Schöne Menschen, gequälte Menschen

Kulturtour
Foto: pixelio/Dietmar Meinert
Dürers Ideal von Maß und Humanität bleibt nach wie vor eine uneingelöste Utopie.

Schöne Menschen mit Idealmaßen begegnen uns in der Werbung zuhauf. Ein deutscher Meister, der zuerst solche idealen Menschen zeichnete, war Albrecht Dürer. Die große Dürer-Ausstellung (Dürer: Kunst.Künstler.Kontext, bis zum 2. Februar) im Frankfurter Städelmuseum stellt Dürer als unerreichtes Genie des Holzschnitts und des Kupferstichs ins Zentrum. Zum andern zeigt sie ihn als Künstler, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, Regeln für die Schönheit aufzustellen und der sich deshalb intensiv um die Lehre der Proportionen kümmerte. Er demonstrierte sie an einem heiklen Sujet - dem Sündenfall. Auf dem berühmten Kupferstich von 1504 sind unsere Ureltern in paradiesischer Nacktheit dargestellt - mit idealen Körpern. Adam, in der Pose des Apoll von Belvedere (sozusagen das schönste Mannsbild der Antike), hält einen Zweig mit einem Papagei und dem Namenstäfelchen des Künstlers in der einen Hand, mit der andern greift er hinüber zu Eva, die ihm den vermaledeiten Apfel entgegenhält. Deutlich sind die Muskeln Adams und Evas herausgearbeitet, auch die Hautstruktur ist erkennbar. Vorbereitet hat Dürer den Stich, indem er geometrische Formen, Kreis, Dreiecke und Quadrate zusammenstellte. Später hat er in der Studie eines stehenden Mannes mit 23 horizontalen Hilfslinien alle Körperteile zueinander in Beziehung gesetzt: Dürer tritt dem menschlichen Körper als Forscher gegenüber, eine Haltung, die er von den italienischen Künstlern übernommen hat. Sie ist Ausdruck eines neuen humanistischen Selbstbewusstseins, das sich ebenso in seinen Porträts zeigt, wie etwa darin, dass uns bei seinem Schmerzenmann, anders als bei seinem Konkurrenten Grünewald, eher der traurig-gefasste Blick als der geschundene Körper berührt: In der Darstellung körperlichen Leidens bleibt Dürer zurückhaltend.

Anders dreihundert Jahre nach ihm Theodore Gericault (1791-1824), dessen Gemälde auf der anderen Seite des Mains in der Kunsthalle Schirn zu sehen sind: "Bilder auf Leben und Tod" (bis zum 26. Januar). Er wendete sich dem Thema des leidenden Körpers auf eine fast makabre Weise zu. Er holte sich abgetrennte Gliedmaßen eines Toten ins Studio und malte zwei Füße und einen Arm in fast liebevoller Umarmung. Von den Schrecken der Guillotine ist das Interesse an der Anatomie des menschlichen Körpers zurückgeblieben. In seinem Hauptwerk Das Floß der Medusa (im Pariser Louvre) von 1819 zeigt Gericault die wenigen Überlebenden der 150 Schiffbrüchigen der Fregatte Medusa, die auf ihrem notdürftig zurechtgezimmerten Floß von denen, die Platz in den Beibooten gefunden hatten, ihrem Schicksal überlassen worden waren.

Er zeigt sie in dem Moment, als am Horizont ein rettendes Segel auftaucht, dem sie zuwinken; zu ihren Füßen liegen die unverletzt wirkenden, fast schön dargestellten Körper der Toten. Auch hierfür hatte Gericault Anatomiestudien an Leichenteilen betrieben. Das Bild sollte Anteilnahme und Mitleid mit den Opfern hervorrufen, und so wirkte es auch in der Pariser Öffentlichkeit - heute mag es uns an die sterbenden Flüchtlinge vor Lampedusa erinnern. Ein paar Jahre später malte Gericault einige Insassen der Pariser Nervenheilanstalt Salpetriere. Sie heißen Der Monomane des Kindsraubs, des Diebstahls, die Monomanin des Glückspiels, des Neides: eingefallene Gesichter, leere Blicke. Ob sie wirklich geisteskrank waren, ist nicht bekannt, vielleicht liegen ihre Qualen in ihrer Isolation.

Auch Theodore Gericault, der Maler der schwarzen Romantik, hatte seine Nachfolger: 150 Jahre später malte Francis Bacon das rohe Fleisch des Gekreuzigten auf eine Weise, hinter der die Erfahrung der Menschenschlächterei des 20. Jahrhunderts stand. Dürers Ideal von Maß und Humanität bleibt nach wie vor eine uneingelöste Utopie; es bedarf wohl eines besonderen Ingeniums, es wieder zum Gegenstand der Kunst zu machen.

Hans-Jürgen Benedict

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Foto: privat

Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


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