Normative Textsorte

EKD-Denkschrift: Herausforderungen für den Religionsunterricht
Der Religionsunterricht soll religiöse Sprach- und Orientierungsfähigkeit vermitteln. Foto: epd/ Thomas Rohnke
Der Religionsunterricht soll religiöse Sprach- und Orientierungsfähigkeit vermitteln. Foto: epd/ Thomas Rohnke
Zwanzig Jahre nach der EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht "Identität und Verständigung" ist vor einigen Monaten die neue Denkschrift "Religiöse Orientierung gewinnen" erschienen. Sie will sich der aktuellen Herausforderung des Religionsunterrichts stellen und sucht konzeptionelle Antworten. Henning Schluß, Professor für Bildungsforschung und Bildungstheorie an der Universität Wien, bewertet die EKD-Schrift.

Dass in der neuen EKD-Denkschrift "Religiöse Orientierung gewinnen" von der aktuellen Herausforderung im Singular die Rede ist, mag angesichts der Vielzahl der Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die gegenwärtig in Bezug auf den Religionsunterricht anstehen, verwundern; es entspricht jedoch genau dem Programm der Denkschrift, die "das Problem religiös-weltanschaulicher Vielfalt auf die Tagesordnung" nicht nur der Schule, sondern insbesondere auf die des Religionsunterrichtes setzt.

Die Autoren haben sich dafür entschieden, die Herausforderung durch die Vielfalt der Religionen als Perspektive auf den Religionsunterricht (RU) für die Denkschrift auszuwählen. Damit haben sie eine Akzentuierung vorgenommen, der der Rat der EKD gefolgt ist. Die Denkschrift "Identität und Verständigung", fünf Jahre nach der friedlichen Revolution verfasst, äußerte sich zwar zentral zur Pluralität der Gesellschaft, sah jedoch eine Mehrzahl an Herausforderungen, denen sich der Religionsunterricht stellen musste. Die neuen 128 Seiten werden so genutzt, dass man "mit dem Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit klarer herausarbeitet, was religiöse Bildung im Sinne einer der Unterstützung von Toleranz und Frieden verpflichteten gesellschaftlichen Verantwortung gerade auch angesichts gesellschaftlicher Konflikte bedeutet". Der Gattung der Denkschrift entsprechend geschieht das zwar mit Bezugnahme auf wissenschaftliche Erkenntnisse, aber nicht als wissenschaftlicher Text. Vielmehr handelt es sich um eine normative Textsorte, die auf die Verwendung von Modalverben wie "müssen" und "sollen" hinausläuft. Die gewählte Form steht somit in einer eigentümlichen Spannung zum Inhalt, der ja gerade immer wieder ein "dialogisches Verhältnis" als Ziel beschreibt.

Die Denkschrift begründet ihre Schlussfolgerungen ausführlich, doch verleitet diese Ausführlichkeit einer zentralen Perspektive zu erheblichen Redundanzen, die das Lesen mühsam machen und vor allem wesentliche Pointen eher verstecken als herausarbeiten, weil sie im oft Wiederholten unterzugehen drohen.

Neben vielem fraglos zu Unterstützenden und Wichtigen seien ein paar wesentliche inhaltliche Aspekte der Denkschrift herausgehoben. Immer wieder wird betont, dass Pluralitätsfähigkeit der Erarbeitung von Gemeinsamkeiten und Differenzen bedarf. Damit folgt man im Prinzip noch der Argumentation der vorherigen Denkschrift, justiert jedoch an einer Stelle bewusst neu. Schon vor zwanzig Jahren konnte man ein Bewusstsein dafür entdecken, dass Identität - auch als religiöse Zuordnung - nichts ist, was wir wie die Augenfarbe erben, sondern etwas, das wir im Laufe unseres Lebens erwerben. Die alte Denkschrift wurde diesbezüglich oft missverstanden. Gleichwohl greift diese Dialektik von Identität und Verständigung auf ein Konzept zurück, welches meint, dass erst die Identität errungen werden müsste, um sich sodann mit den anderen verständigen zu können. Die neue Denkschrift formuliert hier mit dankenswerter Klarheit: "Heute begegnen Kinder von früh auf, spätestens im Kindergarten, anderen Kindern mit einer anderen Religionszugehörigkeit oder auch ohne eine solche Zugehörigkeit. Es wäre wenig sinnvoll, sie bei den daraus erwachsenden Fragen auf eine spätere Zeit zu verweisen. Deshalb gibt es keine Alternative dazu, beide Aufgaben zugleich wahrzunehmen, die Unterstützung von religiöser Identitätsbildung und von Pluralitätsfähigkeit. Identität und Verständigung bezeichnen einen Prozess, der als Zusammenhang wahrgenommen werden muss."

Diese Aufgabe der Verständigung wird in der Denkschrift nicht nur in Kauf genommen, sondern bewusst entfaltet. Immer wieder werden Kooperationen gefordert, nicht nur die zwischen den christlichen Konfessionen, sondern auch solche mit dem Islamischen Religionsunterricht. Konfessionelle Kooperationen sollen nicht dahinter zurückstehen, aber die Fragen werden benannt, welche angesichts der Thematisierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Religionen noch eine Bedeutung für die Differenzen zwischen den Konfessionen haben. Deutlich ist: Diese Denkschrift hält klar am Modell des konfessionellen Religionsunterrichts fest.

Nötige Kooperationen

Zugleich aber präferiert sie Konzepte konfessioneller Zusammenarbeit. Es wird in der Denkschrift aber auch deutlich, dass nicht alle Modelle konfessioneller Zusammenarbeit als gleichwertig angesehen werden. Dem Hamburger Modell des "Religionsunterrichts für alle" aus evangelischer Verantwortung heraus ist ein ausführlicher Punkt gewidmet, in dem dessen Zukunftsfähigkeit bezweifelt wird. Die Möglichkeit des föderalen Systems der Bundesrepublik, insbesondere im Bildungsbereich auf die spezifischen Situationen abgestimmte (religions-)pädagogische Modelle zu entwickeln, wird damit zugunsten der Präferenz für die auf dem "Ordentlichen Unterrichtsfach" aufruhenden Konzepte nicht wahrgenommen.

Die Denkschrift klammert die Frage der Konfessionslosigkeit nicht aus. Aber bereits mit ihrer Überschrift trifft sie eine folgenreiche Entscheidung: Konfessionslosigkeit wird nicht als eine Herausforderung des Religionsunterrichts neben religiöser Pluralität gefasst, sondern einzig als ein besonderer Fall von religiöser Pluralität. Wenn aber Konfessionslosigkeit nur als Sonderfall religiöser Pluralität verhandelt wird, hat das Folgen für die Art und Weise ihrer Thematisierung, die sich im Text nachweisen lässt. Konfessionslosigkeit wird dabei dankenswerterweise nicht mit "atheistischen Überzeugungen" gleichgesetzt, die gesondert angesprochen werden.

Gesehen wird, dass insbesondere im Osten Deutschlands die seit Generationen stabile Konfessionslosigkeit nicht mit den aktiven Kirchenaustritten im Westen identisch ist. Auch wenn in der Denkschrift immer wieder thematisiert wird, dass insbesondere im Osten die Mehrheit der Teilnehmer am RU selbst ungetauft ist, ist das vorgeschlagene Rezept doch wieder der Modus der Begegnung zwischen Religions- und Ethikunterricht. "Darüber hinaus wurden besonders in Ostdeutschland kreative Möglichkeiten für pädagogische Angebote entwickelt, bei denen sich christliche und konfessionslose Schülerinnen und Schüler bewusst begegnen und gemeinsam lernen." Dies schreibt die religiöse Identität der Schülerinnen und Schüler auf die Teilnahme am jeweiligen Unterrichtsfach fest, was, wie zuvor ausgeführt wurde, unzutreffend ist.

Die Teilnahme Konfessionsloser am Religionsunterricht mag häufig auf ein Bildungsinteresse zurückgehen. Ebenso ist damit zu rechnen, dass im Ethik-Unterricht Schülerinnen und Schüler anzutreffen sind, die den Unterricht spannender finden als den Religionsunterricht. Vor allem aber vernachlässigt eine solche Sichtweise dann doch wieder, dass die religiöse Identität streng genommen niemals feststeht, schon gar nicht im Schulalter, sondern dass sie sich hier zu allererst entwickelt. Das ist gerade kein Argument gegen die Kooperation der Fächer, aber aus unterschiedlichen Fächern Zuschreibungen zur religiösen Identität abzuleiten, ist verkürzt. Hier wäre es sicher hilfreich gewesen, wenn der Autorenkreis um sachkundige Menschen mit Osterfahrung erweitert worden wäre, denn an dieser Argumentation wird deutlich, dass in der Denkschrift diesbezüglich zwar alle Bausteine vorhanden sind, aber nicht richtig zusammengesetzt werden.

Andernorts wird die veränderte Lage im Vergleich zu vor zwanzig Jahren deutlich beschrieben. "So konnte in 'Identität und Verständigung' noch konstatiert werden: 'Der Religionsunterricht braucht einen breiten öffentlichen Konsens. Es stellt sich die Frage, ob dieser im vereinigten Deutschland und in einer neuen gesellschaftlichen Situation noch gegeben ist'."

Die aktuelle Denkschrift verzichtet allerdings klar auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens und argumentiert, die Tendenz der zurückgehenden Kirchenmitgliedschaft durchaus ernstnehmend, genau umgekehrt über die Minderheitenrechte: "Die Glaubens- und Gewissensfreiheit darf aber keinesfalls von Mehrheitsverhältnissen oder von Einstellungen in der Bevölkerung abhängig gemacht werden. Religionsfreiheit bezeichnet ein unveräußerliches Recht jedes und jeder Einzelnen. In bestimmten Hinsichten wird sie gerade dann erst wirklich virulent, wenn es um religiöse oder weltanschauliche Minderheiten geht."

Prozesse religiöser Individualisierung kennt die Denkschrift zwar, aber wirklich positiv besetzen kann sie sie nicht. Individualisierung erscheint so im Zusammenhang mit "religiöser Gleichgültigkeit", als Faktum, das auf Seiten der Schüler nicht geleugnet werden kann, die "von den kirchlichen Erwartungen deutlich abweichen". "Evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer sollen sich nicht einfach nach der religiösen Marktsituation richten. Sie werden andere Überzeugungen achten, ohne darauf zu verzichten, ihre eigene Position deutlich zu machen." "Ihre eigene Position" weiche dann allerdings, so wird wohl nahe gelegt, "nicht von den kirchlichen Erwartungen deutlich ab".

Dass der "Zwang zur Häresie" der mit dem Individualismus korrespondiert, bei allem Abweichen auch eine persönliche Auseinandersetzung oder gar Identifikation mit Glaubensüberzeugungen bedeutet, wird in der Denkschrift nicht thematisiert, sondern tendenziell mit Zurückhaltung betrachtet. Das Modell der Verständigung, das die Denkschrift nahelegt, ist das des "wir und die anderen". Es ist zu fragen, ob ein solches Modell noch angemessen ist, angesichts hoher Zustimmungsraten zu Vorstellungen von Wiedergeburt, Karma, Nirwana, der Ablehnung von in den Bekenntnisschriften enthaltenen Vorstellungen der Realpräsenz Christi beim Abendmahl, der Auferstehung, Sühneopfertheologie, Vorstellungen des Strafgerichts ? nicht nur in der Schülerschaft des Religionsunterrichts, sondern in der Mitgliedschaft der Landeskirchen und sicher auch bei Religionslehrern und -lehrerinnen.

Freilich ließe sich argumentieren, eine Denkschrift sollte keine Beschreibung verfehlter Zustände leisten, sondern Orientierung für kirchliches und pädagogisches Handeln bieten. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob nicht auch theologische und pädagogische Konzepte Berücksichtigung finden sollten, die Individualisierungstendenzen weniger als defizitär beschreiben, sondern ihre Chancen stärker betonen.

Diese gewisse, hier angesprochene, evangelische Normalitätserwartung durchzieht die Denkschrift. Das mag verwundern, weil das Thema die "Pluralitätsfähigkeit" ist. Bedenkt man jedoch, dass es sich um eine Denkschrift der EKD handelt, die aus der evangelischen Position heraus formuliert ist und "besonders den evangelischen Religionsunterricht im Blick [hat]", ergibt diese Perspektive wieder mehr Sinn. Der Umgang mit den Alternativfächern zum RU kann diese Normalitätserwartung illustrieren. Die Denkschrift konstatiert: "In fast allen Bundesländern existiert ein Ersatz- beziehungsweise Alternativfach für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen" und attestiert ihrer Vorgängerdenkschrift, das Modell der Fächergruppe propagiert zu haben, in der RU und Ethik gleichberechtigt zusammenarbeiten. Sodann beklagt sie, dass die Kooperation in Ländern wie Berlin und Brandenburg dadurch erschwert werde, dass der RU eben kein gleichberechtigtes Fach sei. Dies ist nicht von der Hand zu weisen, allerdings ermahnt umgekehrt die Denkschrift nicht, da, wo der Ethik-Unterricht lediglich den Status eines Ersatzfaches hat, diesen in den gleichberechtigen Rang aufzurücken. Diese mangelnde Reziprozität hinterlässt bei der Forderung nach Gleichberechtigung einen schalen Beigeschmack, zumal wenn insbesondere den Fächern Ethik in Berlin und Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) in Brandenburg attestiert wird: "Fraglich ist allerdings, ob hier überhaupt noch von einer Bildung zu religiöser Dialogfähigkeit gesprochen werden kann." Ein solcher Stil ist einer EKD-Denkschrift nicht angemessen, zumal wenn die Begründung dafür "wenn Äußerungen lebendiger Religion, einschließlich ihrer Unterschiede, in der Schule nicht zulässig sind, kann es auch nicht zu einem wirklichen Dialog kommen" weder auf die Berliner noch auf die Brandenburger Schulen als solche, noch auf die genannten Unterrichtsfächer zutreffen, deren Curricula vielmehr ausdrücklich Begegnungsphasen und Kooperationen inkludieren, wie das die Denkschrift umgekehrt mit anderen Religionsunterrichten, dem Ethik-Unterricht oder inner- und außerschulischen religionsbezogenen Angeboten, auch vorschlägt. Hier ist die EKD-Schrift hinter den eigenen Anspruch der "Dialogfähigkeit" zurückgefallen.

Unbenommen bleibt der Denkschrift jedoch, dass sie sich einer wichtigen Herausforderung religiöser Bildung explizit annimmt und hier bemerkenswerte und wegweisende Akzente setzt. Die daraus folgenden Konsequenzen für evangelischen Religionsunterricht in einer pluralen Welt und einer ebensolchen Schul- und Unterrichtslandschaft formulieren die gestiegenen Ansprüche an den Religionsunterricht und andere Unterrichtsfächer, an die Gemeinden, die Schulen, aber auch an die Schüler selbst. Deutlich ist darüber hinaus, dass die Denkschrift aus dieser wichtigen Perspektive heraus auch andere den Religionsunterricht derzeit beschäftigende Themen tangiert, die er mit anderen Fächern teilt, wie die Kompetenzorientierung, die Inklusionsanforderung und die mangelnde Bildungsgerechtigkeit. Dass diese insbesondere Religionslehrende auch umtreibenden Fragen nur aus der Perspektive der Pluralitätsfähigkeit in den Blick geraten und nicht für sich thematisiert werden, muss wohl als Stärke und Schwäche des Papiers zugleich angesprochen werden. Die Denkschrift kann so das Ganze des Religionsunterrichts von einer zu Recht als wichtige Herausforderung eingeschätzten Perspektive aus betrachten. Dass damit andere Perspektiven ausgespart bleiben, ist der Preis, den der Rat der EKD in Kauf genommen hat, um die Wichtigkeit dieser Perspektive zu unterstreichen.

Ob die Möglichkeiten des Religionsunterrichts zu religiöser Bildung der Heranwachsenden mit dem Ziel des Beitrags zu "religiöser Sprach- und Orientierungsfähigkeit" angesichts eines selbstverständlich geltenden "Überwältigungsverbots" in der Denkschrift schon in all ihren Facetten ausgelotet sind, bleibt offen und ist vielleicht von einer Denkschrift auch gar nicht zu erwarten.

Henning Schluß

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