Rätsel Jerusalem

Ein Besuch im Frühling
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"Ein Brot ist Jerusalem, ein hartes Brot gebacken nach uraltem Rezept, gewürzt mit Geschichten, Geheimnissen und Prophetien."

Jerusalem eine Stadt? Der Berliner Journalist und Autor Wolfgang Büscher bevorzugt ausdrucksstarke Bilder: "Ein Brot ist Jerusalem, ein hartes Brot gebacken nach uraltem Rezept, gewürzt mit Geschichten, Geheimnissen und Prophetien." Sicher, mit bloßer Einwohnerzahl und Koordinaten kommt man Jerusalem nicht näher. Eine jüdische Siedlerin im langen schwarzen Rock und schwarzem Kopftuch, mitten im christlichen Viertel in St. Johann unweit der Grabeskirche, antwortet auf die Frage, warum sie hier sei: "Weil es Jerusalem ist." Dieselbe Antwort bekommt er von Charly Effendy, einem armenischen Intellektuellen, der seit seiner Geburt vor sechzig Jahren in Jerusalem lebt. Deshalb reist Büscher nicht die Sehenswürdigkeiten ab, er will vielmehr die Stadt verstehen. Zwei Monate hat sich der Berliner in Jerusalem niedergelassen, hat sich seinen Weg durch die Basare gebahnt, hat Kirchen besichtigt, Menschen getroffen, sich vorbei an Heerscharen von Pilgern gedrängt. Und er verbringt eine Nacht in der Grabeskirche, in die er sich einschließen lässt. Seine Begegnungen, Beobachtungen und Eindrücke hat er in einem eindrucksvollen Reisebericht festgehalten.

Wolfgang Büschers Wege führen in die Altstadt, die er nur selten verlässt, in den Quadratkilometer hochkonzentrierte Geschichte, Geschichten und Schicksale. Sie sind es, die ihn faszinieren, die er sucht und aufschreibt.

Unterkunft findet Wolfgang Büscher nach seiner Ankunft zunächst in einer alten Steinkammer in einem Hostel am Jaffator, später wechselt er das Quartier und zieht in ein kleines Haus in einem griechisch-orthodoxen Konvent im christlichen Viertel. Er verbringt den größten Teil seiner Zeit nicht am Schreibtisch, sondern im intensiven Gespräch und Austausch mit Freunden und Einheimischen in Kneipen, Kaffeehäusern und auf Plätzen oder bei langen Streifzügen durch enge Gassen der Altstadt.

Und so wandert er zwischen den vier geteilten Vierteln der Altstadt, dem größten muslimischen, dem christlichen, dem jüdischen und dem kleinsten, dem armenischen. Überall dort trifft er seine Gewährsmänner und –frauen, die ihm die Stadt erklären. Er spricht mit einem Rabbi, ebenso wie mit Holocaust-Überlebenden, einem arabischen Hotelier, den Frauen Ada, Dina und Nora und Orthodoxen.

Da ist der Armenier, den er Charly Effendi nennt. "Jerusalem ist dabei ein religiöses Disneyland zu werden mit ein paar letzten hier lebenden Christen als Darstellern und traurigen Clowns", sagt dieser. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei die Altstadt christlich geprägt gewesen. Heute gingen die Söhne und Töchter der Armenier, Orthodoxen, Katholiken und anderer Christen nach Amerika und Europa. Sie sehen für sich in Jerusalem keine Zukunft. Und während sie die Stadt verlassen, drängen fundamentalistische jüdische Siedler in die Häuser. All das teilt Wolfgang Büscher seinen Lesenden mit. Er wertet nicht, er beschreibt vielmehr die Menschen in kleinen Porträts, die Geschichten ihrer Familie, in denen sich gleichzeitig die Geschichte der Stadt offenbart.

Damit lässt er den Leser auf dezente, doch gerade darum eindringliche Weise teilhaben an einem Erfahrungshorizont, der sich selbst für erfahrene Jerusalembesucher nicht selbst erschließt. Einer Stadt, die das Faszinosum der Schnittstelle von drei Weltreligionen birgt: "Und das war es, das ganze Geheimnis, ich begriff es in diesem Moment an der Ecke Al Wad Street/Via Dolorosa - die hohe Kunst des Aneinandervorbeigehens, die schöne Jerusalemer Ignoranz. Während Amerika und Europa der Utopie der Verschmelzung nachhingen, bewies sie vor meinen Augen ihre friedensstiftende Macht." Natürlich weiß auch er um die Fragilität dieses Friedens.

Grabeskirche, Klagemauer, Tempelberg - seine Wege führen ihn immer wieder an diese Pole seiner Wanderungen, "Jerusalems heiligste, entzündlichste Stellen". Und dann folgt wieder eines seiner wirkmächtigen Bilder. "Wäre Jerusalem eine Bombe, der Tempelberg wäre ihr Zünder."

Wolfgang Büscher: Ein Frühling in Jerusalem. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014, 233 Seiten, Euro 19,95.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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