Entfaltung der Einzelnen

Die Kirchen sollten an der Entwicklung von Institutionen mitarbeiten
Institutionen geben Sicherheit: Hochzeit bei den Jesus Freaks in Köln- Ehrenfeld. Foto: epd/ Christopher Clem Franken
Institutionen geben Sicherheit: Hochzeit bei den Jesus Freaks in Köln- Ehrenfeld. Foto: epd/ Christopher Clem Franken
Institutionen begleiten die Menschen von der Wiege bis zur Bahre. Dass sie aber nicht nur ein einschnürendes Korsett sind, sondern unentbehrlich für die ethische Orientierung in der Gesellschaft, zeigt Wilfried Härle, Professor em. für Systematische Theologie an der Universität Heidelberg.

Dem Wortsinn nach sind Institutionen Einrichtungen. Dabei handelt es sich um ein Arrangement von Regeln, die dem wechselseitigen Handeln zwischen Personen, also den Interaktionen, einen Orientierungsrahmen geben sollen. Man könnte bildlich sagen: Institutionen sind das aus Verhaltenserwartungen bestehende soziale Mobiliar jeder Gesellschaft und jedes menschlichen Lebens. Sie sind deshalb stets mit Handlungsanweisungen und -erwartungen verbunden. Diese richten sich einerseits an die (inter-)agierenden Personen als Aufforderungen, bestimmte Handlungen auszuführen oder zu unterlassen. Die Kehrseite dessen ist andererseits die relative Sicherheit hinsichtlich dessen, was Personen voneinander zu erwarten haben. Das nennt man "Erwartungssicherheit". Im Bereich der Institutionen ist sie - im Unterschied zu den Naturgesetzen - immer nur relativ, weil es keine absolute Sicherheit gibt, dass Menschen den an sie gerichteten Erwartungen stets entsprechen. Mit Enttäuschungen und Überraschungen muss gerechnet werden.

Von solchen sozialen Institutionen oder Systemen ist unser menschliches Leben von Anfang an umgeben und durchzogen: Wir werden in eine Familie, also eine Eltern-Kind-Beziehung hineingeboren, die mit der Erwartung verlässlicher Fürsorge und Erziehung verbunden ist. Wer getauft wurde, gehört zu einer Kirche, die eine Institution ist und Institutionen wie Taufe, Abendmahl und Predigtamt enthält. So beschreibt es mit Hilfe des Institutionenbegriffs Artikel 5 des Augsburgischen Bekenntnisses von 1530. Ihre Aufgabe ist die verlässliche Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus.

Wir werden als Bürger eines Staates geboren, dessen Rechtsordnung durch eine Vielzahl von Institutionen geregelt ist. Deren ausnahmslose Verpflichtung ist die Achtung und der Schutz der unantastbaren Würde jedes Menschen. Und zur Aufgabe des Staates gehört auch "unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen" (Barmer Erklärung). Ebenso sind auch das Verhältnis der Geschlechter, das Arbeits- und Wirtschaftsleben, der Bereich der Bildung und Kultur und die Freizeitgestaltung institutionell verfasst. Und diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

Fließender Übergang

In einem weiten Sinn gehören zu den Institutionen alle Handlungsregelungen, von den individuellen Verhaltensgewohnheiten (Habitualisierungen) angefangen bis zu rechtlich gültigen Gesetzen und etablierten Organisationen mit ihren definierten Aufgaben- und Positionsbeschreibungen. Im engen Sinn werden nur die Handlungserwartungen oder Normen als Institutionen bezeichnet, die in all diesen Lebensformen vorausgesetzt und zur Geltung gebracht werden. Dabei ist der Übergang zwischen dem engen und dem weiten Sprachgebrauch fließend.

Hinsichtlich der Bedeutung der Institutionenethik gibt es zwei Aspekte zu bedenken: zunächst den der ethischen Orientierungsleistung, die von den Institutionen ausgeht und für das ethische Handeln der Menschen erbracht wird, sodann den, der die Frage nach dem ethischen Orientierungsbedarf betrifft, der für Institutionen besteht, auf den sie also angewiesen sind. Von beidem soll nun - in dieser Reihenfolge - die Rede sein.

Menschen sind handelnde Wesen, nicht nur, aber weithin. Dass sie das nicht nur sind, wird vor allem sichtbar durch einen Blick auf den frühesten (embryonalen, fetalen und perinatalen) Anfang, auf das letzte (demenzielle oder komatöse) Ende und auf manche inaktive Zwischenphasen (Schlaf oder Betäubung) des menschlichen Lebens. Zwar gibt es im Blick auf das ganze menschliche Dasein so etwas wie eine existenzielle Verantwortung, aber nur im Blick auf unser Handeln haben wir eine ethische Verantwortung, also die Pflicht, über die Gründe für unser Tun und Lassen auf Nachfrage Rechenschaft zu geben.

Das, woraus sich diese Gründe ableiten lassen und woran sie sich messen lassen müssen, bezeichnen wir als die von einem Menschen anerkannten ethischen Normen. Und wenn wir fragen, woher Menschen solche Normen gewinnen, stoßen wir auf die Institutionen, die ihr Leben umgeben und durchziehen. Dabei darf man sich die Aneignung der ethischen Normen durch das Individuum nicht mechanisch oder deterministisch vorstellen. Institutionen und die durch sie repräsentierten Normen haben - wie wir eingangs sahen - appellativen Charakter. Das heißt: Sie sollen oder wollen befolgt werden, aber sie erzwingen diese Befolgung nicht, sondern erlauben Widerspruch.

Vielzahl erfordert Auswahl

Mehr noch: Institutionen erfordern durch ihre Vielzahl eine Auswahl. Das kann man sich am Nebeneinander der Schulformen, der Religionsgemeinschaften oder der Lebensformen (wie Ehe und Ehelosigkeit) leicht bewusst machen. In all diesen Fällen gibt es Wahlmöglichkeiten und -notwendigkeiten. Und dasselbe gilt für viele andere Bereiche ebenso.

Darüber hinaus eröffnen Institutionen individuelle Gestaltungsmöglichkeiten. Der durch sie gegebene Orientierungsrahmen muss ausgefüllt werden. Und so schreiben alle, die eine bestimmte Lebensform für sich wählen und sie mit Leben erfüllen, an der Geschichte dieser Institution mit - und sei es nur zu einem minimalen Grad. Zwar prägen Lebensformen durch ihr Vorgegebensein, aber sie werden auch geprägt und damit verändert.

Aber wenn Institutionen so flexibel und elastisch sind, wozu brauchen wir sie dann überhaupt? Es ist die besondere Leistung der ethischen Orientierung, die Institutionen geben, dass sie die Handlungssteuerung der Einzelnen entlasten. Sie machen sie nicht völlig abhängig von augenblicklichen Stimmungslagen, aktuell begrenzten Einsichten und Reflexionen, sondern stellen für die ethische Orientierung des Individuums menschheitsgeschichtlich erworbenes Erfahrungswissen zur Verfügung, das sich als erprobt und bewährt empfiehlt und zugleich die wechselseitige Erwartungssicherheit zwischen Menschen erhöht. Gegenüber einer Situation, in der wir jede ethisch relevante Entscheidung hinsichtlich unseres religiösen, wirtschaftlichen, politischen und geschlechtlichen Lebens von Null an ableiten und begründen müssten und damit hoffnungslos überfordert wären und handlungsunfähig würden, bieten die Institutionen, sofern sie unseren Handlungen Orientierung geben, ein wesentlich erhöhtes Maß an Stabilität. Davon profitieren wir alle; denn das macht unsere Handlungen für uns selbst und für andere berechenbarer und ermöglicht zugleich die Konzentration unserer reflektierten Entscheidungen auf Situationen, in denen uns die Institutionen keine verlässliche Orientierung zur Verfügung stellen.

Kinder an erster Stelle

Den wichtigsten emotionalen und sozialen Gewinn eines solchen funktionsfähigen Institutionenethos haben naturgemäß die verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft: an erster Stelle Kinder, aber auch Alte und Menschen mit einer schweren intellektuellen Behinderung. Sie alle sind auf ein hohes Maß an Erwartungssicherheit angewiesen, wie es nur durch Institutionen gewährleistet werden kann. Deshalb müssen sich auch die ethischen Diskussionen über gleichgeschlechtliche Lebensformen, wie sie in Kirche und Gesellschaft geführt werden, primär am Wohlergehen der besonders verletzlichen Gruppen - insbesondere der Kinder - ausrichten.

Angesichts der Flexibilität und geschichtlichen Veränderbarkeit von Institutionen stellt sich nun aber mit Nachdruck die zweite Frage: Woher gewinnen Institutionen selbst ihre ethische Orientierung? Woran orientieren sie sich?

Ich möchte auf drei Autoren hinweisen, die darauf im 20. Jahrhundert wegweisende Antworten gegeben haben: Arnold Gehlen, Emil Brunner und Hans Jonas.

Arnold Gehlen (Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940, 16. Auflage 2014) leitet das Bedürfnis nach Institutionen ab aus der naturgegebenen menschlichen Verfassung als Mängelwesen, dessen Verhaltenssteuerung - im Unterschied zu den Tieren - nur in geringem Maße durch seine Instinkte vorgegeben ist und darum vom Menschen selbst kulturell erarbeitet werden muss. Der Mensch gibt sich mit seiner mangelhaften Ausstattung nicht zufrieden, sondern sucht nach einer sinnvollen, zielorientierten Gestaltung seines Lebens in allen Bereichen. Und hierbei erweisen die Institutionen ihre grundlegende Bedeutung für das menschliche Leben. Die Defizite in der biologischen Ausstattung werden so teilweise ausgeglichen und werden - vermittelt durch Institutionen - zum Motor der kulturellen Gestaltung.

Dem Leben dienlich

Für das Ziel solcher Gestaltung hat Emil Brunner (Das Gebot und die Ordnungen, Zürich 1932, 3. Auflage 1939, S. 387) den Begriff "Lebensdienlichkeit" vorgeschlagen, der insbesondere in neuerer Zeit seine Bedeutung und Leistungsfähigkeit erwiesen hat. "Was dem Leben dient", ist zunächst das, was der Erhaltung der Menschheit dient und was damit unvermittelt an den Schöpfungsauftrag anschließt: "Seid fruchtbar und mehret euch." (1. Mose 1, 28)

Darin kommt die aus dem Schöpfungsglauben resultierende Gewissheit zum Ausdruck, "daß eine Menschheit sei" (Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/Main 1979, Taschenbuchausgabe 1984, S. 91). Angesichts der negativen demographischen Entwicklung in unserem europäischen Kontext und einer weithin überbordenden Vermehrung der Weltbevölkerung in anderen Weltgegenden wird bewusst, wie wenig sich dieser kategorische Imperativ von selbst versteht. Das ist der eine, quantitative Bedeutungsaspekt des Kriteriums der Lebensdienlichkeit von und durch Institutionen.

Der andere, qualitative Bedeutungs-aspekt besteht in dem Erfordernis der menschenwürdigen und am Gemeinwohl orientierten Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Dieser qualitative Aspekt ist weniger eindeutig als der quantitative, denn in ihm stoßen die unterschiedlichen, teilweise sogar gegensätzlichen Menschenbilder der verschiedenen Weltanschauungen und Religionen unter pluralistischen Bedingungen aufeinander. Hier ist darum auch der besondere Ort, an dem das Christentum sein Menschenbild in den gesellschaftlichen Diskurs und Streit um die Institutionen, die dem Leben dienen, einzubringen hat.

Zu den pluralistischen Bedingungen, unter denen diese Auseinandersetzung heute erfolgt, gehört aus christlicher Sicht zumindest zweierlei:

einerseits der Mut und die Bereitschaft, das christliche Verständnis vom Menschen so klar und unbefangen wie möglich zu formulieren und öffentlich zu vertreten - so wie wir dies auch von anderen Religionen und Weltanschauungen im Blick auf ihr Menschenbild erwarten;

andererseits die Achtung, der Respekt vor diesen anderen Menschenbildern und vor den Personen, die sie vertreten. Dabei muss noch gelernt werden, dass Achtung etwas anderes ist als Zustimmung und Anerkennung. Im Gegenteil: Gerade der klare sachliche Widerspruch kann Ausdruck der Achtung zwischen Menschen sein, die sich auf diese Weise in ihren Überzeugungen gegenseitig ernst nehmen.

In einer pluralistischen Gesellschaft wie der unsrigen ist es notwendig, nicht nur diese beiden Einstellungen zu praktizieren, sondern darüber hinaus an der Entwicklung von Institutionen mitzuarbeiten, innerhalb deren der Diskurs und das Ringen um die institutionelle Verfassung unserer Gesellschaft seinen gewaltfreien Ort findet. Die Mitwirkung daran sollten die Kirchen nicht versäumen, damit auch in dieser Hinsicht für das Raum geschaffen wird, was dem Leben dient.

Wilfried Härle

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