Hirten und Handys

Die Gleichzeitigkeit von Ungleichem prägt das Leben in Katzendorf
Blick auf das Domizil des Dorfschreibers, im Hintergrund die Kirchenburg von Catza / Katzendorf Foto: Stephan Kosch
Blick auf das Domizil des Dorfschreibers, im Hintergrund die Kirchenburg von Catza / Katzendorf Foto: Stephan Kosch
Der Brandenburger Autor und "zeitzeichen"-Mitarbeiter Jürgen Israel lebt derzeit als Dorfschreiber im rumänischen Catza/Katzendorf. Als Träger dieses von verschiedenen rumänischen Kulturorganisationen ausgelobten Preises erhielt er das "Recht und die Pflicht", ein Jahr lang in Siebenbürgen zu wohnen, sich umzusehen, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und seine Eindrücke niederzuschreiben.

Seit fast einem Jahr lebe ich in dem kleinen siebenbürgischen Dorf Catza/Katzendorf in Rumänien. Das Dorf hat 1250 Einwohner, davon sind 800 Zigeuner, die sich ganz selbstverständlich auch so nennen und Vorbehalte gegen diese Bezeichnung nicht verstehen. Hinzu kommen 120 Ungarn, der Rest sind Rumänen. Im Sommer reisen ein paar Siebenbürger Sachsen aus Deutschland an, die zwischen 1970 und 2000 auswanderten, und wohnen in ihren ansonsten leer stehenden Häusern. Doch ihre Zahl nimmt immer weiter ab; die in Deutschland aufgewachsenen Kinder und erst recht die Enkel haben kein Interesse, hierher zu kommen. Eine einzige Siebenbürger Sächsin, eine pensionierte Lehrerin, lebt mit ihrem behinderten Sohn noch dauerhaft hier.

Was fiel mir als erstes auf? Zuerst und immer wieder die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Lebensverhältnisse. Am Morgen gehen zwei Hirten durchs Dorf und knallen mit ihren Peitschen auf die Straße. Das bedeutet: Kühe und Pferde, die auf die Weide geschickt werden, können aus den Toren gelassen werden. Dann treiben die Hirten die Tiere auf die Weide, hüten sie und geleiten sie am Abend ins Dorf zurück. Diese Gemeindehirten gehören seit Jahrhunderten in Siebenbürgen zum Leben der Menschen, eine lange Tradition, die es sonst in Rumänien nicht gibt. Aber die heutigen Hirten haben ein Mobiltelefon bei sich, das sie freilich lediglich als Uhr benutzen, nicht zum Telefonieren. Denn das ist zu teuer. Ich habe einen einzigen Hirten kennengelernt, der von der Weide aus telefoniert hat: mit seiner Freundin.

In den wenigsten Höfen gibt es fließendes Wasser; einige haben nicht einmal einen eigenen Brunnen, ihre Bewohner müssen das Wasser aus öffentlichen Brunnen oder von Nachbargehöften holen. Aber in jedem Haus, in dem ich war, gab es einen Fernseher, allerdings keine großen Flachbildschirme, wie gelegentlich kolportiert wird, sondern eher billige, kleine Apparate.

Was mir ebenfalls sofort auffiel, ist die hohe Arbeitslosigkeit, nicht nur unter Zigeunern, unter ihnen freilich besonders. Das Ausmaß habe ich aber erst im Laufe der Monate begriffen. Da sie meist wenig qualifiziert sind, wurden sie nach dem Ende der Ceaucescu-Diktatur als erste entlassen, als ganze Industriezweige zusammenbrachen. Jetzt versuchen sie, sich als Saisonarbeiter im Ausland oder mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten.

Die Arbeitslosigkeit betrifft aber eben nicht nur Zigeuner. Ich bin mehrmals von Männern gefragt worden, ob ich ihnen Arbeit in Deutschland besorgen könnte. Einer kam mir regelrecht hinterher gerannt und bat mich eindringlich. Er besitze kein Haus, habe zwei Kinder und keine Arbeit. Er könne gut mit Tieren umgehen und auf Baustellen arbeiten.

Arbeit im Ausland

In diesem Zusammenhang höre ich oft, vor der Revolution, zu Ceaucescus Zeiten, habe jeder Arbeit und damit sein Auskommen gehabt. Über den Personenkult, den Ceaucescus um sich veranstalten ließ, haben sich die Menschen hier allenfalls lustig gemacht. An den allgegenwärtigen Mangel hatten sie sich gewöhnt; und zu essen hatten sie auf dem Dorf immer. Ein Viehhirte fasste es so zusammen: "Unter Ceaucescu konnten wir alle hier arbeiten; keiner musste nach Deutschland, Österreich oder Ungarn gehen." Was er nicht sagt ist, dass sie es damals gar nicht gedurft hätten.

Freilich, wenn sie jetzt ins Ausland fahren, dann nur zum Arbeiten. Ich habe in der ganzen Zeit einen einzigen Mann getroffen, der in Deutschland und in Frankreich Urlaub gemacht hat. Er war vielleicht Mitte zwanzig. Ich traf ihn, als er gemeinsam mit einem zweiten Hirten eine große Schafherde hütete. Eine junge Frau war zur Gurkenernte in Deutschland. Sie hatte den Ort, in dem sie mit anderen Rumäninnen wohnte und arbeitete, nicht verlassen. Sie war außer mit dem Mann, der sie in die Arbeit einwies, mit keinem Deutschen zusammengetroffen. Als sie zurückkam, wusste sie nicht, wie der Ort hieß, in dem sie gewesen war. Dennoch setzen die Dorfbewohner große Hoffnungen in den erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt in anderen EU-Ländern, vor allem in Deutschland.

Dass so viele Menschen mittleren Alters im Ausland arbeiten, bringt für die Familien große Probleme mit sich. Hauptleidtragende sind, wie so oft, die Kinder. So lang noch wenigstens Vater oder Mutter zu Hause geblieben sind, ist es erträglich. Aber ich habe eine ältere Frau kennengelernt, die schon lang mit ihrer nun achtjährigen Enkeltochter zusammenlebt. Beide Eltern arbeiten in Nürnberg, abends telefonieren sie mit dem Mädchen. Der Großmutter ist dieses Leben zu anstrengend, aber - und dann folgt das hier unvermeidliche - "was soll's?" Noch schlimmer sind diejenigen Kinder dran, die nicht von Großeltern oder anderen erwachsenen Verwandten versorgt werden, sondern für die ältere Geschwister die Verantwortung übernehmen müssen.

Belebtes Handwerk

Hier in Catza sind die meisten Menschen vollständig davon beansprucht, ihre bloße Existenz zu sichern, so dass sie kaum Kräfte für Fernerliegendes aufbringen können. Sie haben keine Hoffnung, dass sich ihre Lebenssituation bessern wird, im Gegenteil: Sie klagen über steigende Preise und wachsende Arbeitslosigkeit. In anderen Regionen und vermutlich schon in der nächsten Stadt mag es anders sein. In dieser Hinsicht hat mich besonders die siebenbürgische Stadt Blaj/Blasendorf beeindruckt. Dort gibt es wenig Arbeitslose, dort entsteht so etwas wie eine offene bürgerliche Mittelschicht. Im Dorf Viscri/Deutsch Weißkirch etwa versucht die Eminescu-Stiftung mit ihrem Schirmherrn Prinz Charles regionales Handwerk neu zu beleben, und deutsche Hilfsorganisationen unterstützen Frauen und ermöglichen Kindern den Besuch weiterführender Schulen.

Laut letzter Volkszählung sind 3,2 Prozent der rumänischen Bevölkerung Zigeuner, wobei ich immer wieder höre, dass es in Wahrheit viel mehr seien, da längst nicht alle angeben, dass sie Zigeuner sind. Es gibt glücklicherweise Menschen, die differenzieren, doch viele Rumänen, Ungarn und Sachsen klagen immer wieder über "die Zigeuner". In Catza gibt es eine große Zigeunersiedlung, die Ziganie, und es gibt Zigeunerfamilien, die zwischen Rumänen und Ungarn wohnen. Sie sind die schärfsten Kritiker derjenigen, die in der Ziganie leben. Das ist verständlich, denn sie müssen sich selbst bestätigen, dass der Schritt aus der Zigeuner-Community richtig war, Selbstvergewisserung durch Abgrenzung. Gerade sie differenzieren nicht; ihre Vorwürfe lassen sich mit einem Begriff zusammenfassen: asozial.

Das Müllproblem

Was vor allem uns Deutschen auffällt, ist das Müllproblem. In Catza gibt es keine Mülltrennung. Alles kommt in ein und denselben Abfallbehälter, Glas, Plastik, Müll, und wird auf eine Halde vor dem Dorf gefahren. Auf meinen Fahrradtouren habe ich allerdings in einigen Dörfern blaue Tonnen für Pappe und Papier gesehen. Wobei Papier das geringste Problem ist: Das wird zum Anheizen verwendet. Da hier ausschließlich mit Holz geheizt wird, braucht jeder auch Papier. Das weitaus größere Problem sind Plastikbehälter. Plastikflaschen und -tüten liegen überall: im Wald, auf Wiesen und Äckern, an Straßenrändern und entlang der Bahnschienen. Ich will drei Beispiele erzählen: Wir waren in der Nachbarstadt auf dem Viehmarkt gewesen und fuhren mit dem Pferdefuhrwerk zurück. Auf dem Wagen saßen zehn, zwölf Männer. Eine der üblichen Zweieinhalbliterflaschen Bier machte die Runde. Als sie leergetrunken war, wurde sie auf die Wiese geworfen.

An einem anderen Tag lud mich ein Mann ein, mit ihm ein Bier zu trinken. Wie in der kühlen Jahreszeit üblich tranken wir das Bier stehend im Laden. Als er ausgetrunken hatte, öffnete er den Ofen und warf die Plastikflasche ins Feuer. Meinem Tadel begegnete er lachend und meinte, Plastik brenne gut. Vermutlich um mich zu entschuldigen erklärte die Verkäuferin, in Deutschland würden Plastik und Glas getrennt. Ein besonders drastisches Beispiel berichtete ein Freund, der mich besuchte. Im Zug war ein Baby gewickelt worden, und der Vater hatte die benutzten Pampers zum Fenster hinausgeworfen.

Das sind Einzelbeispiele. Aber sie verdeutlichen, dass Umweltverschmutzung als Problem bei großen Teilen der Bevölkerung nicht angekommen ist. Die vielen brennenden oder vor sich hin qualmenden Müllhalden beunruhigen mich; von keinem Dorfbewohner habe ich gehört, dass er sich deshalb Sorgen macht.

Religion und Folklore

Natürlich interessiere ich mich auch für die Rolle der Religion in Siebenbürgen. Entgegen allem, was ich vorher über den großen Zulauf zur orthodoxen Kirche gehört und gelesen hatte, hält sich der Gottesdienstbesuch, wenigstens in Catza, in überschaubaren Grenzen. Zwar sind immer Vorschulkinder in der Kirche, die eigens gesegnet werden; aber junge Familien bilden die Ausnahme. Dennoch ist die orthodoxe Form des Christentums im Volk verankert, auch wenn sich das nicht im Gottesdienstbesuch spiegelt. So habe ich niemanden kennengelernt, der nicht gewusst hätte, wann er Namenstag hat, ohne dass er es besonders gewürdigt hätte oder zur Kirche gegangen wäre.An einem Sommervormittag kam uns ein junger Mann auf dem Fahrrad entgegen. Wegen der großen Hitze fuhr er mit freiem Oberkörper. Als er an der Kirche vorbeikam, bekreuzigte er sich ganz selbstverständlich.

Am Pfingstsonntag gab es in Catza eine kleine Prozession von der Kirche zu einem am Ortsausgang stehenden großen Holzkreuz. Vor dem Kreuz wurde gebetet und gesungen. Als zwei Jugendliche auf dem Motorrad vorbeikamen, bekreuzigte sich der hinten sitzende. Ich bin mir allerdings nicht sicher, was in diesen Alltagsszenen Folklore ist oder aber Zeichen für einen Existenz tragenden Glauben. Das für mich überraschendste und einprägsamste Erlebnis in dieser Hinsicht war das Schlachten eines Schweins. Nachdem das Tier abgestochen war, lief das Blut auf die Erde. Als es aufgeschnitten und zerteilt wurde, entfernten wir mit Stofftüchern, die die Hausfrau vorher zurechtgerissen hatte, alle Blutreste aus dem Fleisch. Auf meine Frage, warum das Blut nicht zu Wurst verarbeitet werde, bekam ich zur Antwort, sie als Orthodoxe äßen kein Blut. In einem etwa fünfzig Kilometer entfernten Dorf allerdings hörte ich, dass dort die orthodoxen Christen ganz selbstverständlich Blutwurst herstellten und auch aßen.

Auf dem Friedhof

Wirklich voll habe ich die Kirche nur zum Kirchweihfest erlebt und immer dann, wenn Verstorbener gedacht wurde. Eine befreundete Familie hatte mich gebeten, am 1. November, dem Vorabend des Gedenktages Allerseelen, mit auf den Friedhof zu gehen. Um halb sechs sollte ich bei ihnen sein. Das schien mir zu spät, denn da war es bereits dunkel; und ich konnte mir nicht vorstellen, wie wir dann das Grab noch schmücken sollten.

Als wir am Friedhof ankamen, wurde mir klar, weshalb wir die Dunkelheit abgewartet hatten: Es ging nicht darum, die Gräber zu schmücken, sondern darum, auf ihnen Kerzen aufzustellen. Das Grab, an dem wir standen, war ein Doppelgrab; anfangs wurden Kerzen nur auf der Seite aufgestellt, auf der der Vater lag. Die Mutter lebte noch und saß auf der Grabeinfassung. Erst später, als der Platz nicht mehr ausreichte, wurde auch die andere Seite einbezogen. Gelegentlich kamen Freunde und Bekannte vorbei, die auch ein Licht anzündeten und dann weitergingen. Auf den meisten Gräbern brannten Kerzen und beleuchteten die Gesichter der Umstehenden. Nach einer Weile wurden Bierbüchsen geöffnet. Danach machte eine Schnapsflasche die Runde. Von allen Seiten hörte ich Flaschengeklirr. Gesungen oder gebetet wurde nicht; es wurden ganz alltägliche Gespräche geführt. Immer wieder kam jemand vorbei und grüßte. Die kleinen Kinder spielten mit den Kerzen, die größeren fotografierten mit ihren Handys.

Eine Frau sammelte die leeren Bierbüchsen in eine Plastiktüte. Nachdem wir den Friedhof verlassen hatten, kippte sie die Tüte am Straßenrand aus.

Jürgen Israel

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