Dem Herzen Ruhe geben

Vor 300 Jahren wurde der Komponist Carl Philipp Emanuel Bach geboren
Alfred Lemoine: Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788). Foto: akg-images
Alfred Lemoine: Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788). Foto: akg-images
Wer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vom Meister Bach sprach, meinte zuerst Carl Philipp Emanuel, den vielseitigen Schöpfer von Sinfonien und Sonaten, Konzerten und Kammermusiken. Dieser erblickte vor dreihundert Jahren, am 8. März 1714, das Licht der Welt.

Abkürzungen ersetzen oft vollständige Sätze, Wörter und Namen. Und so stößt man auch auf das Kürzel CPE als Synonym für Carl Philipp Emanuel, analog zum fiktiven "PDQ Bach", mit und ohne Punkt zwischen den Großbuchstaben. Wenn man C.P.E. dazu noch englisch ausspricht, wird es ganz kurios. Andererseits war die Abkürzung schriftlich schon zu Lebzeiten des Bach-Sohnes gebräuchlich und wurde gelegentlich auch von ihm selbst verwendet. Gleichwohl dürfte ihn zu Hause oder auf der Straße niemand nur mit seinem abgekürzten Namen angesprochen haben. Er war und blieb der hochangesehene Meister Bach.

Wer heute den Nachnamen nennt, meint zuerst und oft ausschließlich Johann Sebastian Bach. Aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war das anders. Der Name stand zuerst für Carl Philipp Emanuel, den vielseitigen Schöpfer von Sinfonien und Sonaten, Konzerten und Kammermusiken, obwohl man um die Verdienste auch seiner Brüder wusste. Um sie unterscheiden zu können, heftet man ihnen bis heute die Orte ihrer Wirksamkeit an. Es gibt den Mailänder oder Londoner Bach (Johann Christian), den Bückeburger (Johann Christoph Friedrich) und den Berliner oder Hamburger (Carl Philipp Emanuel). Für keinen von ihnen war es leicht, aus dem Schatten des berühmten Vaters herauszutreten.

Dass dieser einen immer kleiner werdenden Schatten warf und bei vielen als alter Zopf galt, änderte zunächst wenig. Unter Musikkennern war die Erinnerung an Johann Sebastian noch nicht vollständig verblasst. Besonders Emanuels älterer Bruder, der genialische Wilhelm Friedemann, hatte seine liebe Not damit, in der weiten Musikwelt auf eigenen Füßen zu stehen. Die Musik hatte sich weitgehend vom Barock verabschiedet und war längst in der Frühklassik angekommen. Die Brüder befanden sich inmitten einer Phase des stilistischen und formalen Übergangs, die vor allem Emanuel in der Bewahrung der erlernten musikalischen Künste sowie durch weiterentwickelte Harmonien entscheidend mitprägte.

Während Johann Sebastian im 19. Jahrhundert allmählich seine umfassende Wiederentdeckung erlebte, versanken umgekehrt die Söhne nach ihrem Tod rasch in der Vergessenheit. Aber heute nehmen sie wieder den Rang ein, der ihnen zusteht. Wer Carl Philipp Emanuel Bach nur als "Kleinmeister" gelten lässt, verkennt die individuell eigenständige Musikerpersönlichkeit.

Tonkunst der Empfindsamkeit

Johann Sebastian Bach zog 1708 mit seiner Frau Maria Barbara nach Weimar. Im selben Jahr kam die erste Tochter zur Welt. Die Sterblichkeitsrate war hoch in dieser Zeit, zwei Kinder überlebten ihr Geburtsjahr 1713 nicht. Am 8. März 1714 wurde Carl Philipp Emanuel geboren. Als er sechs Jahre alt war, starb die Mutter. Der Vater heiratete bald darauf Anna Magdalena Wilcken. Im Elternhaus genoss Emanuel eine gründliche musikalische Ausbildung. Der Vater brachte ihm das Spielen des Cembalos bei und unterrichtete ihn in Kompositionslehre. Als Erwachsener wurde der Sohn selbst ein bedeutender Klavierpädagoge. Er folgte dem väterlichen Willen und studierte erst einmal die Jurisprudenz in Leipzig, später dann in Frankfurt an der Oder.

Schließlich wurde er Musiker am Hof Friedrichs des Großen, blieb dort drei Jahrzehnte und trat 1768 in Hamburg die Nachfolge seines Taufpaten Georg Philipp Telemann an. Bach stellte sich dort der musikalisch interessierten Öffentlichkeit mit einem opulenten, hörerfreundlichen Oratorium vor, in dem er vorerst keine großen harmonischen Umstände machte, sondern direkt auf ein möglichst breites Publikum zusteuerte. Das Werk hieß "Die Israeliten in der Wüste", was nicht autobiographisch zu verstehen war. Wie in die Wüste geschickt fühlte sich Bach in Hamburg keineswegs. Gleich seinem Moses im Oratorium war auch der Tonschöpfer ein Berufener, der machtvoll zum Volk sprach und demütig sein Haupt vor Gott senkte.

Als Kantor und Musikdirektor der Hansestadt gestaltete Bach das musikalische Leben nachhaltig mit. Kirchenmusik wurde dabei großgeschrieben. In einer Zeit aufgeklärter Vernunft verfasste er eine Tonkunst der Empfindsamkeit, nicht ohne Strenge, mit der er sich selbst vor platter Gefälligkeit schützte. Trotzdem schaffte er es, seine Zuhörer bei ihren innersten Gefühlen zu packen. Einem zeitgenössischen Bericht zufolge konnte bei der Arie "Wende dich zu meinem Schmerze" aus der "Passionskantate" kaum jemand ein Schluchzen unterdrücken. Genau das sah Bach nach eigenem Bekenntnis als das Wesen der Musik an: die Herzen zu rühren, womöglich sogar die Verstockten zu besänftigen. Wenn er komponierte, blitzte immer etwas von seinem Genius auf und in den geistlichen Werken auch ein spiritueller Sinn.

Recycling eigener Kompositionen

Bach betreute den Nachlass seines Vaters und fand sich auch seinem theologischen Geist verpflichtet. Die Oden und Psalmen für eine Singstimme und Cembalo sind eine musikalisch ausgedeutete Theologie des Gebets. Die chromatischen, sich aneinander schmerzlich reibenden Töne im "86. Psalm" bilden das Klagen des Menschen ab, der sich im Elend weiß, und die harmonischen Beruhigungen wecken das Vertrauen ins göttliche Du. Den Aufgaben eines Berufsmusikers nachzukommen, bedeutete schon damals Stress. Bach musste die fünf Hauptkirchen Hamburgs mit Musik versorgen. In Zahlen hieß das: mindestens zweihundert Aufführungen pro Jahr, manchmal zehn größere Gesangswerke in nur zwei Wochen, dazu Stücke für besondere Anlässe wie Trauerfeiern, Ordinationen, Hochzeiten. Obendrein zählte die Buchhaltung zu seinen Pflichten. Dann mussten eigene und fremde Werke für den Konzertsaal einstudiert und aufgeführt werden, immer unter den Argusaugen der Presse, die Bach allerdings meistenteils sehr gewogen war. Kein Mensch kann bei solch einem Dauereinsatz ständig neue geistliche Werke schaffen, erst recht nicht für reguläre Sonn- und Feiertage. Bach recycelte darum eigene Kompositionen, übernahm Stücke vom Vater und von den Brüdern, bearbeitete fremde Werke oder fügte ihnen einfach eigene Takte an.

Fragen des Urheberrechts brauchten ihn nicht zu kümmern. Er brachte in der Hamburger Zeit viele Kantaten Johann Sebastians zur Aufführung, griff manchmal auch aus theologischen oder gesanglichen Gründen in den Text ein. Dabei scheute er sich nicht, die Noten entsprechend zu korrigieren - eine Maßnahme, bei der heutige Gralshüter kaum stillhalten würden. Für ein spezielles Konzert schrieb er 1786 auch noch eine kurze Einleitung zum Credo aus der h-Moll-Messe. Schon lange vorher hatte er als 35-Jähriger ein eigenes "Magnificat" komponiert, es melodisch und stilistisch dem gleichnamigen Mariengesang des Vaters angeglichen, ihm aber den frischen Wind des Nachgeborenen eingehaucht.

Die Forschung hat vermutet, dass Bach sich mit der Komposition als Nachfolger fürs Leipziger Kantorenamt ins Gespräch bringen wollte. Sicher scheint es jedoch nicht zu sein, genauso wenig wie die Uraufführung in der Thomaskirche. In mehreren Werken reflektierten Fugen und Chöre dank strenger Formgebung die göttliche Schöpfungsmacht und erhoben in harmonischer Seligkeit die Herzen zum Höchsten. Oft steckte auch eine Prise Georg Friedrich Händel in den Oratorien.

Im "Heilig" von 1779 durchschreitet Bach die Spanne vom Diesseits zum Jenseits mit der ganzen Skala, die ihm die Tonkunst zur Verfügung stellt. Das erlösungsbedürftige Erdental setzt er von der gnadenvoll-majestätischen Himmelsmajestät ab und schafft durch ungewöhnliche chromatische Verbindungen deutliche Gegensätze, um im selben Augenblick beide Sphären einander durchdringen zu lassen. Bach selbst stellte die besondere Klasse dieser Komposition keinen Augenblick in Frage. So wollte er der Nachwelt in Erinnerung bleiben.

Schon vor seiner Hamburger Zeit hatte er massenhaft Texte von Christian Fürchtegott Gellert vertont, darunter "Osterlied", in dem Jesus als Bezwinger des Todes gepriesen wird, und das Gedicht "Die Ehre Gottes aus der Natur", das später auch Beethoven komponierte. In Hamburg griff er dann Texte des Theologen Christoph Christian Sturm auf. Ein Lied wie "Der Tag des Weltgerichts" beeindruckte mit unerbittlich pochenden Tönen, die in flehentliche Klänge übergehen. Auf dem Arbeitsplan standen zudem geistliche Oden von Friedrich Gottlieb Klopstock, der 1788 für den verstorbenen Freund auch den Grabspruch verfasste. Bach habe "die Neuheit mit der Schönheit" vereint, hieß es darin lobend. Der Komponist hatte fünf Jahre zuvor Klopstocks "Morgengesang zum Schöpfungsfeste" in Töne gesetzt und Gott in der Natur gehuldigt, konfessionell ungebunden, wie es der aufgeklärten Vernunft entsprach und dennoch einer Empfindung entgegenkam, die sich vom trockenen Rationalismus freigemacht hatte.

Freigeist mit lutherischer Tradition

Die Ideen der Aufklärung sickerten immer mehr in die Köpfe ein, trafen aber bei theologischen Dogmatikern alter Schule auf heftigen Widerstand. Bach hatte sowohl den Freigeist des Berliner Hofes kennen gelernt als auch die lutherische Tradition im Elternhaus aufgenommen. In gewisser Weise vereinte er beides. Mit dem aufgeschlossenen Pastor Christoph Christian Sturm verband ihn eine besondere Freundschaft, nicht dagegen mit dessen Amtskollegen Johann Melchior Goeze, der wider alles Neue wetterte und mit Gotthold Ephraim Lessing in erbittertem Streit lag. Seit Berlin war Bach mit dem Dichter des Theaterstücks "Nathan der Weise" gut bekannt. So wichtig die Befreiung von Fremdbestimmung durch die Aufklärung war, so schwer wurde es gleichzeitig, den Herzen angesichts dieses fundamentalen Wandels ein wenig Ruhe zu geben.

Wohl darum zeigte sich Bach auch der Gefühlsdichtung Klopstocks zugeneigt. Sie harmonierte trefflich mit seiner eigenen künstlerischen Vorstellung. Wie Klopstock versuchte Bach die Herzen zu erreichen, ohne flach zu sein, was sich musikalisch in stimmungsvollen Bildern und mit tonmalerischer Finesse ausdrückte, die etwa auch in Bachs "Auferstehung und Himmelfahrt Jesu" zu hören ist. Der mit Johann Christian Bach befreundete Wolfgang Amadeus Mozart führte dieses Oratorium in Wien begeistert auf; auch der Komponist selbst liebte es, wobei er es wohl wegen des Verzichts auf eine stringente Handlung als "Kantate" bezeichnete.

Trotz zeitverhafteter Momente, manchmal sogar opernhafter Züge - obgleich die Grenzen zwischen weltlicher und geistlicher Musik immer fließend waren - blieb er ein protestantischer Tondichter, der Kreuzestod und Auferstehung als verbindliche Heilsereignisse feierte. Ein gutes Beispiel ist die Osterkantate "Anbetung dem Erbarmer" von 1784 mit ihrer Textzeile "Preis und Ehre dem, der für uns den Tod der Sünder starb, der uns durch Blut und Tod ein ew'ges Glück erwarb". Der Tod hat als der Sünde Sold endgültig abgedankt. Der Schlusschoral vertreibt die natürliche Angst und mündet in die tröstlichen Worte, die vier Jahre später, am 14. Dezember 1788, vielleicht auch dem sterbenden Bach im Ohr klangen: "In dir mein Herze ruht. Und wenn es bricht, erschreck ich nicht; ich fahre hin im Friede."

Literatur

Dorothea Schröder: Carl Philipp Emanuel Bach. Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2014, 112 Seiten, Euro 9,95.

Roland Mörchen

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