Masse ist per se nicht schlecht

Für das Wohl des Tieres ist eine differenzierte Diskussion nötig
Foto: privat
Auch Bauern haben ein Recht auf angemessenes Einkommen und adäquate Arbeitsbedingungen.

Seit Jahrtausenden leben Menschen mit und von Tieren. Sie ermöglichten das Überleben dank Fleisch, Leder, Fell, Wolle und Arbeitsgeräten aus Knochen. Tiere standen mit ihren Zugkräften am Anfang der Mechanisierung von Feld- und Transportarbeiten. Tiere gehören von daher zum menschlichen Lebenszusammenhang kultureller Schöpfungsgestaltung. Im Spannungsfeld von Bewahren und Bebauen dürfen wir sie als Mitgeschöpfe nutzen. Das heißt nicht, dass Tieren Leid angetan werden darf, sie rücksichtslos ausgebeutet werden dürfen. In christlicher Überzeugung sind Mensch und Tier gleichermaßen Geschöpfe Gottes. Tiere verdienen daher unsere Fürsorge und unsere Achtung.

Gesundes Gespür

Mensch und Tier sind aber auch verschieden: Nur dem Menschen ist als Ebenbild Gottes der Herrschaftsauftrag über die Schöpfung, also auch über die Tiere, gegeben. In ihrer Nutzung liegt Verantwortung, wie sie auch im Tierschutzgesetz verankert ist. Tieren darf nicht "ohne Grund" Schmerz, Leid oder Schaden zugefügt werden. Über die Gründe streitet man sich bis heute. Gerade die Landwirtschaft ist davon betroffen. Über Tiergerechtheit und Tierwohl wird diskutiert. Aus tierethischer Sicht geht es um möglichst tiergerechte Haltungsbedingungen. Das führt zu schwer auflösbaren Spannungen zwischen menschlicher Nutzung von Tieren und deren Eigenwert, zwischen dem tiergerecht Wünschenswerten und dem derzeit ökonomisch für die Landwirtschaft Möglichen. Das Eingeständnis in die menschliche Unzulänglichkeit gibt Kraft, solche Spannungen zu bearbeiten, Abwertung und Misstrauen entgegenzuwirken und neue Antworten auf konkrete Tierhaltungsbedingungen zu finden. Bei aller Tierhaltung geht es also immer um Abwägung: um die Verträglichkeit des unnatürlichen Haltungssystems als immer tiergerechteres System.

In diesem Zusammenhang wird der Begriff "Massentierhaltung" genutzt, um landwirtschaftliche Tierhaltungsformen kritisch zu hinterfragen oder gar generell zu diskreditieren. Taugt dieser Begriff für diese inhaltlich komplexe Auseinandersetzung? Eine Pfarrerin fragt mich, ob ich in einem Konfliktfeld ihrer Gemeinde vermitteln könnte: Ein junger Landwirt wolle nach der Hofübernahme den Betrieb weiter entwickeln und plane den Ausbau der Hühnerhaltung auf 3?800 im Freiland. Im Dorf gebe es Einwände dagegen: Schmutz, Lärm, Gestank, die Übertragung von Krankheiten würden befürchtet - man wolle keine Massentierhaltung! Der junge Landwirt im bäuerlich geprägten Baden-Württemberg als Massentierhalter?

So schnell sind wir mit Etiketten bei der Hand, Klischees werden bedient, Vorurteile gepflegt. Was ist Massentierhaltung? Wer definiert die Bestandsgröße, mit welchen operationalisierbaren Kriterien werden Grenzen gezogen? Sicherlich, 3?800 Hühner sind eine stattliche Zahl, eine richtige Masse nicht einzeln unterscheidbarer Tiere kommt da zusammen, die gackert, pickt, scharrt. Auch ein totes Huhn wird immer wieder einmal morgens im Stall aufgefunden - kein schöner Anblick. Aber was sind 3?800 Hühner im Verhältnis zu zehn-, gar hunderttausenden in nichtlandwirtschaftlichen Großanlagen - und dann ohne Auslauf?

Unbehagen an der Moderne

Worum geht es bei der Verwendung des Begriffs "Massentierhaltung"? Die emotionale Betroffenheit und Ablehnung der modernen Tierhaltung bedient sich eines Begriffs, in dem eine negative Konnotation mitschwingt: Massenkarambolage, Massenhysterie, Massenware, Massentourismus, Massenandrang, Massensterben. Wir suchen im Zeitalter der Individualisierung die Zuwendung zum Spezifischen, wollen mengenmäßig nicht subsumiert werden und verbinden mit Masse etwas eindeutig Negatives. Dafür gibt es aber keine christliche Grundlage. Größe an sich, Menge oder Masse sind per se nicht schlecht. Die biblische Speisung der Fünftausend war ebenso eine Ansammlung von Massen wie die heutigen Kirchentage, wo stickige Säle wegen Überfüllung geschlossen werden.

Oder soll mit "Massentierhaltung" das Unbehagen an der Moderne aus Spezialisierung, Automatisierung, Rationalisierung zum Ausdruck gebracht werden - eben die Übernahme industrieller Produktionsprozesse auch in der Landwirtschaft? Tatsächlich braucht es für rund 80 Millionen Bundesbürger, die Milch, Käse, Butter, Joghurt, Quark, Fleisch- und Wurstwaren essen wollen, ein gehöriges Produktionsvolumen. Wenn das Essen dann noch möglichst billig sein soll, um andere Bedürfnisse wie Wohnen, Auto, Kleidung, Urlaub, Freizeit, finanziell bedienen zu können, werden die Produktionsabläufe rationalisiert und die Produktionsstätten konzentriert, um Kostenersparnisse zu erzielen. Und haben die Bauern nicht auch ein Recht auf angemessenes Einkommen und adäquate Arbeitsbedingungen?

Der Begriff "Massentierhaltung" taugt daher nicht, um das Problem anzugehen, um das es wirklich geht: die Verbesserung des Tierwohls in der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung. Das ist weniger eine Frage der Bestandsgröße als insbesondere der Zucht und der Haltungsbedingungen. Dem Wohl des einzelnen Tieres kann man durch ein Verbot der Überzüchtung auf reine Leistungsmaximierung und räumlich-technische Ausstattung der Stallungen durchaus gerecht werden, unabhängig von der Bestandsgröße.

Gleichwohl gibt es in bestimmten Regionen Entwicklungen zu einer unguten Konzentration von Standorten zur Tierhaltung. Ungut in einem umfassenderen Sinne als nur nach tierethischen Maßstäben. Hier geht es um Transport- und Emissionsbelastungen auch infolge fehlender Kreislaufwirtschaft, um die mögliche Ausbreitung von Krankheiten und übermäßigen Antibiotikaeinsatz bis hin - unter dem Aspekt der Prävention - zum Risiko einer erforderlichen Ausmerzung zehntausender Tiere im Falle von Seuchen oder Epidemien - eine ethisch höchst brisante Situation. Und nicht zuletzt geht es um ein gesundes Gespür für die Einhaltung von Tabuzonen, wenn Entscheidungen zu weiteren Produktionsausweitungen, zu immer größeren Tierbeständen gefällt werden. Das erfordert unternehmensethische Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Akzeptanzgrenzen.

Schöpfungsethische Fragen

Neben der tierethischen Debatte stellen sich schöpfungsethische Fragen rund um Klima-, Boden- und Wasserschutz, Biodiversität und sozialethische Fragen der Ver- und Beteiligungsgerechtigkeit, insbesondere für die Menschen in Entwicklungsländern. Welche Verbindung besteht zwischen zu hohem Fleischkonsum und Welternährung? Kann Menschen in anderen Ländern der Wunsch nach mehr tierischen Erzeugnissen auf ihrem Speiseplan verwehrt werden? Oder müssten wir auch wissenschaftlich-technisch über Innovationen, ökonomisch über Produktionseffizienz, gesellschaftlich über Lebensstil und unser Konsumverhalten sowie politisch über globale Ordnungsrahmen diskutieren? Das bedarf aber einer differenzierteren Auseinandersetzung als mit dem schlichten Begriff "Massentierhaltung" zum Ausdruck kommt.

Ulrich Seidel: Von Profitgier angefacht

Clemens Dirscherl

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