Erinnern

Druck der Verhältnisse
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Hackl folgt den Erzählungen der Mutter, die mal hier, mal da ansetzen. Es sind viele kleine Geschichten, die sich zu einem Panorama fügen.

In der Regel fällt es Söhnen und Töchtern schwer, sich in die Kindheit und Jugend ihrer Eltern einzufühlen, um so mehr, wenn es sich um die Zeit vor 1945 handelt, die von Schrecken verhangen ist. Doch von Erich Hackl, der als sensibler Erzähler vergessener Lebensschicksale bekannt ist, kann man empathisches Erinnern lernen. "Dieses Buch gehört meiner Mutter" behandelt keineswegs die Beziehung des Sohns zur Mutter, es gehört wirklich allein der Mutter. Ihr gibt Hackl Stimme, ihre Lebenswelt lässt er erstehen: eine Kindheit in einem entlegenen Dorf in Oberösterreich, geprägt von harter Arbeit auf kargem Boden. Der Horizont reicht nur bis zu den nächsten Bergen, doch spiegelt sich in diesem kleinen Kosmos alle menschenmögliche Lebenssehnsucht genauso wie alle menschenmögliche Verblendung.

Hackl folgt den Erzählungen der Mutter, die mal hier, mal da ansetzen. Es sind viele kleine Geschichten, die sich zu einem Panorama fügen, oft in freien Versen verdichtet, doch immer in der einfachen Sprache der Bauerntochter, die keine Deutungen kennt, in der Schrecken und Freuden zwischen den Zeilen um so stärker nachklingen. Vom Schulbrot ist die Rede, das bei manchen Kindern verschimmelt war, von der immer drohenden Not, sich zu verschulden oder etwas zu versaufen und dem "allergrößten Unglück: ledig schwanger zu werden". Von jungen Frauen, die zur Abtreibung gezwungen wurden und dabei starben, von Nachbarstöchtern, denen der Vater nachstieg und keiner konnte dem wehren. Oft kommen die Erinnerungen darauf zu sprechen, wie schnell die Frauen verdächtigt wurden, wie selbstverständlich sie im Schatten der Männer und Söhne standen, die wiederum lernen mussten, "steinhart gegen sich selbst" zu sein. Aber gerade weil sie es alle nicht anders kennen, verstehen sie sich auch auf Gesten der Barmherzigkeit und Fürsorge: Der kleine Diebstahl wird verziehen, der begriffsstutzige Knecht nicht entlassen. In der Schule mag es Schläge geben, aber die Bauernbuben wissen sich zu wehren. Wenn gefeiert wird, dann tagelang, wenn im Winter Märchen erzählt werden, dann ist es das reine Glück. Überhaupt fangen die Sätze von den Glücksmomenten vielleicht am meisten Kindheit ein: "Den Schaum vom Bierglas schlecken, aufs Christkind warten, einen Schutzengel haben, ein gutes Wort hören..."

Dann bricht der Nationalsozialismus auch in diese Abgeschiedenheit ein, der Pfarrer verschwindet, der Briefträger wird wegen Homosexualität angezeigt. Der Krieg kommt spät: "Das erklärt mein Verkennen von Ursache und Wirkung" - erst in Gestalt von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, dann mit der Nachricht, dass der Lieblingsbruder gefallen ist. Die Schrecken nehmen zu, die Kindheit ist zu Ende.

"Dieses Buch gehört dem König" nannte die Schriftstellerin Bettina von Arnim (1785 bis 1859) das Buch, in dem sie die Missstände ihrer Zeit anprangerte. Erich Hackl bezieht sich bewusst auf diesen Titel. Auch er zeichnet das Unheil der Zeit nach, aber er zeigt auch, dass Menschenleben nicht im Druck der Verhältnisse aufgeht, dass sich Herz und Humor auch im Elend immer wieder behaupten.

In der Genauigkeit der Beobachtung, der erzählerischen Meisterschaft erinnert das Buch an den Film "Das weiße Band" von Michael Haneke, nur verweigert es seinen Protagonisten das Mitgefühl nicht. Man wird diese Mutter so schnell nicht vergessen. Und für alle, die Seniorenarbeit machen: Viele der Erinnerungsminiaturen eignen sich wunderbar als Anstoß für ein Erzählcafé!

Erich Hackl: Dieses Buch gehört meiner Mutter. Diogenes Verlag, Zürich 2013, 128 Seiten,

17,90 Euro

Angelika Obert

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