Wie die Nase im Gesicht

Nicht jeder Dialysepatient sehnt sich nach einer Spenderniere
Bei der Dialyse (von links): Ahmed B., Jörn Erdmann und Marco P. Foto: Constanze Broelemann
Bei der Dialyse (von links): Ahmed B., Jörn Erdmann und Marco P. Foto: Constanze Broelemann
Die Zahl der Organtransplantationen in Deutschland sinkt kontinuierlich, 2013 wurden erstmals seit zehn Jahren weniger als 1.000 fremde Organe in einen anderen Körper implantiert. Was sagen die Betroffenen selbst? Constanze Broelemann hat in Berlin mit drei Dialysepatienten gesprochen

Die Nierenkrankheit ist meine Nase im Gesicht", sagt Jörn Erdmann. Sie gehört zu ihm und zum Alltag des 47-jährigen Architekten, der seit seiner Jugend an Niereninsuffizienz leidet. Mit 18 Jahren wurde ihm zum ersten Mal eine fremde Niere eingepflanzt, weil er sonst nicht überlebt hätte. Damals war es seine Mutter Hannelore, die ihm eine ihrer Nieren spendete.

BILD (Hannover) titelte 1987, "Mutter und Sohn in der MHH operiert. Vater bekam Millionen-Preis." Weil der Tag von Jörn Erdmanns Operation in der Medizinischen Hochschule Hannover so ungewöhnlich war, standen sogar die Reporter von BILD vor der Tür.

Denn Jörns Vater, Volker Erdmann, ist ein international bekannter Biochemiker, der damals an der Freien Universität Berlin als Genforscher tätig war. Just als seine Frau aus dem OP geschoben wurde, erhielt Volker Erdmann einen Anruf von der Redaktion der Boulevard-Zeitung. "Ich hörte etwas von einem Preis und drei Millionen. Aber ich habe nur auf meine Frau geachtet", wird Erdmann in dem Blatt zitiert. Später dann erfuhr der Wissenschafter, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft ihm den mit drei Millionen Euro dotierten Leibniz-Preis verliehen hatte.

Jörn konnte mit der Niere seiner Mutter sechs Jahre lang gut leben. Er machte sogar das für Architekturstudenten obligatorische Praktikum auf dem Bau. Irgendwann merkte er jedoch, dass er zunehmend Konzentrationsprobleme hatte. "Das war Ausdruck der körperlichen Vergiftungserscheinungen. Die Niere funktionierte nicht mehr gut", erinnert er sich.

Als das Organ, von dem der Mensch zumindest ein funktionierendes braucht, nicht mehr aktiv war, musste Jörn zum ersten Mal an die Dialyse. Bei diesem Verfahren übernimmt eine Maschine die Funktion der Nieren, reinigt das Blut des Patienten von Giftstoffen und entzieht dem Körper das Wasser über das Blut. Schwer nierenkranke Menschen können weder zur Toilette gehen und urinieren noch einfach trinken oder essen, was sie wollen. Jeder Tropfen Flüssigkeit, der dem Körper zu viel zugeführt wird, muss während der Dialyse entzogen werden. Drei Mal pro Woche vier bis fünf Stunden lang liegt ein Nierenkranker an der Dialyse, ein körperlich extrem anstrengendes Verfahren. "Wir können das Wasser nur über das Blut herausziehen. Daher verdicken wir es, was für das Herzkreislaufssystem sehr fordernd ist", sagt Jan Hörstrup, leitender Arzt im kfh Nierenzentrum in Berlin-Charlottenburg. Der Nierenarzt oder "Nephrologe" betreut auch Jörn Erdmann.

Hörstrup macht deutlich, dass eine Dialyse nur zweite Wahl gegenüber einer Transplantation sein kann: "Transplantierte Menschen haben einen klaren Überlebensvorteil." Die Dialyse sei auf Dauer für den Körper eine Tortur. Mit ihr kann man lediglich bis zu fünfzehn Prozent der normalen Nierenfunktion erreichen, und das an drei Tagen in der Woche während der fünfstündigen Behandlung. "Ein transplantiertes Organ erreicht vierzig Prozent der Nierenleistung und das 24 Stunden am Tag", rechnet Hörstrup vor.

Auch Jörn Erdmann musste bereits sechs Operationen über sich ergehen lassen, weil sein "Shunt-Arm" derart malträtiert war. Der "Shunt" ist der Dialysezugang im Arm des Patienten. Hierbei nähen Gefäßchirurgen Vene und Arterie zusammen, um eine bestimmte Blutströmung zu erreichen. In diesen Shunt werden dann bei jeder Dialyse-Behandlung 1,6 Millimeter dicke Nadeln eingeführt, um das Blut zu "waschen".

Was für einen gesunden Menschen, wie eine unendliche Zeit- und Lebenseinschränkung erscheint, ist für Jörn Erdmann nichts besonderes mehr. "Ich mache das jetzt seit Jahren. Inzwischen bin ich auf der Dialysestation auch sozial gut vernetzt", sagt er. Im Dialysezentrum sind heute Marco P. und Ahmed A. seine Bettnachbarn. Man kennt sich seit Jahren, inzwischen sind sogar Freundschaften entstanden. "Wir kommen hier nicht weg, deshalb versuchen wir, es uns so lustig wie möglich zu machen", sagt Marco P. Vor seiner Erkrankung war der kantige Mann Zivilfahnder bei der Polizei. Jetzt ist er frühpensioniert und muss wie die anderen auch drei Mal wöchentlich an die Dialyse. Für alle drei hat die Krankheit starke Auswirkungen auf den Beruf. Entweder sie können gar keiner regelmäßigen Tätigkeit mehr nachgehen, oder sie sind freiberuflich tätig. Mit einem neuen Organ würde sich das voraussichtlich ändern.

Marco P. will von einer Transplantation dennoch derzeit nichts wissen. "Das ist ein unchristliches Verfahren", sagt er. Er hat auch seine Zweifel daran, ob der Mensch bei einem Hirntod wirklich tot ist. Der Hirntod ist zwingendes Kriterium bei der so genannten postmortalen Spende. Vor der Entnahme eines Organs muss dieses von zwei Ärzten unabhängig voneinander diagnostiziert werden. Befragt man Ärzte zu diesem Thema, räumen sie jegliche Zweifel entschieden aus dem Weg. Es gebe keinen sichereren Weg, den Tod festzustellen, als über die Hirntoddiagnostik, sagt der Mediziner Hörstrup. Auch Ulrich Frei, Klinischer Direktor der Berliner Charité und langjähriger Experte auf dem Gebiet der Transplantationsmedizin, sagt, dass es in Deutschland keinen einzigen belegbaren Fall gäbe, bei dem einem "Nicht-Toten" ein Organ entnommen wurde.

Marco P. räumt ein, dass die Veränderungen, die die Krankheit mit sich brachte, seine Zweifel genährt haben könnten. "Früher war ich ein zu hundert Prozent treuer Staatsdiener. Heute hinterfrage ich alles", sagt er.

Bettnachbar Ahmed hat vor allem Angst vor den Medikamenten, die er nach einer Transplantation nehmen müsste - die Immunsupressiva, also Tabletten, die die Abwehr des Körpers schwächen, damit das fremde Organ nicht abgestoßen wird. Das erhöht natürlicherweise die Anfälligkeit für alle möglichen Erkrankungen. "Aber wenn ich einen Anruf bekäme, würde ich, glaube ich, gehen", sagt er. Was ihm am meisten zu schaffen macht, ist, dass er nicht einfach soviel Wasser trinken kann, wie er will.

Eine Frage des Kopfes

So einen besagten "Anruf" von Eurotransplant hatte Jörn Erdmann bereits. Und zwar vor der Transplantation seiner zweiten Niere. Eurotransplant mit Sitz im niederländischen Leiden ist die Vermittlungsstelle für Organspenden in den Benelux-Ländern, Deutschland, Österreich, Slowenien, Kroatien und Ungarn. An der internationalen Zusammenarbeit dieser Länder sind alle Transplantationszentren, Gewebetypisierungslaboratorien und Krankenhäuser, in denen Organspenden durchgeführt werden, beteiligt. Von Eurotransplant erhalten die gemeldeten Wartenden einen Anruf, wenn ein Organ für sie verfügbar ist. Alle Menschen, die sich "transplantabel" gemeldet haben, wie es in der Fachsprache heißt, werden gelistet. Dann werden die Organe laut deutschem Transplantationsgesetz nach den Parametern "Dringlichkeit" und "Erfolgsaussicht" verteilt. Auf eine Spenderniere wartet ein Mensch derzeit im Schnitt sechs Jahre.

Jörn Erdmann hatte gerade eine Pizza bestellt und wollte ins Auto steigen, als der Anruf kam: "Wir haben eine Niere für Sie", erinnert er sich an die Worte des Anrufers. In so einem Fall muss alles ganz schnell gehen. Ein Chirurgenteam wird zusammengerufen, und der Patient muss rasch in den OP-Saal. Denn je länger ein Organ außerhalb des Körpers ist, desto weniger leistungsfähig wird das Organ später sein. Im Schnitt "hält" eine gespendete Niere bis zu 18 Jahre, bei Erdmann war nach acht Jahren auch mit der zweiten Niere Schluss. Die Niere war wohl zu "alt", also zu lange außerhalb eines Körpers gewesen. Zumindest nimmt Jörn Erdmann das an. "Man kann alles ablehnen, was älter als zwölf Stunden ist - das wusste ich damals nicht", sagt er.

Nun wird er wieder dialysiert. Heute sagt Erdmann zu diesem Thema: "Transplantation ist nicht besser als Dialyse, sondern anders." Gesund sei er auch mit einem Transplantat nicht. Zumal er Sorge habe, wieder bis zu fünfzig Kilogramm zuzunehmen, wenn er im Fall einer Organverpflanzung das notwendige Cortison dauerhaft nehmen müsse. "Ich habe mich arrangiert. Es ist eine Frage des Kopfes", sagt er. Trotzdem will er eine weitere Transplantation nicht komplett ausschließen.

Der Nephrologe Hörstrup, der sechs Jahre lang mit der Nachsorge von transplantierten Menschen in der Berliner Charité beschäftigt war, weiß, dass der überwiegende Teil der Transplantierten auskömmlich lebt. Die Patienten, die er heute in der Dialysestation betreut, sind Menschen, bei denen irgendetwas nicht nach Plan gelaufen ist. Entweder sie sind nicht mehr transplantabel, weil der Körper mit einer solchen Operation überfordert wäre. Oder aber sie sind mehrfach transplantiert und brauchen daher ganz bestimmte Gewebeübereinstimmungen, oder - wie im Falle von Marco P. - sie kommen mit der Dialyse gut zurecht und wollen kein Transplantat.

Die Zahl der gespendeten Organe in Deutschland ist dramatisch zurückgegangen. Ein Grund dafür ist wohl der in den vergangenen Jahren offen gelegte Organspende-Skandal, bei dem Mediziner in einigen deutschen Transplantationszentren Patientendaten manipulierten. Erkrankte rückten auf den Wartelisten für ein Organ auf einen höheren Listenplatz vorbei an denjenigen, denen es noch schlechter ging. "Im Campus Virchow haben wir im letzten halben Jahr neun Transplantationen gehabt. Vorher waren es etwa einhundert", sagt Jan Hörstrup.

Charité-Chef Frei, ebenfalls Nephrologe, geht davon aus, dass einige der betroffenen Mediziner des Organspendeskandals im Sinne ihrer Patienten handeln wollten. "Doch selbst wenn sie es gut meinten, ist es eine Manipulation", sagt der Medizinprofessor.

Leider sei die Transplantationsmedizin durch derartige Vorfälle in Verruf geraten. "Grundsätzlich ist das Verfahren der Transplantation sehr viel besser, als es bis jetzt in den Medien dargestellt worden ist", so Frei. Ein Manko sei, dass es in Deutschland an Aufklärungsarbeit mangelt. Die Deutsche Stiftung für Organtransplantation (dso) will daher verstärkt in die Schulen gehen, um besonders Oberstufenschüler über den Organsspendeausweis zu informieren und aufzuklären.

Der Mediziner Frei hat selbst einen Organspendeausweis in der Tasche. Er empfiehlt jedem, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen: "Würde ich, wenn ich schwer krank bin, ein Spenderorgan annehmen? Und wenn ja, wo soll es denn herkommen, wenn ich mich nicht beteilige?"

Auch Nierenarzt Jan Hörstrup macht sich für den Organspendeausweis stark: "Man kann ja auch "Nein" ankreuzen", sagt er. Dann sei die Sache zumindest klar. Seit 2012 können zwar auch Angehörige eines Verstorbenen nach dem vermeintlichen Willen desjenigen zur Organspendenbereitschaft befragt werden. Doch meist seien die Angehörigen zu diesem Zeitpunkt emotional komplett überfordert, meint auch Charité-Chef Frei.

Jörn Erdmann ist dafür, dass der Organspendeausweis nicht länger Option, sondern ein Muss sein sollte. "Im Fall eines "Ja" gibt man jemandem die Chance, weiter zu machen", sagt er.

Allerdings habe er auch keinen Glauben, der ihm sagt, dass er "komplett" beerdigt werden müsse. Das sehe sein Bettnachbar Marco P. eben anders.

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Constanze Broelemann

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