet, auf etwas zu vertrauen, das man nicht beweisen und verstehen kann. Joseph ist für mich der erste Gläubige und als bedingungslos Liebender vielleicht sogar der erste Christ. Dem inneren Aufbruch, der Joseph abverlangt wird, entspricht das äußerliche Geschehen, das durch das Registrierungsgebot des Kaisers Augustus ausgelöst wird. Lukas schreibt, dass "alle Welt sich schätzen" lassen musste, und zwar am jeweiligen Geburtsort. Meiner Ansicht nach macht gerade diese Aufbruchsstimmung Menschen empfänglich für die Weihnachtsbotschaft. Gott erscheint auf Wanderschaft, außerhalb vertrauter Zusammenhänge.

Zeichen der Hoffnung

In der so genannten Hirtensinfonie habe ich das auf eine Gruppe von Menschen übertragen, die sich - wohin auch immer - mit dem Nötigsten aufmacht. Wenn damals wirklich "alle Welt" unterwegs war, so müssen wir von unruhigen Zeiten ausgehen. Die äußere Unruhe entspricht einer inneren Aufgeregtheit: Wohin gelangt man, wo liegt das Ziel der Reise? Es ist frappierend, auf welch unverhoffte Weise die Wanderungsbewegungen der vergangenen Monate quer durch Europa dieser Dimension des Weihnachtsgeschehens neue Aktualität verschafft haben. Letztlich bestätigt diese gesellschaftspolitische Konstellation aber nur die Grundbedingung der Weihnachtsgeschichte, die sich - verstärkt durch die mitreißende Musik - auch in Bachs Oratorium wiederfindet: Die Geburt Jesu ist ein Zeichen der Hoffnung in einer dunklen Zeit, keine vollendete Erlösung.

Mein Ballett erschöpft sich nicht in einer Illustration der Weihnachtsgeschichte, wie sie in Bachs Oratorium erzählt wird. Schon die Musikvorlage erweist sich bei näherem Hinsehen als ein komplexes Kunstwerk, das sich aufgrund seiner Struktur besonders gut für den Tanz eignet. Es gibt Texte, die in der Form des musikalischen Sprechens als Rezitativ vertont sind. In musikalisch aufwendiger Form wird über das Geschehen nachgedacht oder meditiert. Und schließlich gibt es eine dritte Textsorte, in der der Betrachter des Oratoriums über sich selbst nachdenkt, und der Frage nachgeht, was das Werk mit ihm selbst zu tun hat.

Um diese Reflexionsebene anzudeuten und eine Brücke in die heutige Zeit zu schlagen, habe ich für mein Ballett eine Figur erfunden, die nicht zum traditionellen Figurenkreis der Weihnachtsgeschichte gehört. Es ist ein ärmlich gekleideter Mann, der mit seinem kleinen Weihnachtsbaum aus Plastik entschieden die Idee von Weihnachten gegen die Betriebsamkeit seiner Umgebung verteidigt. Dieser Mann ist ein Spiegel unserer Gesellschaft und in seiner unbedingten Haltung zugleich eine Figur, die an Christus denken lässt.

Tendenz zum Geheimnisvollen

Bei der Kreation meines Balletts hat mich von Beginn an beschäftigt, auf welche Weise ich die besondere Textstruktur des Oratoriums in die Choreografie einbeziehe. Zahlreiche Texte tendieren zum Geheimnisvollen und sind weit davon entfernt, einen eindeutigen Inhalt zu vermitteln.

Als ich das Projekt 2007 in Angriff nahm, habe ich mit der Arie "Bereite dich, Zion" begonnen. Auf der Handlungsebene der Weihnachtsgeschichte hat das Stück seinen Platz vor der Geburt des Kindes; es hat mit einer werdenden Mutter zu tun. Die biblische Idee, der Arientext und die Musik in ihrer besonderen Instrumentierung brachten mich dazu, verschiedene Erregungszustände zu unterscheiden und sie durch eine Aufspaltung von Marias Ich darzustellen: Zu der Solistin tritt eine Begleitgruppe, die auch Männer einschließt. Diese Gruppe ist wie ein Echo zu dem, was gesungen wird und wie die Haupttänzerin agiert. Sie füllt gewissermaßen eine Gefühlslage aus, die so übermächtig ist, dass ein einzelner Mensch sie nicht allein in sich aufnehmen kann.

Diese Idee habe ich im Anschluss auf das gesamte Ballett übertragen. Das Ensemble verkörpert den Geist oder die Emotion der Musik. In Soloszenen wie der schon erwähnten Arie "Großer Herr, o starker König" tritt die Gruppe als verstärkendes Element auf: Die Kraft, die der Engel Joseph zuspricht, wird durch mehrere Tänzer dargestellt und dadurch gleichsam vervielfältigt. Aber auch die großen Ensembles wie der mitreißende Eingangschor "Jauchzet, frohlocket" sind durch die in Tanz übertragenen Gefühlswelten bestimmt. Die Bedeutung der Choreografie kann auch ich nicht in Worte fassen.

Insofern ist mein "Weihnachtsoratorium I-VI" kein Handlungsballett, sondern vielmehr eine Choreografie, die hochgradig interpretationsbedürftig ist. Jeder Zuschauer hat die Freiheit - und er ist geradezu dazu aufgefordert -, aus den bewegten Tanzbildern seine eigene Lesart zu entwickeln. Was er als Kern des Balletts ausmacht, wird wesentlich von seiner kulturellen und religiösen Prägung bestimmt. Meine Choreografie indes orientiert sich an menschlichen Werten, die christlich interpretierbar sind, ohne dies zwingend vorzugeben.

Informationen

Das Ballett "Weihnachtsoratorium I-VI" von John Neumeier wird am 19., 26., 28. und 30. Dezember 2015 in der Hamburger Staatsoper aufgeführt. Das Werk ist als DVD im Handel erhältlich.

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