Unverzichtbar

Ernst Klees letztes Buch
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Klee lässt die Quellen sprechen. Viele sind in ihrer Grausamkeit schwer erträglich.

Akademische Außenseiter haben die Diskussion in ihren Fächern immer wieder angeregt und durch unkonventionelle Methoden und Themen bereichert. So auch in der Geschichtswissenschaft, wo als Beispiele der Neuzeithistoriker Götz Aly und der jüngst verstorbene Journalist, Theologe und Historiker Ernst Klee zu nennen sind. Während sich Aly in latenter Dauerfehde mit Kollegen an den Hochschulen befindet, hat sich Klee durch penibelste Archiv- und Quellenstudien zur NS-Zeit einen Namen gemacht und großes Ansehen erworben. Seine Bücher zu Behinderten und zur Medizin, zu Personen und zum Kulturgeschehen in der NS-Zeit sind teilweise als Standardwerke gerühmt und mehrfach ausgezeichnet worden.

Kurz vor seinem Tod am 18. Mai 2013 hat Klee noch ein umfangreiches Buch über Täter und Oper in Auschwitz fertigstellen können. Es ist ein "Personenlexikon" mit mehr als 4.500 Biografien. In der Mehrzahl sind es Angehörige der SS und anderer Dienststellen, ferner besonders berüchtigte Kapos (privilegierte Häftlinge mit Sonderaufgaben), aber auch zahlreiche jüdische Opfer wie etwa Jean Amery, von denen oder über die es Berichte über ihre Untaten beziehungsweise über ihr Leiden und Sterben gibt. Das immense Studium von Akten und Quellen hat Klee, wie er dankend einräumt, nur leisten können dank der Hilfe der Frankfurter Justiz, die ihm die Unterlagen des Auschwitz-Prozesses in den Jahren 1963 bis 1965 zur Verfügung gestellt hatte.

Wo immer es möglich war, gibt Klee biographische Daten und ergänzt sie durch andere Zeugnisse. Solche Zeugnisse gibt es nicht nur über Täter wie die Kommandanten Höß und Kramer, die KZ-Ärzte Mengele und Wirths oder über die zum Symbol für Grausamkeit und Brutalität gewordenen SS-Chargen wie Boger, Kaduk und Broad; selbst bei niedrigeren Dienstgraden hat sich deren Wüten bei den Häftlingen derart traumatisch eingegraben, dass später, wo immer es möglich war, über sie in Erinnerungen oder in Aussagen vor Gerichten berichtet wurde.

Wo keine oder kaum biographische Daten auffindbar waren, hat Klee anhand der Funktion des Betroffenen allgemeine Informationen zum System des Lagers am jeweiligen Beispiel gegeben, seien es Kraftfahrer, Vergaser, Wachpersonal oder medizinische Hilfs- und Schreibkräfte. Auf diese Weise gerät das Lexikon schon beinahe zu einer Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz schlechthin, wie sie wohl sobald nicht übertroffen werden kann.

Klee lässt die Quellen sprechen. Viele sind in ihrer Grausamkeit schwer erträglich. Aber: "Was wir kaum ertragen, beschreiben zu müssen, mussten Menschen am eigenen Leib erfahren." Nur einmal reagiert Klee überaus emotional, und zwar im Beitrag über den Psychotherapeuten Viktor Emil Frankl. Dieser "Drei-Tage-Häftling" habe, so Klee, nach 1945 mit seinen weltweit erfolgreichen Büchern die Opfer eher beleidigt, die Täter beschwiegen und für sich selbst aus einer angeblichen Opferrolle ein profitables Geschäft gemacht.

Kritik scheint bei dieser außerordentlichen Leistung unangebracht. Allenfalls mag man erwähnen, dass die historischen Darstellungen mitunter nicht immer überzeugend wirken, dass mehrere Lebensläufe nicht in die Jahre nach 1945 weiterverfolgt werden und dass das Literaturverzeichnis angesichts der vielen zitierten Quellen ausführlicher sein könnte. Einige Male wirkt, wie beim Häftling Imo Moszkowicz, der breite Beitrag zum Kulturleben in Auschwitz nur angehängt. Aber das sind Marginalien zu einem künftig unverzichtbaren Buch dieses außergewöhnlichen Autors.

Ernst Klee: Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2013, 512 Seiten, Euro 24,99.

Dirk Klose

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