An der Schwelle

Evangelische Banken könnten zum Vorreiter einer anderen Wirtschaft werden
Die Gemeinwohlgemeinden Mals und Latsch in Südtirol. Foto: dpa/ Rodemann
Die Gemeinwohlgemeinden Mals und Latsch in Südtirol. Foto: dpa/ Rodemann
Immer mehr Unternehmen erstellen neben der Finanzbilanz einen Nachhaltigkeitsbericht. Damit wollen sie dokumentieren, dass es ihnen nicht nur um Profitsteigerungen geht. Die Vertreter der Gemeinwohlökonomie gehen einen Schritt weiter und messen den Beitrag eines Unternehmens zum Gemeinwohl. Christian Felber, Lektor an der Universität Wien und einer der Vertreter der Gemeinwohl-ökonomie, stellt das Konzept vor.

Das von dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman formulierte Credo "Die soziale Verantwortung von Unternehmens besteht darin, die Gewinne zu steigern" begann rund zehn Jahre nach der Niederschrift 1970 zu wirken und beherrscht bis heute weite Teile der unternehmerischen Realität, teilweise noch mit zunehmender Intensität. Allerdings gibt es auch seit Mitte der Neunzigerjahre einen Gegentrend: Unternehmen sollen nicht ausschließlich nach Profiten trachten, sondern ihre soziale und ökologische Verantwortung wahrnehmen, dokumentieren und publizieren. Die "erste Generation" der so genannten CSR-Instrumente (CSR = corporate social responsibility: die soziale Verantwortung von Unternehmen) hatte allerdings zum Teil nicht einmal Milchzähnchen: Die Berichte sind nicht vergleichbar, sie werden teilweise nicht unabhängig evaluiert, sie sind allesamt nicht verbindlich und haben schon gar keine rechtlichen Folgen. Die Wirkungslosigkeit der CSR-Bemühungen wird inzwischen breit diskutiert, zusätzlich angefacht durch Praktiken des Greenwashings und Window-Dressings: Im schlimmsten Fall sponsert ein Waffenfabrikant ein Kinderdorf in einem armen Land und bepreist damit seine soziale Verantwortung. Selbst die EU-Kommission hat ihr bisheriges Verständnis von CSR, dass diese ausschließlich freiwillig wahrzunehmen sei, über Bord geworden und den Entwurf für eine Richtlinie über "nichtfinanzielle Berichterstattung" zu sozialen und ökologischen Themen vorgelegt. Für Unternehmen ab 500 Beschäftigten soll diese "Ethikbilanz" verbindlich werden.

Die aus der evangelischen Bankenfusion in Deutschland hervorgehende Evangelische Bank bewegt sich genau an dieser Schwelle und könnte bald vom Gesetzgeber gefordert werden. Das neue Institut könnte aber auch selbst initiativ werden und mit der Erstellung einer Gemeinwohlbilanz eine Vorreiterrolle übernehmen. Die Gemeinwohlbilanz sieht sich selbst als ersten CSR-Standard der zweiten Generation, der sich durch Universalität, Messbarkeit, Vergleichbarkeit, Verbindlichkeit und Rechtsfolgen von anderen Indikatoren abhebt. Besonders das letzte Kriterium, die rechtlichen Folgen des Bilanzergebnisses, deuten auf den größeren Zusammenhang hin: Die Bilanz ist nur ein Baustein einer vollständigen alternativen Wirtschaftsordnung unter dem Leitstern demokratischer Verfassungswerte und des Gemeinwohls, die sich seit Oktober 2010 von Österreich aus weltweit ausbreitet.

Die fünfzehn Gründungsunternehmen der Initiative für Gemeinwohlökonomie in Österreich empfanden, dass sie Wettbewerbsnachteile erleiden, wenn sie sich ethisch verhalten. Das soll sich umkehren: Je hochstehender sich Unternehmen ethisch verhalten, desto leichter sollen sie zum Erfolg kommen. Die Gemeinwohlökonomie ist eine "vollethische Marktwirtschaft", welche die Grundwerte Menschenwürde, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Solidarität und Demokratie verbindlich in den Rechtsrahmen einbaut. Die tragenden Säulen der Gemeinwohlökonomie sind dabei nicht neu, sondern eine Anpassung der Wirtschaftsordnung an die Ziele und Werte der Verfassungen demokratischer Staaten.

Die Gemeinwohlökonomie definiert zunächst die Werte, Ziele und Mittel des Wirtschaftens. So werden Geld, Gewinn und Kapital vom Zweck zu Mitteln des Wirtschaftens. Derzeit gibt es keine Verfassung, die besagt, dass Geld oder die Mehrung des Kapitals der Zweck des Wirtschaftens seien. Hingegen sagt zum Beispiel die bayrische Verfassung: "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl." (Artikel 151). Die italienische Verfassung legt als Ziel für die öffentliche und private Wirtschaft das "Allgemeinwohl" fest (Artikel 41). Das deutsche Grundgesetz sieht vor, dass Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll (Artikel 14).

Doch diese Vorgabe wird noch auf keiner Ebene der Wirtschaft offiziell gemessen. Stattdessen bilden das Bruttoninlandsprodukt (Volkswirtschaft), der Finanzgewinn (Unternehmen) und der Return on Investment (Investition) die zentralen Erfolgsindikatoren. Sie sagen aber nichts Verlässliches darüber aus, inwieweit ein Staat oder ein Unternehmen zur Befriedigung von Grundbedürfnissen beiträgt sowie die Lebensqualität verbessert. Das "Gemeinwohl-Produkt" würde zukünftig über 20 Indikatoren - unter anderem: Ernährung, Gesundheit, Wohnung, Beziehungsnetz, soziale Sicherheit, Mitbestimmung, Geschlechtergleichheit, Grundrechte, Friede, Vertrauen - direkt die Zielerreichung und damit den Erfolg einer Volkswirtschaft messen. Die Indikatoren würden von der Bevölkerung in kommunalen Bürgerbeteiligungsprozessen selbst definiert.

Der Erfolg eines Unternehmens, sein Beitrag zum Gemeinwohl, würde wiederum mit einer Gemeinwohlbilanz gemessen, die die wichtigsten Fragen der Gesellschaft an alle Unternehmen beantwortet. Wie sinnvoll ist das Produkt, die Dienstleistung? Wie ökologisch wird produziert, vertrieben und entsorgt? Wie sind die Arbeitsbedingungen? Werden Frauen und Männer gleich behandelt und bezahlt? Wie werden die Erträge verteilt? Wer trifft die Entscheidungen? Wie kooperativ verhält sich das Unternehmen auf dem Markt?

Gemessen wird in Punkten, jedes Unternehmen kann maximal 1000 erreichen. Das Ergebnis könnte in einer farblich unterscheidbaren Ampel neben dem Strich-Code auf allen Produkten und Dienstleistungen aufscheinen. Streicht der Konsument mit dem Handy über den Strich-Code, erscheint auf dem Display die gesamte Gemeinwohlbilanz. Damit würde die Gemeinwohlökonomie ein Grundversprechen der Marktwirtschaft erfüllen: das nach umfassender und symmetrischer Information. Alle Produkte müssten ihre Entstehungsbedigungen und -umstände preisgeben. Die Konsumentinnen und Konsumenten hätten endlich die Grundlage, für eine mündige und ethische Kaufentscheidung. Je besser das Gemeinwohlbilanzergebnis eines Unternehmens, desto mehr rechtlicher Vorteile erhält es, zum Beispiel einen günstigeren Mehrwertsteuersatz, niedrigere Zoll-Tarife (etwa für Produkte des fairen Handels), günstigere Kredite bei Banken, die sich dem Konzept der Gemeinwohlökonomie verpflichten, Vorrang beim Einkauf von staatlichen Einrichtungen und Forschungskooperationen mit staatlichen Universitäten. Mithilfe dieser marktwirtschaftlichen Anreizinstrumente wird die verkehrte Situation von heute umgedreht: Ethische, ökologische, langlebige, regionale und faire Produkte werden billiger als unfaire, wodurch die unfairen, nicht nachhaltigen und verantwortungslosen vom Markt verschwinden, während die ethischsten Unternehmen überleben. Endlich würden die Gesetze des Marktes mit den Werten der Gesellschaft übereinstimmen.

Die Finanzbilanz bliebe erhalten, aber das Gewinnstreben könnte differenziert eingeschränkt werden: Nach wie vor verwendet werden dürfen Gewinne für soziale und ökologisch wertvolle Investitionen, Kreditrückzahlungen, begrenzte Ausschüttungen an die Mitarbeitenden oder Rückstellungen. Nicht mehr erlaubt sind hingegen feindliche Übernahmen, Investitionen auf den Finanzmärkten, Ausschüttung an Personen, die nicht im Unternehmen mitarbeiten, sowie Parteispenden.

Um die Konzentration von Kapital und Macht und damit einhergehende übermäßige Ungleichheit zu verhindern, könnten "negative Rückkoppelungen" bei Einkommen, Vermögen und Unternehmensgröße eingebaut werden. Je größer ein Unternehmen wird, desto schwerer wird ihm weiteres Wachstum gemacht. Die erste Million wäre die leichteste, jede weitere immer schwerer bis zum "Deckel". Ungleichheit und die Konzentration von ökonomischer und politischer Macht würden dadurch begrenzt.

Wirklich liberal

Die Gemeinwohlökonomie ist nicht nur eine ethisch überzeugende, sondern auch eine wirklich liberale Marktwirtschaft, die der Konzentration von Macht effektiv entgegenwirkt.

Damit auch die Finanzmärkte ihren Dienst an Wirtschaft und Gesellschaft wieder erfüllen können, könnten alle Banken langfristig auf das Gemeinwohl ausgerichtet werden - so wie Sparkassen, Genossenschafts- und Kirchenbanken ursprünglich gedacht waren. Zudem könnte jedes Investitionsvorhaben einer Gemeinwohl-Prüfung unterzogen werden und das Ergebnis die Kreditkonditionen - neben dem Risiko - mitbestimmen. Damit würden auch Finanzsysteme in den Dienst der Verfassungen und ihrer Werte gestellt. Das Projekt "Bank für Gemeinwohl" in Österreich bereitet die Gründung einer solchen gemeinwohlorientierten Bank vor. Es gibt aber bereits Banken, die eine Gemeinwohlbilanz erstellt haben - die Sparda München, die Raiffeisenbank Lech am Arlberg sowie die Sparkasse Dornbirn.

Die Gemeinwohlökonomie ist drei Jahre nach ihrem Start von einer Idee zu einer internationalen Bewegung geworden: Bereits 1.700 Unternehmen aus 35 Staaten unterstützen die Bewegung, rund 200 haben die Gemeinwohlbilanz schon erstellt. Neben den genannten Banken sind das Sekem (Ägypten), Bodan und VAUDE (Baden-Württemberg), Satis & Fy (Hessen), Sonnentor (Niederösterreich) oder das Hotel Hochschober und La Perla (Kärnten und Südtirol). Neben der Pionier-Gruppe der Unternehmen gibt es immer mehr Gemeinwohlgemeinden (Miranda de Azán und Carcaboso in Spanien; Mals, Schlanders, Laas und Latsch in Südtirol; Weiz in der Steiermark), die sich auch zum Teil schon in Gemeinwohlregionen sehen. Außerdem machen immer mehr Universitäten mit Forschungsprojekten und Lehrangeboten mit. Rund um die Pionier-Gruppen bilden sich Akteurs-Kreise: Berater und Auditoren begleiten die Unternehmen, Referenten und Botschafter gehen an die Öffentlichkeit. Das "Redaktionsteam Gemeinwohl-Matrix" sammelt laufend Feedback von den Pionier-Gruppen und verbessert die Aussagekraft der Bilanz.

Die Gemeinwohlgemeinden erstellen nicht nur selbst die Bilanz in den eigenen Wirtschaftsbetrieben und laden die Privatwirtschaft ein, die Bilanz zu erstellen. Sie organisieren außerdem "Kommunale Wirtschaftskonvente", in denen die Bevölkerung die Wirtschaftsordnung nach ihren Werten und Bedürfnissen formuliert - auf Basis der 20 Fragestellungen, welche der Gemeinwohlökonomie zugrunde liegen. Ziel der Bewegung ist nicht die Durchsetzung der eigenen Inhalte, sondern die Organisation demokratischer Prozesse, um alle Schlüsselfragen einer Wirtschaftsordnung so breit wie möglich zu diskutieren und zu entscheiden. Die lokalen Konvente könnten an einen Bundeskonvent delegieren, dessen Ergebnisse vom Souverän abgestimmt werden. Das Ergebnis wäre ein demokratischer Wirtschaftsverfassungsteil oder eben die erste demokratische Wirtschaftsordnung. Ein historisch würdiges Datum dafür könnten 2019 und 2020 sein: 100 Jahre Demokratie in Deutschland und Österreich.

Am Prozess der Gemeinwohlökonomie kann sich jede Privatperson, jedes Unternehmen, jede Organisation und jede Gemeinde niederschwellig beteiligen. Die evangelischen Einrichtungen und Betriebe könnten durch die Erstellung einer Gemeinwohlbilanz und der tatkräftigen Mitentwicklung des Modells eine gesellschaftliche und ethische Pionier-Rolle erfüllen.

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Christian Felber

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