Unscharfe Grenze

Der Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen stammt aus dem Evangelium selbst
Ist der Glaube nicht mehr privat, verliert er auch seine Öffentlichkeitsrelevanz - ein Satz, der wohl auch im Umkehrschluss gilt.

Soll der Glaube privat sein? Auf die Frage gibt es in der evangelischen Kirche seit einigen Jahrzehnten nur eine Antwort. Nein, natürlich nicht! Der Glaube ist doch keine Privatsache. Fast reflexhaft ist das Pathos, mit dem der Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen bekundet wird, um die antiklerikale Spitze des Satzes vom "Glauben als Privatsache" abzuwehren, der mit dem Erfurter Programm der jungen sozialdemokratischen Bewegung in die Welt gekommen ist. Das war zu der Zeit, als sich die Zahl der engagierten Protestanten mit rotem Parteibuch noch in Grenzen hielt. In der Vehemenz der Entgegnung geht oft unter, wie schnell das Wort "Glaube" durch "Kirche" ersetzt wird. Die Kirchen sollen sich für die Belange der res publica einsetzen, sie sollen das Wort ergreifen, Einspruch erheben, Anwältinnen für die Stummen und Schwachen sein, ja, sie hätten, so wird selbstbewusst verkündet, ein prophetisches Mandat und ein Wächteramt, die Kirchen seien Seismographen für menschenwidrige Zustände in der Gesellschaft und hätten eine Verpflichtung zur Kritik. Wenn die Stimme der Kirchen fehlte, ach, was wäre dann mit der Moral?

Wenn der Sound der Verantwortlichkeit nicht hilft, rettet der Verweis auf das Recht: Die Kirchen seien Körperschaften öffentlichen Rechts und schon wegen dieses Titels öffentlich bedeutsam. Und dann ist da noch das berühmte Böckenförde-Diktum, dass der Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren kann. Die Einstiegsfloskel bei Podiumsdiskussionen und Festakten ist seit langer Zeit so beliebt, dass vom Autor dieses Zitats, dem Staatsrechtler und ehemaligen Bundesverfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde, das Bonmot überliefert ist, dass er ein reicher Mann wäre, wenn er für jeden Gebrauch des Satzes einen Cent verlangen würde - und ein glücklicher Mann, wenn das Zitat nicht aus dem Zusammenhang gerissen und willkürlich verkürzt würde.

Bröckelnde Autorität

In den Arrangements zwischen Staat und Kirchen hat sich der Öffentlichkeitsanspruch an vielen Stellen institutionalisiert. In Ethikkommissionen, Geschäftsstellen und Büros, in Rundfunkbeiräten und Arbeitskreisen der Volksparteien, im Religionsunterricht an öffentlichen Schulen - und wird bislang nur von religionskritischen Hardlinern öffentlich in Frage gestellt. Böse Zungen fragen eher: Ist der Glaube bei Euch denn auch privat? Ist er noch verwurzelt in den Lebensgeschichten, in den Familien, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Paaren und Freundeskreisen? Denn von dieser Selbstverständlichkeit lebt ja das öffentliche Mandat - es ist Folge eines Christentums, das nicht nur kulturelles Erbe, sondern Lebensorientierung, wenn nicht für alle, so doch für einigermaßen viele ist. Oder ist der öffentlich vorgetragene Auftrag der Kirchen die Kehrseite für das Verstummen von Glaubensfragen und Tischgebeten, von theologischen Nachtdebatten und selbstverständlichen Gottesdienstbesuchen? Ist die Vehemenz des öffentlichen Wortes zu politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen vielleicht sogar auch ein gutes Alibi für sein privates Verstummen?

Mit den politischen Debatten über das Ende der Privatheit und die Bedrohung intimer Räume, die sich dem Zugriff des Staates und der Gesellschaft entziehen, hat sich schleichend auch das verändert, was unter Öffentlichkeit zu verstehen ist und wer mit welchem Mandat auf ihren Bühnen auftritt. Zunehmend bröckelt nämlich die Autorität derer, die öffentlich für die anderen das Wort ergreifen: Ratsvorsitzende für die EKD, Bischöfe für die Landeskirchen, Beauftragte ihrer Kirchenleitungen, Superintendenten für die Pfarrerschaft, Pfarrerinnen für die Gemeinde. Das Modell der Repräsentation, das im Modus des "Sprechens für" immer mitgedacht ist, steht zunehmend da in Frage, wo die Autorität gewählter Vertreter in dem Augenblick bezweifelt wird, wo man anderer Meinung ist. Mit der Individualisierung der Religion kommen ja auch die Individualisierung der Urteilskraft und das Schwinden von Folgsamkeitsmodellen (die es ja gut evangelisch sowieso schwer haben). Deshalb ist es leicht, den Öffentlichkeitsauftrag zu verteidigen, aber schwer, ihn zu erfüllen.

Der Ausweg scheint klar: Öffentliche Beiträge, ob auf der Kanzel, in der Talkshow, in Denkschriften, Presseerklärungen oder Zeitungsbeiträgen, müssen so elastisch sein, dass sie ein möglichst weites Spektrum der Kirchenmitglieder einbinden. So bleiben die Widerworte und damit die Empörungsgrade gering - aber mit der schwindenden Angriffsfläche eines entschiedenen Wortes leider auch die Aufmerksamkeit. Das wohlüberlegte "Sowohl-als-Auch" zu drängenden und unerledigten Problemen der Gesellschaft hat keine Chance im Getöse einer Medienwelt, die in kurzen Zeittakten von Übertreibung zu Übertreibung springt.

Aus dem Evangelium selbst

Klare, einfache Botschaften fordern deshalb viele und zeigen nach Rom, wo Papst Franziskus es mit deutlichen Worten wie "Dieses Wirtschaftssystem tötet" regelmäßig in die Schlagzeilen schafft. Merkwürdigerweise kommen Applaus und Bewunderung von allen Seiten. Regierungen und NGOs, Gewerkschaften und Vorstände von Großkonzernen, Linke und Rechte vertragen sich unter scharfen Worten, die sie damit alle nicht zu treffen scheinen.

Die Herausforderungen sind deshalb groß in einer Zeit, in der es viele Öffentlichkeiten gibt, die eigenen Gesetzen folgen. Wie privat muss der Glaube sein, damit er öffentlichkeitsrelevant wird? Wer spricht eigentlich in diese Öffentlichkeit? Wo sind die Nichtordinierten, die dem Priestertum aller Getauften schon dadurch Glaubwürdigkeit verleihen, dass sie sich nicht hinter Bischöfinnen und Pröpsten verstecken, sondern aus gegebenem Anlass als Christinnen und Christen das Wort ergreifen? Wo sind die Bischöfe und Pröpstinnen, die diejenigen öffentlich sprechen lassen, die nicht nur vom Glauben, sondern auch von der Sache richtig was verstehen? Wie klingt ein öffentliches Wort aus Glauben, das theologische Argumente so übersetzt, dass sie allgemein verständlich werden, aber nicht auf theologische Zumutungen verzichtet? Wie hören sich Gewissheiten an, die die Unsicherheit der eigenen Überzeugungen aushalten können? Wie klingen Fragen, die öffentlich niemand zu stellt wagt? Hört man noch, von woher jemand spricht?

Der Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen kommt nicht aus einem Gesellschaftsvertrag, der religionsverfassungsrechtlich abgesichert ist. Er kommt schlicht und einfach aus dem Evangelium selbst. Denn wie sollte die kühne evangelische Unterstellung, dass Menschen mehr sind als die Summe ihrer Erfolge und dass ihre Achtung noch im radikalen Scheitern unverbrüchlich, die Rechtfertigung des eigenen Lebens deshalb immer schon geschehen ist, lange privat bleiben können? Folgen für die eigene Lebensführung, für die politische, wissenschaftliche und kulturelle Urteilsbildung, für die Art und Weise, durch die Welt zu gehen, sind ja gar nicht zu vermeiden. Die Kirchen sind keine gehobenen Clubhäuser, wo am Eingang die Mitgliederausweise kontrolliert werden. Deshalb ist schon jeder Gottesdienst eine öffentliche Angelegenheit. Hier kommen das Private und das Öffentliche zusammen, an der unscharfen Grenze zwischen Innen und Außen, die immer in Bewegung bleibt und keine Grenzschützer braucht, sondern sensible Übergangsbegleiter in beide Richtungen.

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Petra Bahr

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