Sache jedes Einzelnen

Religionsfreiheit ist immer auch die Freiheit der anderen
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Glaube ist Privatsache, dies gilt es immer wieder neu zu sichern, um der individuellen Freiheit und des kollektiven Friedens willen.

In der Theologie und Religionsphilosophie wird seit jeher die Frage erörtert, ob und inwieweit Glauben und Glaubensgewissheiten der persönlichen, individuellen Beziehung des Gläubigen zu Gott und der unmittelbaren Offenbarung Gottes entspringen; oder ob sie, um Irrungen zu entgehen, der Vermittlung und Anleitung durch religiöse Autoritäten und deren theologischen An- und Einsichten bedürfen. Wenn auch in unterschiedlicher dogmatischer Bedeutsamkeit taucht diese Frage in allen monotheistischen Religionen auf. Spätestens seit dem frühen Mittelalter, vor allem aber im Zuge des entstehenden Humanismus und der Aufklärung, ist sie auf das Engste mit der theologisch-philosophischen Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und Vernunft, von Religion und Wissenschaft verbunden.

Es geht hier also um die Frage, ob die dem Menschen von Gott gegebene Vernunft als zureichender Filter zur Unterscheidung von Gut und Böse, von Recht- und Falschgläubigkeit, von Orthodoxie und Häresie geeignet ist und dienen kann. Bejaht man das, vertritt man also die Ansicht, dass sich der rechte, wahre Glaube aus der vernunftgeläuterten Unmittelbarkeit der Begegnung des autonomen Einzelnen mit Gott erschließt. Dann kann evidenterweise die Frage, ob Glauben Privatsache ist, mit Ja beantwortet werden.

Jedoch so einfach ist es nicht. Zwar wird, mehr oder weniger deutlich, in allen monotheistischen Religionen der Mensch als von Gott mit Vernunft ausgestattetes und insofern erkenntnisfähiges Subjekt betrachtet. Allerdings kann auch nicht von der Hand gewiesen werden, dass eine Religion, die ihre Glaubenssätze und -inhalte der Autonomie des Einzelnen überantwortet, das heißt, in die Bestimmungs- und Verfügungsgewalt individueller Vernunft verlagert, ihren Anspruch auf Orthodoxie, ihren Anspruch, die einzig wahre Religion zu sein, kaum noch aufrecht erhalten kann. Sie läuft jedenfalls Gefahr, ihre Identität zu verlieren, zu einer Religion der Beliebigkeit, einer "Religion des eigenen Gottes" (Ulrich Beck) mit einer bloßen "Baukastenspiritualität" zu mutieren und ihre Existenzberechtigung als intersubjektives Institut, als Gemeinschaft der Gläubigen aufs Spiel zu setzen.

Dogmatische Glaubenssätze

Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass ausnahmslos alle monotheistischen Religionen nebst ihren Varianten, die einen mehr, die anderen weniger, an theologisch-dogmatischen Glaubenssätzen festhalten. An Glaubenssätzen, die hinsichtlich dessen, was unbedingt zu glauben ist, die Interpretationsspielräume des ansonsten als autonom gedachten Individuums begrenzen. Das gilt selbst für den Protestantismus, obwohl er sich als Religion der individuellen Freiheit des Christenmenschen versteht und obwohl er ausdrücklich mit dem Ziel des Abbaus obrigkeitskirchlicher Bevormundung angetreten ist. Erinnert sei hier an den Furor, mit dem der späte Martin Luther das Judentum bekämpft, und an die Rigorosität, mit der er die Lehren der Wiedertäufer als satanischen Ursprungs verdammt und gegen die Hinrichtung ihrer Anhänger keinerlei Einwände erhoben hat. So bleibt also aus theologisch-philosophischer Sicht die Antwort auf die Frage nach der Privatheit des Glaubens ambivalent.

Nimmt man jedoch, anders als bisher, den Menschen nicht in seiner Rolle als gläubigen Christen, Juden oder Muslim, sondern als Bürger, als Mitglied der Gemeinschaft eines Volkes in den Blick, dann stellt sich die Frage nach der Privatheit des Glaubens grundlegend anders dar.

Ausschlaggebend für die vom Vernunftsrechtsdenken der Aufklärung inspirierte Formulierung von Menschenrechten waren nicht zuletzt die aus den Orthodoxieansprüchen der Religionen entstehenden interreligiösen Konflikte - die Religionskriege. Von Grundrechten, die jedem Menschen von Natur aus, qua seines Menschseins zukommen. So heißt es erstmals in der 1776 entstandenen Virginia "Declaration of Rights": "Die Religion oder die Ehrfurcht, die wir unserem Schöpfer schulden, und die Art, wie wir sie erfüllen, können nur durch Vernunft und Überzeugung bestimmt sein und nicht durch Zwang und Gewalt. Daher sind alle Menschen in gleicher Weise zur freien Religionsausübung berechtigt, entsprechend der Stimme ihres Gewissens." Von dieser Deklaration ausgehend hat das jedem Menschen zukommende Recht auf freie Religionsausübung im Laufe der Jahrhunderte Niederschlag in vielen Verfassungen der westlichen Welt gefunden. In Deutschland wurde die Religionsfreiheit in der Paulskirchenverfassung von 1848 normiert. Von dort aus ist sie über verschiedene Verfassungen der deutschen Länder im Jahre 1919 in die Weimarer Reichsverfassung und 1949 zum Teil wortgleich in den Grundrechtekatalog des Grundgesetzes übernommen worden. Im Artikel 4, Absatz 1 des Grundgesetzes heißt es nun: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."

Abwehr- und Schutzrecht

Diese Grundfreiheiten erstrecken sich nicht nur auf die innere Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben. Sie umfassen auch die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Und jeder hat das Recht, sich freiwillig, reflektiert oder unreflektiert, mit oder ohne Vernunft, den Dogmen und Glaubenssätzen einer Religion zu unterwerfen.

Als Abwehrrecht ist damit gesagt, dass es dem Staat und seinen Organen nicht gestattet ist, in diese Grundrechte des Einzelnen einzugreifen. Als Schutzrecht ist aber auch gesagt, dass der Staat gehalten ist, den Einzelnen vor Grundrechtseingriffen seitens anderer in Schutz zu nehmen.

Glauben ist demnach eben alleinige Sache des Einzelnen. Glauben soll Privatsache sein. Daran zu arbeiten und dies zu sichern, ist, um der individuellen Freiheit und des kollektiven Friedens willen, den Religionen und ihren Theologien ebenso, wie den bürgerlichen Gesellschaften und ihren Rechtsordnungen aufgegeben.

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