Ausnahme

Castellio: Gegenspieler Calvins
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Für Castellio dagegen waren vermeintliche Gewissheiten die Ursache vieler Übel seiner Zeit

Professor Mirjam van Veen, Kirchenhistorikerin an der Freien Universität Amsterdam, stellt in dieser im Castellio-Gedenkjahr 2015 in deutscher Übersetzung erschienenen sehr lesenswerten Biographie den französischen protestantischen Humanisten Sebastian Castellio (1515-1563) vor. Er wurde zum Gegenspieler des Reformators Johannes Calvin, durch den er für die reformatorische Botschaft gewonnen wurde und mit dem er 1541 von Straßburg nach Genf zog. "Castellios Plädoyers gegen die Verfolgungen und für die Toleranz machten ihn zu einer bemerkenswerten Ausnahmeerscheinung im damaligen Europa." Er war nicht der einzige, aber der reflektierteste und leidenschaftlichste Verfechter religiöser Toleranz seiner Zeit. Es ging um den Umgang mit so genannten Ketzern (Häretikern), insbesondere den Dissidenten innerhalb des Protestantismus. "Castellio war in seiner Ablehnung von Glaubenszwang und Verfolgung konsequenter als die meisten anderen, die ähnlich dachten wie er."

1545 musste er Genf verlassen, weil Calvin keine Kritik vertrug und Gefolgsleute um sich scharte. In Basel wurde er 1553 Professor für Griechisch an der Universität, war dort aber bis zu seinem frühen Tod vor den Nachstellungen seiner mächtigen calvinistischen Gegner nicht sicher. Mehrmals hatte er, der mit dem Täufer David Joris befreundet war (wie die Autorin betont), sich gegen den Vorwurf der Häresie zu wehren. Vorgeworfen wurde ihm etwa sein Nein zu Calvins Lehre von der doppelten Prädestination. Auch nach Castellio ist der Mensch von Gottes Gnade abhängig. Diese gelte allen Menschen. Man sei aber frei, sie anzunehmen oder abzulehnen. Dem kompetenten Bibelübersetzer wurde sein freierer Umgang mit der Bibel angekreidet. Die Heilige Schrift, die er in einfaches Französisch und in kunstvolles Latein übersetzte, ist für ihn dem Sinn nach inspiriert. Der Wortlaut aber sei zuweilen dunkel oder durch Abschreibefehler verdorben. Damit geriet die reformatorische Parole "Allein die Heilige Schrift" in Gefahr. Castellio vertrat ein ethisches Christentum und verwarf schon von daher Gewalt gegen Andersdenkende und Andersgläubige. Wie die Autorin zeigt, war er auch in seiner Lebensführung von hohen ethischen Maßstäben geleitet. Nach seiner Bibelhermeneutik kann man den tieferen Sinn der Bibeltexte nur dann recht erfassen, wenn man vom Heiligen Geist erneuert ist. Ein mit Gott verbundener Christ könne sich nicht mit Mitchristen rechthaberisch und bis zur Gewaltanwendung streiten. Castellio hegte für sich keinen absoluten Wahrheitsanspruch. Bescheiden und selbstkritisch konnte er nach einem theologischen Gedankenaustausch sagen: "Aber vielleicht irre ich mich auch vollkommen."

Der Sündenfall der Reformation war für Castellio die schauerliche Hinrichtung des Antitrinitariers Michael Servet 1553 im protestantischen Genf. Hier zeigte sich für ihn, wie Macht korrumpieren kann. Berühmt ist sein (2013 unter dem Titel "Manifest der Toleranz" veröffentlichter) Traktat "Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll" von 1554. Castellio argumentiert mit Bibel und Vernunft. Die Autorin findet in seinem Ja zum Recht des Zweifelns ein starkes Motiv für die Toleranz: Für die meisten Zeitgenossen waren "Glaubenswahrheiten ein Mittel zur Überwindung des Chaos. Für Castellio dagegen waren gerade vermeintliche Gewissheiten die Ursache vieler Übel seiner Zeit - und der Zweifel das Heilmittel. [...] Der Zweifel eröffnete die Möglichkeit zum Dialog."

Mirjam van Veen: Die Freiheit des Denkens. Alcorde-Verlag, Essen 2015. 351 Seiten, Euro 32,-.

Andreas Rössler

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