Mehr als Geschichte

Was feiern wir 2017? Anmerkungen zum neuen Grundlagentext der EKD
Folklore statt Theologie: Das diesjährige Lutherpaar im Rathaus von Lutherstadt Wittenberg. Foto: dpa/ Peter Endig
Folklore statt Theologie: Das diesjährige Lutherpaar im Rathaus von Lutherstadt Wittenberg. Foto: dpa/ Peter Endig
Wollte man die Ergebnisse der historischen Wissenschaft radikal ernst nehmen, wäre es überhaupt schwierig, am 31. Oktober 2017 irgendetwas zu feiern. Doch beim Reformationsjubiläum gehe es eben nicht nur um Geschichte, sagt Christoph Markschies. Er war Vorsitzender einer Ad-hoc-Kommission der EKD, die in einem Grundlagentext die reformatorische Theologie auch für Laien erläuterte. Hier beschreibt er dessen Inhalt und geht auf die Kritik der Historiker Thomas Kaufmann und Heinz Schilling ein.

Es gibt vermutlich sehr wenige Großereignisse, die so gründlich vorbereitet wurden und werden wie das Reformationsjubiläum 2017: Seit 2008 spielen die Themenjahre der Lutherdekade eine Rolle im kirchlichen und öffentlichen Leben, mal mehr, mal weniger, vielleicht am deutlichsten im Jahr 2012 zum Thema Musik, aber auch mit dem vielfältigen Angeboten zum Thema Bildung (2010) oder Toleranz (2013). Auch staatliche Stellen engagieren sich, soweit das der rechtliche Rahmen des Staat-Kirche-Verhältnisses hierzulande erlaubt: Ein gemeinsam besetztes Kuratorium und ein wissenschaftlicher Beirat begleiten, wie in solchen Fällen üblich, die Arbeit. Der Wissenschaftliche Beirat hat schon sehr früh seine "Perspektiven für das Reformationsjubiläum 2017" in Form von Thesen formuliert und im Jahre 2012 wurde mit Margot Käßmann eine "Botschafterin" bestellt, die mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit Kerneinsichten der Reformation so formuliert, dass viele Menschen sich angesprochen fühlen. Eine Fülle von Ausstellungen und anderen Veranstaltungen wird seit langem geplant, insbesondere in Wittenberg finden schon heute an manchen Tagen gleich mehrere Veranstaltungen gleichzeitig statt. Monographien und Biographien erscheinen, wissenschaftliche Textausgaben und solche, die ein breiteres Publikum ansprechen.

Obwohl das alles so ist und vermutlich keines der irgendwie mit der Reformation in Zusammenhang stehenden Jubiläen seit 1517 so gründlich vorbereitet wurde wie das des Jahres 2017 (ich denke beispielsweise an das Lutherjahr 1983 in Ost wie West, dessen Veranstaltungen ich als Student erlebt habe), gibt es natürlich auch Kritik an diesen Vorbereitungen - wie sollte das bei der bekannten Vielstimmigkeit evangelischer Kirchen und unter den Bedingungen einer modernen Mediengesellschaft auch anders sein. Seit längerem hört man den kritischen Einwand, dass bei der umfangreichen Vorbereitungsinitiative die Stimme der Theologie zu leise ertöne und theologische Kernanliegen der Reformation zu wenig in den Mittelpunkt gestellt würden. Natürlich fällt der Chor der Kritiker auch an diesem Punkt vielstimmig aus: Was den einen zu viel theologieferne "Eventisierung" ist, ist den anderen noch zu wenig öffentlichkeitswirksam. Aber kaum jemand leugnet, dass im Umfeld des Reformationsjubiläums ein Bedarf danach besteht, theologische Kernaussagen der Reformation allgemeinverständlich zu formulieren. Und viele wissen oder ahnen zumindest, dass eine solche allgemeinverständliche Reformulierung reformatorischer Kernaussagen keine triviale Aufgabe ist, allzumal dann, wenn nicht nur kirchliche Binnenmilieus angesprochen werden sollen. Lässt sich heute überhaupt noch nachvollziehen, was damals gemeint war?

In nahezu jeder kirchlichen Stellungnahme zur Rechtfertigungslehre findet sich ein Hinweis auf die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Helsinki aus dem Jahre 1963 und die berühmten Sätze, mit denen die angebliche historische Abständigkeit der reformatorischen Rechtfertigungslehre festgehalten wurde: "Der Mensch von heute fragt nicht mehr: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Er fragt radikaler, elementarer, er fragt nach Gott schlechthin: Wo bist Du, Gott? ... er leidet nicht mehr unter seiner Sünde, sondern unter der Sinnlosigkeit seines Daseins; er fragt nicht mehr nach dem gnädigen Gott, sondern ob Gott wirklich ist." Auch wenn in den Jahrzehnten seither immer wieder Anläufe unternommen worden sind, die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Lebenswirklichkeit heutiger, auch nicht kirchlich geprägter Menschen zu explizieren, ist ein selbstverständlicher Zusammenhang von Frage und Antwort erschüttert worden: Es reicht nicht, einfach nur zu behaupten, dass reformatorische theologische Einsichten Antworten auf Fragen von Menschen sind.

Große Erzählungen zerbrochen

Zu dieser Problematisierung der Gegenwartsrelevanz reformatorischer Theologie ist eine deutliche Pluralisierung des Bildes von der Reformationsgeschichte gekommen, die vor allem die außerhalb theologischer Fakultäten vorgelegten Darstellungen der letzten Jahre prägt. Sie hängt auch mit wissenschaftlichen Großtrends zusammen, beispielsweise dem Zerbrechen der großen Erzählungen, dem Misstrauen gegen eine Geschichtsdarstellung, die nur die "großen Männer" in den Blick nimmt und vielleicht sogar nur Martin Luther. "Whig Historiography" nennt man in der englischen Geschichtswissenschaft die Tendenz, die Vergangenheit als Keim unaufhaltsamen Fortschritts hin zu der eigenen ruhmreichen Gegenwart zu präsentieren - und natürlich möchte niemand unter den Bedingungen der Postmoderne "Whig History" schreiben. Der Berliner Historiker Heinz Schilling schließt seine 2012 veröffentlichte Biographie "Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs" mit einem kurzen Epilog, in dem streng festgehalten wird, dass Luther nur "wider Willen ... zum Geburtshelfer der pluralistischen und liberalen Moderne" wurde. Ein anderer Frühneuzeithistoriker, Eike Wolgast, hat vor kurzem formuliert, dass es auf der Basis einer solchen unvermeidlichen Historisierung der Reformation schwierig wird, "Luthers und der Reformation anders als eines nur noch historischen Ereignisses zu gedenken".

Wollte man die Ergebnisse der historischen Wissenschaft radikal ernst nehmen, wäre es überhaupt schwierig, am 31. Oktober 2017 irgendetwas zu feiern: Schon vor vielen Jahren hat der Münsteraner Reformationshistoriker Martin Brecht etwas provokant in die Debatte geworfen, dass Luthers 95 Thesen an manchen Punkten "vorreformatorisch" genannt werden müssen. Sein Tübinger Kollege Volker Leppin hat schließlich darauf aufmerksam gemacht, dass gar nicht wirklich sicher ist, ob Luther diese Thesen an die Tür der Schlosskirche als einem Anschlagbrett der jungen Wittenberger Universität hat anheften lassen.

Nun sind unter den Bedingungen der späten Moderne Gedenkfeiern selbstverständlich nicht nur Gelegenheiten für öffentlichkeitswirksame Aufführungen des jüngsten Forschungsstandes der historischen Wissenschaft, sondern ein Ausdruck des davon natürlich unterschiedenen kulturellen Gedächtnisses der Gemeinschaft, die ein solches Gedenken feiert - die entsprechenden Einsichten des 1945 im KZ Buchenwald an Entkräftung gestorbenen französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs haben Aleida und Jan Assmann in den letzten Jahrzehnten popularisiert. Selbstverständlich muss man darauf achten, dass nicht nur die historische Wissenschaft kulturelle Gedächtnisse untersucht, sondern auch bestimmte Einsichten der historischen Wissenschaft in das kulturelle Gedächtnis eingehen können - aber schon Friedrich Nietzsche hat mit schroffen Worten die Gefahr einer reinen Musealisierung des öffentlichen Lebens durch Historisierung gegeißelt: Ein Reformationsjubiläum bietet eben auch die Chance einer autonomen Aneignung der Vergangenheit durch eine gänzlich anders strukturierte Gegenwart.

Text für Laien

Die Aufgabe, Grundlinien theologischer Einsichten der Reformation zu formulieren, hat der Rat der Evangelischen Kirche im Jahre 2012 einer sogenannten Ad-hoc-Kommission zugewiesen, also einer extra für diesen Anlass von ihm zusammengestellten Gruppe von Theologinnen und Theologen aus Kirche und Wissenschaft, aber auch von sogenannten Laien, einer Erzieherin, einem Soziologen, einem Journalisten sowie der Direktorin eines Amtsgerichtes (dazu selbstverständlich auch einem Reformationshistoriker, nämlich Volker Leppin). Dabei hat der Rat natürlich nicht erwartet, dass man unter den Bedingungen einer ebenso pluralisierten wie säkularisierten Gesellschaft eine einzige Broschüre erarbeiten kann, die einen württembergischen Arbeitslosen ebenso orientiert wie eine Studienrätin aus Hoyerswerda - gedacht war an einen Grundlagentext für kirchlich interessierte Laien, wie man sie in Gemeindekirchenräten findet. Auf der Basis eines solchen Textes können selbstverständlich auch Versuche unternommen werden, den Inhalt so zu formulieren, dass er auf ein Thesenblatt passt und nicht über hundert Seiten benötigt werden, um ihn zu vermitteln, aber auch Formulierungen gesucht werden für Menschen, die der Sache fernstehen. Allerdings war allen Beteiligten von vornherein klar, dass diese Aufgaben nicht nur reine Formulierungsaufgaben sind, sondern ein eigener, separater Arbeitsgang.

Die Broschüre selbst geht zunächst von der Einsicht aus, dass es Aufgabe einer kirchlichen Stellungnahme ist, zur reformatorischen Theologie zu orientieren und nicht über den aktuellen Stand der Reformationsgeschichtsforschung - dies festzuhalten ist wichtig, weil jüngst eben diese Tatsache von zwei klugen Reformationshistorikern bemängelt wurde. Freilich ist die gleich zu Beginn explizierte Grundentscheidung, die Rechtfertigungslehre als zentrales Thema der Reformation damals wie heute zu explizieren, nicht ohne Anhalt an der Reformationsgeschichtsforschung getroffen worden: Bernd Moeller, der schon für die Vorbereitung und Durchführung des Luther-Jubiläums 1983 eine wichtige Rolle spielte, hat wieder und wieder auf die Zentralstellung der Rechtfertigungslehre für die Durchsetzung der Reformation hingewiesen und sogar von einer "lutherischen Engführung" in den Zwanzigerjahren gesprochen. Auch der Wissenschaftliche Beirat hat in seinen bereits erwähnten Thesen die Bedeutung der Rechtfertigung betont: "Die Reformation hat in einer neuen Weise den allein durch Christus gerechtfertigten Menschen als unmittelbar vor Gott stehende Person entdeckt", heißt es in der achten These. Gleichwohl sollte aus theologischen wie historischen Gründen natürlich im Grundlagentext des Rates keine Engführung auf Martin Luther oder Specialissima seiner Theologie vorgenommen werden; so sind im Text immer wieder auch andere Reformatoren präsent - Philipp Melanchthon, Ulrich Zwingli und Johannes Calvin, aber auch der Heidelberger Katechismus, dessen Jubiläum jüngst begangen wurde.

Der Text ist in drei Hauptabschnitte gegliedert: Ein erster Teil beschreibt die Reformation als "offene Lerngeschichte" und versucht, Kernpunkte der Rechtfertigungslehre in heutiger Sprache zu formulieren. Ein zweiter Teil erläutert die reformatorische Theologie anhand der fünf "solus"-Formulierungen (allein Christus, allein aus Gnade, allein im Wort, allein aufgrund der Schrift, allein durch den Glauben) - auch wenn diese Architektur aus Lehrbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts stammt und die in diesem Abschnitt verwendete Sprache deutlich stärker den Texten des 16. Jahrhunderts verpflichtet ist, wurde doch der Versuch unternommen, die existenzielle Grundierung der reformatorischen Theologie sichtbar zu machen. Damit ist nicht in einem schlichten Sinne gemeint, dass reformatorische Theologie die Antwort auf bestimmte offenkundige existenzielle Fragen ist. Oft werden menschliche Fraglichkeiten in ihrem Licht überhaupt erst sichtbar. Ein dritter Abschnitt schließlich fragt, welche Konsequenzen sich aus dem Befund für die Feiern des Jubiläums 2017 und die Zeit bis dahin ergeben. Dabei wird vor allem diskutiert, inwiefern die reformatorische Theologie zu einem großen Thema der Neuzeit, der Freiheit, Beiträge leisten kann und geleistet hat - nämlich zum vertieften Verständnis einer Freiheit, die über ihre notwendigen Bindungen aufgeklärt ist.

Ein Grundlagentext kann und soll nicht mehr sein als eine Grundlage - er soll dabei helfen, diejenige Selbstvergewisserung vorzunehmen, die notwendig ist, um mit anderen ins Gespräch zu kommen, mit den römisch-katholischen Geschwistern, aber auch mit den Kirchenfernen, die gleichwohl ein diffuses Interesse an der Reformation formulieren. Die Ergebnisse solcher Gesprächsgänge kann ein Grundlagentext nicht vorwegnehmen; sie lassen sich im Grunde auch erst am Ende des Jubiläumsjahres bilanzieren.

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Christoph Markschies

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