Gefilterte Innovationen

Auch im 21. Jahrhundert werden noch Kirchen und Kapellen gebaut
Das Gebäude zum Piktogramm: Autobahnkirche Siegerland. Foto: dpa/ Andreas Secci
Das Gebäude zum Piktogramm: Autobahnkirche Siegerland. Foto: dpa/ Andreas Secci
Ja, der ungeliebte Sichtbeton kommt weiterhin vor im zeitgenössischen Kirchenbau. Doch darauf kann er nicht reduziert werden. Formensprache und Materialien sind so vielfältig wie die religiöse Landschaft des christlichen Glaubens. Gibt es dennoch verbindende Trends? Thomas Erne, Professor für Praktische Theologie an der Universität Marburg beschreibt herausragende Beispiele.

Wenn evangelische Christen sich ihrer Identität versichern wollen, ziehen sie konstitutive Texte zu Rate, das biblische Zeugnis, die altkirchlichen Symbole, die Bekenntnisschriften. In das Feld protestantischer Selbstvergewisserung gehören aber nicht nur die prägnanten Formeln der Confessio Augustana, sondern auch die Ausdrucksformen, die von der religiösen Praxis hervorgebracht werden und in denen sie sich vollzieht. In einer solchen Kulturgeschichte religiöser Ausdrucksformen ist neben Musik, Kunst, Literatur, Film und Medien auch der Kirchenbau von Bedeutung. Kirchen sind äußere Formen, die ihren inneren Sinn vom religiösen Vollzug der Gemeinde, von Gottesdienst, Andacht und Gebet her gewinnen. Auch Kirchen sind dem geschichtlichen Wandel unterworfen, der alle religiösen Ausdrucksformen betrifft. Aber da sie diesen Wandel in Architektur abbilden, ein relativ stabiles, dauerhaftes und finanziell aufwendiges Medium, wirken Kirchen wie ein Filter. Nur die religiösen Innovationen, die ihre Nachhaltigkeit unter Beweis gestellt haben, gehen in das Repertoire der Kirchenarchitektur ein.

Blickt man auf den Kirchenbau der Nachkriegszeit fällt die innovative Entwicklung eines neuen Typus von Kirche auf. Das multifunktionale Gemeindezentrum verabschiedet sich von jeglichem hegemonialen Anspruch. Es verzichtet auf dominante Gesten, etwa einen Kirchturm, und sucht so bescheiden wie dienstbar die Nähe zum Alltag der Menschen. Umstritten sind vor allem diejenigen multifunktionalen Gemeindezentren, die auf jede sakrale Anmutung verzichten. Aber hinter ihrer Profanität steht das anspruchsvolle theologische Programm einer Kirche in nachsakraler Zeit. In Dietrich Bonhoeffers Formel ist der Gott, der mit uns ist, der Gott, der uns verlässt. In ihrer konsequenten Profanität wollen die Gemeindezentren bezeugen, dass die Welt zur säkularen Welt wird, indem Gott sie am Kreuz verlässt - und Gott in dieser Unterscheidung auf die Welt bezogen bleibt. Säkularisierung, so könnte man sagen, ist kein äußerliches Schicksal der christlichen Religion, sondern ihr Beitrag zur modernen Welt.

Das theologisch anspruchsvolle Programm der Gemeindezentren führt aber selten zu ansprechender Architektur. Das ist anders beim Gemeindezentrum Maria-Magdalena in Freiburg-Rieselfeld: konzeptionell im Blick auf Ökumene und ästhetisch im Blick auf seine eindringliche Symbolik. Der Grundriss des Gemeindezentrums, 2004 von Kister, Scheithauer, Gross gebaut, entwickelt die Ökumene als versöhnte Vielfalt. Einerseits leben die Konfessionen ihre Identität im je eigenen Kirchenraum. Anderseits lassen sich die schweren Betonwände, die beide Kirchenräume vom zentralen Foyer trennen, aufschieben. Der weite Raum, der dann entsteht, wenn konfessionelle Grenzen überwunden werden, versammelt katholische und evangelische Christen um den Taufort als neue gemeinsame Mitte.

Das Gemeindezentrum Maria-Magdalena ist zweisprachig. Es spricht die Sprache der Kunst, ein autonomes Baukunstwerk, das seine ästhetische Wirkung aus sich selber heraus entfaltet. Und es spricht die Sprache der Religion. Allerdings sieht man diesem wuchtigen Bau erst auf den zweiten Blick an, dass es sich um ein religiöses Bauwerk handelt, ein Schutzraum des Glaubens, tief verwurzelt in der Erde und zugleich ein Ort des Aufbruchs, denn die massiven Wände scheinen sich auseinanderzufalten und nach oben hin zu öffnen. Das starke Bild, das zwischen Bunker und zerknitterter Einkaufstüte oszilliert, überwindet die ästhetische Belanglosigkeit der Gemeindezentren der Nachkriegszeit, ohne hinter die Einsicht einer notwendigen Entsakralisierung des Kirchenbaus in einer nachsakralen Zeit zurückzufallen. Denn seine starke sinnliche Wirkung erzielt Maria-Magdalena nicht durch eine sakrale Aufladung, sondern als autonomes Baukunstwerk, das sich für eine religiöse Deutung öffnet.

An Autobahnen, in Flughäfen, Schulen, Universitäten und Einkaufszentren entstehen neue Kapellen, oft durch private Initiative, während viele Gemeindekirchen um ihren Fortbestand bangen. Autobahnkapellen sind Orte für die individuelle Einkehr (domus hominis religiosi) und kein Ort, an dem sich eine Gemeinde versammelt (domus ecclesiae). Der Autofahrer sucht einen Moment der Stille, keine Predigt und keine liturgische Feier. Die Botschaft ist vielmehr der Raum selber und die Unterbrechung, die er leistet, wenn auch nur für Minuten. Zwar sind Kapellen an Pilgerwegen nichts Neues. Neu ist jedoch, dass sich die individuelle Andacht nicht mehr zwingend auf die Kirche als Ort einer übergreifenden Perspektive bezieht. Die spektakuläre Autobahnkirche, die von den Architekten Schneider und Schumacher 2013 in Wilsdorf gebaut und von einem Ehepaar gestiftet wurde, ist zwar eindeutig in ihrem christlichen Anspruch. Außen wird der abstrakte Baukörper von zwei spitzen Zipfeln flankiert, die in der Fernsicht exakt wie das Logo aussehen, das auf Ausfahrtschildern auf Autobahnkirchen hinweist.

Umgekehrter Package Deal

Innen bietet der Raum die Sitzordnung einer kleinen Gottesdienstgemeinde, ausgerichtet auf Kreuz, Altar und Ambo. Aber trotz des christlichen Anspruchs wird die Kapelle von vielen Besuchern und Kritikern nicht in erster Linie als christliche, sondern als spirituelle Stätte wahrgenommen. Es ist der umgekehrte package deal der Gotik, an die der Innenraum in Wilsdorf erinnert. Die spektakuläre Architektur muss die Idee des Christlichen tragen - nicht umgekehrt. Die passgenau auf die Situation des Autofahrens abgestimmte Kapelle bietet eine zeitlich begrenzte und ästhetisch reizvolle Erfahrung von Transzendenz, die man auch christlich deuten kann. Nach dem gleichen Prinzip bringt in St. Moritz in Augsburg die radikal-minimalistische Ästhetik, durch die der englische Architekt John Pawson die Kirche überwältigend in Szene setzt, die barocken Apostelfiguren wieder zum Sprechen - und nicht umgekehrt.

Blickt auf man auf die Zahlen, 21.000 evangelische Kirchen in Deutschland bei sinkender Kirchensteuer und abnehmenden Mitgliederzahlen, dann wird der Kirchenbau im 21. Jahrhundert vor allem mit der Frage nach einem intelligent shrinking, einem Abbau und Umbau der kirchlichen Immobilien beschäftigt sein. Ökonomisch ließe sich das Problem einfach lösen. Kirchen, die ihre Gemeinde nicht mehr unterhalten können, werden verkauft oder abgerissen. Eine ökonomische Lösung des Problems überzähliger Kirchen scheitert aber an ihrem Symbolwert. An eine Kirche bindet sich nicht nur das kollektive Gedächtnis. Eine Kirche, wenn es sich um gute Architektur handelt, erhebt einen spezifisch religiösen Geltungsanspruch, der sich vom Bauwerk nicht einfach ablösen lässt. Die Umwidmung einer Kirche in ein Büro, Turnhalle, Kletterhalle, Buchladen, Restaurant setzt sich in Widerspruch zu diesem Anspruch. Aber auch die Lösungen wie Museen, Bibliotheken oder Konzerthallen, die mit dem religiösen Charakter der Kirche verträglicher sind, lösen nicht den Widerspruch.

Wie steht es dann mit der erweiterten Nutzung, die von Gemeinden selber geplant werden, um ihre Kirche finanziell zu retten? Beispielsweise wird statt der Kirche das Gemeindehaus verkauft und die notwendigen Funktionsräume in die Kirche integriert. Das kann dann eine Lösung sein, wenn die religiöse Ausstrahlung der Kirche gewahrt, ja sogar gestärkt wird durch ihre erweiterte Nutzung.

Den Architekten Christ und Gantenbein ist dieses Kunststück 2010 mit der Renovierung der Swiss Church in London gelungen. Einerseits haben sie den religiösen Anspruch der Kirche in gut reformierter Tradition dadurch gestärkt, dass sie den Raum auf das Wesentliche reduziert haben. Zum anderen haben sie die neuen Funktionsräume so in die Kirche eingestellt, dass diese in ihrer Wirkung noch gesteigert wird. Denn die Funktionsräume sind als eine eigenständige Skulptur aus spiegelnden und transparenten Flächen ausgestaltet, in denen sich der Kirchenraum vervielfältigt und weitet.

Bereit zur Trennung

Wer im 21. Jahrhundert neue Kirchen bauen will, muss bereit sein, sich von alten Kirchen zu trennen. Die fusionierte evangelische Brückenschlag-Gemeinde im Kölner Stadtteil Flittard und Stammheim trennte sich von zwei Gebäuden aus den Sechzigerjahren. Die Lukaskirche wurde zum Seniorenstift umgewandelt und das Dietrich-BonhoefferGemeindehaus abgerissen. An seiner Stelle wurde 2013 die Immanuelkirche von Sauerbruch und Hutton gebaut.

Man darf gespannt sein, was die Flittarder über ihre neue Kirche sagen werden. Einen "kahlen Kasten" nannten die Aachener Rudolf Schwarz' epochemachende katholische Fronleichnamskirche von 1930. Auch die evangelische Immanuelkirche erinnert an einen kahlen Holzkasten, zwei niedrige Seitenschiffe, ein hohes Mittelschiff, die Grundform einer dreischiffigen Basilika. Und im Innern? Wie in Aachen sitzt auch die Brückenschlag-Gemeinde vor einer hohen bildlosen Wand. Doch sind die Architekten Sauerbruch und Hutton weniger streng als Rudolf Schwarz es in Aachen war. Dort zerschellt das anschauliche Bedürfnis der Gemeinde an einer hohen weißen und abweisenden Wand.

Sauerbruch und Hutton bieten den Gläubigen dagegen einen doppelten Brückenschlag zur Transzendenz. Die Altarwand in Immanuel leitet die Blicke vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. Sie ist durchbrochen, zusammengesetzt aus vielfarbigen Holzstäben, die unten dunkler, nach oben hin immer heller werden, bis die Wand sich ins Licht auflöst, das von oben kommt. Nur die roten Stäbe widerstehen dieser Auflösung der Farbe ins helle Licht. Sie wirken daher wie Pfingstflammen, die vom Himmel auf die Erde fallen. Und die Orgel, die hinter der durchbrochenen Wand verborgen ist, führt die Gemeinde vom körperlichen Eindruck der Musik zum unkörperlichen Erleben einer übergreifenden Harmonie, ohne die der sinnliche Eindruck der Musik sinnlos wäre.

Epoche wird vermutlich auch diese Kirche machen, nicht nur weil sie eine der wenigen neuen evangelischen Kirchen im 21. Jahrhundert ist. Es ist das Konzept, das die Immanuelkirche zum Vorbild macht. Sie ist dezidiert eine Kirche. Das Mittelschiff erhebt mit bescheidenem Material, aber anspruchsvoller Architektur unmissverständlich einen religiösen Anspruch. Die Höhe und Weite des Raumes, die Ausrichtung auf den Altar, die Lichtführung, weisen diesen Raum als einen unverwechselbaren Ort religiöser Erhebung und Weitung des Daseins aus. Zugleich ist die Kirche ein Gemeindezentrum. In den Seitenschiffen sind die Funktionsräume der Gemeinde untergebracht. Der Übraum der Band kann zum Altarraum zugeschaltet werden. Dann ergibt sich als Grundriss eine klassische Kreuzform. Immanuel vereinigt auf diese Weise den Vorzug einer Kirche mit den geselligen und funktionalen Vorzügen des Gemeindehauses zu einem neuen Bautyp: Das integrale Kirchenzentrum.

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Thomas Erne

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