Ein anderer werden

Eine Dreiecksbeziehung
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Welche Rolle spielt der Ort der Lektüre? Eine prägende, meint Gernot Wolfram, der der Beziehung zwischen Leser, Text und Leseort dieses Bändchen widmet.

Es gibt Orte, an denen man gelesen hat, die man nicht vergisst, weil sie die Lektüre mit ihren eigenen Geräuschen, Gerüchen und Stimmungen begleiten. Manchmal ist es ein Café, in dem man den Helden seiner Geschichte begegnet. Als Kind liegt man vielleicht in der muffigen Dunkelheit unter der Bettdecke, samt Taschenlampe. Oder man begibt sich in die Stille und Konzentration einer Bibliothek.

Gernot Wolfram - mehrfach ausgezeichneter Autor - ist davon überzeugt, dass Orte und Lektüre eine Wechselwirkung aufeinander haben, sie eine "vibrierende Verbindung" eingehen, die dem Leser oft gar nicht wirklich bewusst wird, und die dennoch prägende Kraft hat. Und so widmet er sich in seinem schmalen Band der Magie dieser Orte, an denen wir lesen.

"Wenn wir lesen, treffen wir auf eine besondere Situation der Gegenwart", sagt er. Denn Lesen ist ein Zustand und ein Ereignis, das einen eigenen, besonderen Raum eröffnet und schafft, und in dem die Lebenssituation des Autors wie die des Lesers eine besondere Rolle spielen.

Es ist ein Streifzug durch Synagogen, zu Poetry Slams, durch Pariser Alleen und hinein in Schützengräben, auf den Gernot Wolfram den Leser mitnimmt. Es geht dabei überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, um jüdische Texte und Autoren. Der Verlag Hentrich & Hentrich ist nicht umsonst auf jüdische Kultur und Zeitgeschichte spezialisiert.

Und so betreten wir mit Wolfram die immer wieder neu und anders sortierte Bibliothek Aby Warburgs, die den "Überraschungscharakter des Lesens" wachhält. Wir begreifen die Briefe des Exilanten und Flaneurs Walter Benjamin als ein Schreiben gegen das Verschwinden von vertrautem Raum und Heimat "ein Aufenthaltsort für jene (...), die keinen Aufenthaltsort mehr hatten". Und wir beginnen, vermeintlich bekannte Orte in der Lausitz als uns verborgene und fremde zu begreifen, weil wir sie durch die Lektüre von "Krabat oder die Verwandlung der Welt" des sorbischen Autors Jurij anders zu dechiffrieren und neu entdecken lernen.

"Das Lesen vollzieht sich, selbst im Privatesten, niemals außerhalb politischer und gesellschaftlicher Ereignisse, sondern immer in bestimmten Landschaften, Orten und Räumen, die auf den Leser einwirken." Die kleinen Anspielungen von DDR-Schriftstellern entfalten heute, in einer anderen Gesellschaft, kaum noch die gleiche Wucht. Und das Untergrundarchiv Emanuel Ringelblums "Oyneg Shabes" aus dem Warschauer Ghetto hält eine Leerstelle wach, die lediglich erahnen lässt, welche Bedeutung das Lesen als Rückzugsraum, als Moment "des Durchatmens und der Selbstvergewisserung" für die verfolgten Juden dort gehabt haben muss.

Im Frieden liest es sich anders als im Krieg, in der Gesundheit anders als im Schmerz. Bedenklich findet Gernot Wolfram, wie gering wir die Rolle von Büchern im Heilungsprozess kranker Menschen schätzen, für wie wenig existentiell in unserer Kultur das Lesen offensichtlich noch erachtet wird. Dabei ist das Buch im Krankenhausbett eine Möglichkeit, sich über die bloße "Physis" zu erheben, sich zu flüchten vor dem bloßen Kranksein. Das Lesen steht für die Fähigkeit, sich auch als Patient immer noch auch als geistigen Menschen zu erleben, der in Symbolen und Bildern, in Erzählungen und Phantasie einen Raum abseits der Effizienz der Pflegeabläufe und seiner medizinischen Überwachung begreifen darf.

In der inneren Reise dem eigenen Leben neu begegnen, zu sich selbst kommen und dabei ein anderer werden: Das ist das, was einem in Augenblicken des Lesens an unterschiedlichen Orten geschieht.

Gernot Wolfram: Der leuchtende Augenblick. Hentrich & Hentrich, Berlin 2013, 144 Seiten, Euro 14,90.

Natascha Gillenberg

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Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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