Videospiele, Story-Arcs & Partner

Was als Ausdrucksform von Kunst und Kultur gilt, ändert sich immer schneller
Die TV-Serie ist amerikanisch, sich von ihr faszinieren zu lassen gehört zur deutschen Kultur: "Mad Men" (ab 2007). Foto: Lionsgate / Cinetext / Allstar
Die TV-Serie ist amerikanisch, sich von ihr faszinieren zu lassen gehört zur deutschen Kultur: "Mad Men" (ab 2007). Foto: Lionsgate / Cinetext / Allstar
Dass für junge Menschen nicht einmal Film und Fernsehen mehr uneingeschränkt zu den Leitmedien zählen, hat sich herumgesprochen. Wo die einen von Kulturverfall raunen, erkennen die anderen nur den Wandel in der Kultur - der sei unvermeidlich, wenn diese nicht in museale Starre verfallen soll. Der Medienjournalist Marcus Kirzynowski über den unverstellten Blick auf das Neue in der Kultur, die nur noch bedingt eine deutsche ist.

Vielleicht ist das Theater schon längst eine tote Kunstform, nur die, die dort arbeiten, haben es noch nicht gemerkt. Dieser Gedanke kam mir zumindest des Öfteren während der zugegebenermaßen nur wenigen Male, die ich in den vergangenen Jahren ins Theater gegangen bin. Da wurden die modernen Klassiker von Brecht inszeniert, als wäre das Industriezeitalter nie zu Ende gegangen, oder es wurde mal eben Shakespeares "Hamlet"-Text mit Einsprengseln von Ingmar Bergman durchsetzt, als sei die Postmoderne gerade erst erfunden worden. Manchmal wird auch mit Videoeinspielungen experimentiert oder die Schauspieler filmen sich gleich selbst auf der Bühne, damit die wenigen Jüngeren, die den Weg ins Schauspielhaus gefunden haben, sich zumindest medial wiederfinden. Aber die fragen sich wahrscheinlich eher, wo die Maus zum Weiterklicken bei langweiligen Passagen ist.

Die Kulturgeschichte war von jeher auch eine Geschichte neuer Techniken und neuer Medien. Und diese brachten schon immer neue Kunstformen hervor, die ältere in den Hintergrund drängten. Wirklich ausgestorben ist bisher eigentlich noch keine Kunstform. So wie das Kino das Theater nicht völlig verdrängt hat und das Fernsehen nicht das Kino, ist es auch unwahrscheinlich, dass Menschen in Zukunft keine gedruckten Bücher mehr lesen werden, weil sich das Internet immer weiter verbreitet. Allerhöchstens könnte eventuell auf dem Medienmarkt mit der gedruckten Tageszeitung erstmals ein Medium wirklich verschwinden, einfach weil es gegenüber entsprechenden Angeboten im Netz keinen Mehrwert für den Nutzer bringt, Nachrichten auf Papier zu drucken. Was sich ansonsten verändert, sind die Leitmedien - und die Leitkünste, wenn man so will.

Betrachtet man, welche das heute bei Menschen unter 25 Jahren sind, würde wohl niemand auf die Idee kommen, Oper und Theater zu nennen. Vermutlich auch nicht Literatur und nur noch bedingt Film. Jedenfalls nicht, wenn man unter Filmen lediglich 90- bis 120-minütige von professionellen Studios produzierte Spielfilme versteht. Filme konsumieren Kinder und Jugendliche natürlich ständig - aber eben häufig in Form kurzer Videos auf YouTube und ähnlichen Online-Plattformen. Zwischendrin weisen sie dann mal schnell ihre Freunde bei Facebook auf ein gelungenes Video hin oder rufen mal kurz ihre E-Mails ab.

Immer mehrere Dinge gleichzeitig

Was manche Kulturpessimisten als Symptom für die Verbreitung von Aufmerksamkeitsdefiziten werten, mögen andere als Beleg für wachsende Multitasking-Fähigkeiten sehen. Wer mit PCs und dem Internet aufgewachsen ist, ist eben gewohnt, dass auf dem Bildschirm immer mehrere Dinge gleichzeitig passieren. Auf die klassischen Kulturformen lassen sich diese internalisierten Nutzungsgewohnheiten hingegen nur schlecht übertragen. Wer während einer Theateraufführung oder Opernarie das Smartphone zückt, um sich mal eben bei Facebook auf den neuesten Stand zu bringen, macht sich immer noch keine Freunde unter seinen Sitznachbarn.

Anders als vor der Digitalisierung der Medienwelt drehen immer mehr der "Zuschauer" bei YouTube & Co. auch gleich ihre eigenen Filme und stellen sie via solcher Plattformen einem weltweiten Publikum zur Verfügung. Aus einer relativ hermetischen Branche wie der Filmindustrie ist eine prinzipiell für jedermann offene partizipative Bewegung geworden. Ähnlich verhält es sich mit anderen Kulturformen im Zeitalter des Internets: Viele Menschen beschränken sich heute nicht mehr auf das Lesen von Artikeln oder Belletristik, sondern schreiben ihre eigenen Blogs, Fanfiction zu ihren TV-Helden - oder rezensieren zumindest das zuletzt gekaufte Buch oder Musikalbum bei Amazon. Sascha Lobo und andere starten im Netz gerade Plattformen für "Social Reading", auf denen User während des Lesens Anmerkungen zu Büchern direkt in die E-Books schreiben und diese dann anderen Nutzern zugänglich machen können. Zunehmend mehr Mediennutzer sind es heute eben gewohnt, ein direktes Feedback äußern zu können und geben sich nicht mehr damit zufrieden, nach einer Vorstellung zu klatschen oder laut "Buh" zu rufen.

Neben kurzen Videos hat der Einzug der Computer in die Wohn- und Kinderzimmer auch ganz neue Kunst- und Kulturformen hervorgebracht - etwa das Video- und Computerspiel. Lange Zeit ein eher verlachtes Medium, hat es sich längst zu einem weit verbreiteten Massenphänomen entwickelt - und zu einem Riesengeschäft. Online-Rollenspiele wie "World of Warcraft" sind zu festen Bestandteilen der Alltagskultur geworden. Und die großen US-amerikanischen Spieleschmieden produzieren inzwischen Games, deren Kosten das Budget vieler Hollywood-Filme übersteigen. Mit geschätzten 265 Millionen Dollar ist der im vergangenen September erschienene fünfte Teil der Spielereihe "Grand Theft Auto" das bisher teuerste Videospiel der Geschichte. Allerdings wurden auch schon innerhalb von 24 Stunden nach Erscheinen damit mehr als 800 Millionen Dollar wieder eingespielt - ein Ergebnis, das im Kino 2013 nur "Iron Man 3" und die Trickfiguren aus "Ich - einfach unverbesserlich 2" erzielten (und das erst übers ganze Jahr gerechnet). Es können also unmöglich nur männliche Nerds unter 25 gewesen sein, die sich in die simulierte Welt von GTA V begeben haben. Auch inhaltlich entwickeln sich Videospiele immer weiter, mit den klobigen Pixeln früher Atari-Spielkonsolen haben sie schon lange nichts mehr gemein.

Stars machen Spiele

In jüngster Zeit werden sie auch für bekannte Schauspieler interessant. So übernahm etwa Willem Dafoe eine Hauptrolle in dem ebenfalls im Herbst erschienenen Spiel "Beyond: Two Souls" von David Cage. Per auch aus Hollywood-Blockbustern wie "Tim und Struppi" bekanntem Motion-Capture-Verfahren wurde seine Mimik auf die Gesichtszüge der Spielfigur übertragen. Bis zu zehn Stunden umfasst die Handlung, durch die sich der Spieler, allerdings anders als beim Film, aktiv manövrieren muss. Dabei begleitet er die von Ellen Paige ("Juno") gespielte Jodie über fünfzehn Lebensjahre und wird mit Themen wie Leben und Tod und der Existenz einer inneren übernatürlichen "zweiten Seele" konfrontiert - also klassischen großen Themen, die bis vor kurzem in diesem Medium noch als nicht vermittelbar galten.

Dessen gestiegene kulturelle Anerkennung ist übrigens auch daran festzustellen, dass Ausschnitte aus "Beyond: Two Souls" auf dem New Yorker Tribeca Film Festival gezeigt wurden und Kritiker den Spieldesigner David Cage ganz selbstverständlich als Regisseur des Spiels bezeichnen. Ob solche neuartigen Computerspiele Kinofilme zunehmend verdrängen oder ob durch die voranschreitende technische Entwicklung ganz neue Mischformen entstehen werden, für die die Bezeichnungen "Game" und "Film" eben nicht mehr passen werden, lässt sich noch nicht absehen. Wohl aber, dass zukünftig immer mehr Menschen einen wachsenden Teil ihrer Freizeit mit Maus oder Controller in einer interaktiven filmischen Welt statt passiv vor Leinwand oder Bildschirm verharrend verbringen werden.

Eine andere audiovisuelle Erzählform, die dem Spielfilm zunehmend den Rang abläuft, ist die Fernsehserie. Ähnlich wie das Videospiel hat auch sie erst in jüngster Zeit kulturelle Anerkennung gefunden. Wo früher fast alle TV-Serien pro Folge eine abgeschlossene Handlung erzählten, die meist keine Auswirkungen auf die Episode der nächsten Woche hatte, etablierten die Serienautoren des US-Pay-TV-Senders HBO ab Ende der Neunzigerjahre die fortlaufende Erzählweise in so genannten Story-Arcs: großen Bögen, die sich über eine Staffel oder sogar über die gesamte Laufzeit der Serie entfalten konnten. Wer früher als Zuschauer nicht regelmäßig einschaltete, hatte schnell den Anschluss verloren - das kannte man vorher nur von Seifenopern à la "Dallas", wo die Handlungselemente aber so trivial waren, dass man doch rasch wieder einsteigen konnte. Schnell zogen Kritiker nun den Vergleich zwischen den neuartigen TV-Serien von HBO und seinen Konkurrenzsendern und den großen Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts von Schriftstellern wie Dostojewskij oder Balzac.

Auch hoch gelobte Serien wie "Die Sopranos", "Mad Men" oder "The Wire" beschränken sich nicht auf ein oder zwei Hauptfiguren, sondern entwerfen das Bild einer ganzen Familie, einer Firma oder gar einer ganzen Stadt. Und während sich die einzelnen Figuren im Lauf der Jahre weiterentwickeln (auch das ein Novum im Vergleich zu den meist stereotyp gezeichneten Helden und Antihelden der herkömmlichen Serien), verändert sich im Hintergrund der Erzählung manchmal gleich die ganze Gesellschaft. Das Paradebeispiel hierfür ist das seit 2007 laufende "Mad Men", das quasi in Echtzeit über sieben Staffeln hinweg die Veränderungen der Moralvorstellungen und Rollenbilder der US-Gesellschaft vom Beginn bis zum Ende der Sechzigerjahre mitverfolgt. Da eine über Jahre und Dutzende von Episoden angelegte Serie mehr Raum für eine solche komplexe Erzählweise bietet als ein Spielfilm, ernannten schon bald erste Kritiker die Fernsehserie zum Nachfolger des Kinos als erzählerisches Leitmedium. Fürs Multiplex (Großkino) liefert Hollywood seit Jahren mit immer größeren Action- und Technik-Spektakeln zunehmend nur noch leichte Unterhaltung für Teens und Twens, deren Geschichten auf einem Waschzettel Platz fänden. Die neuartigen TV-Serien bieten hingegen eine Art von anspruchsvoller Unterhaltung für Erwachsene.

Audiovisuelles Komasaufen

Auch die Entstehung dieser Art von Erzählen im Fernsehen ist eng verknüpft mit der Entwicklung der technischen Medien. Viele Fans gucken ihre Lieblingsserien nämlich gar nicht mehr auf festen Sendeplätzen im linear zu empfangenden Fernsehen, sondern schauen eine ganze Staffel mit 13 oder 22 Folgen innerhalb weniger Tage auf DVD oder Blu-ray-Disc "weg". Im Englischen entstand dafür sogar eine neue Wortschöpfung: "binge watching", das Äquivalent zum "binge-drinking", was man auf Deutsch als "Komasaufen" übersetzen könnte.

Die durchgehend erzählten Serien lassen also einen solchen Sog entstehen, dass die Zuschauer eine Art Suchtverhalten entwickeln und eine Folge nach der anderen sehen wollen, bis die Staffel "durch" ist. Das kannte man vorher eigentlich nur von dicken Romanen: Bei "Anna Karenina" käme schließlich auch niemand auf die Idee, jede Woche nur ein Kapitel zu lesen. Freilich wäre eine solch geballte Rezeption vor Verbreitung der DVD kaum möglich gewesen, da Videobänder einfach zu wenig Speicherplatz boten. Zusätzlich hat das Internet zu einer zeitnahen weltweiten Verbreitung von TV-Serien geführt. Denn auch per iTunes, Amazon oder anderen Abrufplattformen lassen sie sich natürlich konsumieren (und Amazon produziert inzwischen genau wie US-Konkurrent Netflix sogar eigene Serien, die gar nicht mehr fürs Fernsehen bestimmt sind). Wieder andere Fans warten gar nicht erst, bis neue Serienstaffeln irgendwo legal zu erwerben sind, sondern laden sich die jeweils neuesten Folgen gleich am Tag nach der Erstausstrahlung im Ausland aus einer der zahlreichen Tauschbörsen auf den heimischen Rechner oder streamen sie gratis. Vor dem klassischen deutschen Fernsehprogramm bleiben dann diejenigen zurück, die nicht so technikaffin sind, nicht solvent genug für die recht teuren DVD-Boxen oder schlicht nicht so wählerisch.

Comics noch immer auf Papier

Noch eine dritte Kunstform, die früher eher als trivial angesehen wurde, hat in den vergangenen Jahren die Aufmerksamkeit und Wertschätzung von Bildungsbürgern und Feuilletonisten erlangt: der Comic. Auch wenn er in seinen avancierten Erscheinungsformen seit Kurzem oft nicht mehr als solcher verkauft wird, sondern als "Graphic Novel". Dieser Begriff soll zwar intellektuellen Kundenschichten vorgaukeln, es handele sich um etwas ganz Neues, das mit dem "Kinderkram" Comics nichts zu tun hätte, bezeichnet aber zumindest in Deutschland etwas, das es auch schon seit den späten Sechzigerjahren gibt: anspruchsvoll erzählte und gezeichnete Comic-Romane

Anders als die herkömmlichen Alben- oder Heftserien haben sie meist kein feststehendes Figurenarsenal und sind nicht auf eine vorgegebene Standardlänge beschränkt, sondern erzählen eine eigenständige Geschichte auf der Seitenzahl, die der Autor dafür eben für nötig hält. Thematisch sind keine Grenzen gesetzt, Bücher mit (auto-)biografischen, (zeit-)geschichtlichen oder gesellschaftspolitischen Themen verkaufen sich aber oft besonders gut. Gerade deutsche Künstler wie Reinhard Kleist oder Isabel Kreitz sind hier sehr erfolgreich. In der Welt der Sprechblasenliteratur hat sich die Elektronik allerdings noch nicht so richtig durchgesetzt: Trotz Apps für Tablet-Computer und Smartphones und einer Vielzahl von Webcomics im Internet werden die meisten Comics noch immer auf Papier gelesen.

Alle drei Beispiele - Videospiele, TV-Serien und Comics - zeigen, dass sich Kulturformen immer weiter entwickeln, sich inhaltlich von manchmal eher trivialen Ursprüngen emanzipieren, auf technischen Fortschritt reagieren und durch diesen neue Verbreitungswege finden. Das war auch bei Formen der heute anerkannten Hochkultur nicht anders. Gerade das macht Kultur so lebendig: dass sie immer neue, der Zeit gemäße Ausdrucksformen findet.

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Marcus Kirzynowski

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