Gerechtes Leben

Religion als Ressource
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Materialreich und lesenswert - renommierte Soziologen beschreiben die Legitimationskrise des Politischen, Potenziale und Gefahren, die in der Symbiose von Religion und Politik stecken.

Religiosität nimmt zu - freilich bei schwindender Kirchenbindung. Vor allem: Trotz der mehr oder minder vollzogenen Trennung von Staat und Kirche bleiben Religion und Politik nach wie vor miteinander verbunden. Diese Bindung hat ihren Grund nicht nur in der muslimischen Präsenz im Westen. Jürgen Habermas bezeichnet die offenen westlichen Gesellschaften zu Beginn des neuen Jahrhunderts sogar als "postsäkular".

In dieser Diagnose sind sich die Autoren des Buches, unter ihnen bekannte Namen wie Giorgio Agamben, Hans Ulrich Gumbrecht, Jürgen Habermas, Hans Joas, allesamt Sozialwissenschaftler, weitgehend einig. Gumbrecht stellt angesichts einer säkularistischen Nivellierung des Religiösen in Europa eine neue Sehnsucht nach Verbindlichkeit, ja nach "Rückverzauberung" fest, begleitet von einer Tendenz zur Repolitisierung von Religion. Der Prozess der Modernisierung sei zu weit gegangen und habe die Individualität der Person geschwächt - in den USA habe man darauf vielfach "orphisch" übersteigert reagiert. Giorgio Agamben spricht hier von einer "Wiederkehr des Verdrängten": "Insgeheim werden unsere Gesellschaften, die sich für laizistisch und säkular halten, von Religion, Magie und Recht (...) regiert."

Jürgen Habermas hatte bislang die deutlichsten Akzente gesetzt und 2007 mit seinem Hinweis auf "ein Bewusstsein von dem, was fehlt" eine lebhafte Debatte ausgelöst. Ihm zufolge habe - so in seinem aktuellen Beitrag - der religiöse Ritus "die von Desintegration bedrohten Lebensformen unserer Spezies anscheinend von Anfang an mit der knappen Ressource Solidarität versorgt". Demnach erfülle sich das Anliegen der universalistischen politischen Aufklärung "erst in der Anerkennung der partikularistischen Selbstbehauptungsansprüche religiöser und kultureller Minderheiten".

Am Aufklärungsprozess will er festhalten; zugleich fragt er sich aber besorgt, ob sich zwei Defizite der Säkularisierung ohne Rückgriff auf die Ressource Religion ausgleichen lassen: zum einen die geringen ethischen Vorräte einer "unverlierbaren, aber schwach ausgebildeten Vernunftmoral", darüber hinaus aber, ob "der Defätismus der Vernunft" unter dem Druck eines Kapitalismus, "der die Politik entwaffnet und die Kultur einebnet", nicht deren "Kraft zu einer Transzendenz von innen vollends aufzehrt und die Spannkraft eines über den jeweiligen Status quo hinaus zielenden normativen Bewusstseins zermürbt".

Der religiöse Glaube kommt hier nicht nur als Quelle des Trostes für die schmerzhaften Kontingenzen des Lebens in den Blick, sondern vor allem als Quelle eines gerechten und friedlichen gemeinsamen Lebens in Staat, Gesellschaft und globalisierter Welt. Hier lauern freilich auch die bekannten Gefahren einer Resakralisierung des Politischen. Hans Joas zeichnet die Folgen des Gewaltpotenzials in den weltgeschichtlichen Wellen von Selbstsakralisierung und Entsakralisierung nach und warnt vor den Bedrohungen durch einen religiös aufgeladenen Totalitarismus.

Die meisten Beiträge bieten historische Analysen des vielfältigen Verhältnisses von Politik und Religion in Deutschland (Friedrich Wilhelm Graf), den USA (Hans Ulrich Gumbrecht), Russland (Gregory L. Freeze), im Islam (Hillel Fradkin), in der jüdischen Antike (Peter Schäfer) und Skizzen zur Problematik in der Philosophie (Heinrich Meier) und der klassischen politischen Wissenschaft (Robert C. Bartlett) - sehr materialreich und lesenswert. Das Buch zeichnet eine bemerkenswert einmütige Diagnose der gegenwärtigen Legitimationskrise des Politischen, der Potenziale und Gefahren, die in der durchweg prekären Symbiose von Religion und Politik stecken.

Friedrich Wilhelm Graf/Heinrich Meier (Hg.): Politik und Religion. Verlag C. H. Beck, München 2013, 324 Seiten, Euro 14,95.

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Hans Norbert Janowski

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