Plädoyer

Neue protestantische Ethik
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Wem an einer reflektierten "protestantischen Stimme" im öffentlichen Diskurs gelegen ist, der sollte zu diesem Buch greifen.

Ein Protestantismus, der sich als aktives Gestaltungsmoment in der pluralistischen Gesellschaft versteht, für Menschenrechte, Zivilgesellschaft, Demokratie und Rechtsstaat einsteht, seine "weltoffene und reflektierte Religionspflege" in die "Religionskultur" Europas einbringt. Für einen solchen Protestantismus plädiert der Osnabrücker Theologe Arnulf von Scheliha in seiner Protestantischen Ethik des Politischen. Schließlich sei die Moderne auch eine "historische Langzeitwirkung" der "sittlichen Impulse" der Reformation, die freilich in der Neuzeit "einige Umformungen durchlaufen" hätte.

In weitem Bogen rekonstruiert von Scheliha den "langen Weg" des Protestantismus zur Demokratie. Luthers Zwei-Reiche-Lehre weise als "theologische Theorie sozialer Differenzierung" auf die Moderne voraus, obwohl Luthers Obrigkeitsverständnis die religiöse "Freiheit und Gleichheit" nicht in der politischen Ordnung abbilde. Erfreulicherweise springt von Scheliha nicht sofort ins 20. Jahrhundert, sondern zeichnet die politikethischen Entwicklungen der Neuzeit anhand exemplarischer Positionen nach. Seine liberalprotestantische Herkunft zeigt sich in der Beurteilung der Barmer Theologischen Erklärung: Barmen habe sich erfolgreich gegen eine Instrumentalisierung der Kirche durch die totalitäre Herrschaft gestellt, freilich um den Preis einer "steilen Offenbarungstheologie konservativen Zuschnitts", die ekklesiologisch wie gesellschaftstheoretisch von vormodernen Hintergrundannahmen geprägt sei. Erst in der Nachkriegszeit habe der deutsche Protestantismus gesellschaftlichen Pluralismus und liberale Demokratie zu bejahen gelernt und dies schließlich in der "Demokratie-Denkschrift" von 1985 ratifiziert.

Die folgende kunstvoll komponierte "Grundlegung der Politischen Ethik" orientiert sich an der klassischen Trias der Pflichten-, Güter- und Tugendethik. Die Pflichtenlehre übersetzt gleichsam zentrale theologische Begriffe wie Gottebenbildlichkeit oder Rechtfertigung in basale ethische "Normen des Politischen". Die Güterlehre beschreibt "durch politisches Handeln bereits hervorgebrachte Objektivationen des Sittlichen" wie Zivilgesellschaft oder Rechtsstaat, in denen sich politisches Handeln heute vollzieht. Die Tugendlehre erfasst "die guten Eigenschaften, die der Einzelne in das soziale Leben einbringt". Dabei wird auch das "korporative Engagement von Protestanten in der Politik", sprich Charakter und Reichweite kirchlicher Äußerungen zu politischen Fragen, eingehend reflektiert.

Drei Essays erörtern schließlich aktuelle Themen: Frieden, Europa und "Good Governance". Klar spricht von Scheliha sich für eine "Politik der 'kleinen Schritte'" aus, die sich bei militärischen Interventionen auf die "Herstellung und Sicherung des äußeren Friedens" beschränkt, statt von außen "sittlich und politisch wünschenswerte Zustände bürgerlichen Wohlbefindens" verwirklichen zu wollen. Er würdigt den langen "europäischen Frieden" und bestreitet mit fundierten Begründungen ein Demokratiedefizit in der Europäischen Union. Überzeugend plädiert er dafür, "die europäische Kultursynthese fortzuschreiben" und "die Europa-Idee für eigenständige Beiträge von Judentum und Islam zu öffnen". Und in einem partizipativen, "deliberativen und kooperativen Politikstil" erkennt er jenes "symmetrische Freiheitsverständnis" wieder, das seiner protestantischen Ethik des Politischen insgesamt zugrunde liegt. Die Essays belegen eindrucksvoll, wie anspruchsvolle Theorie zu qualifizierter Urteilsbildung beitragen kann. Wem an einer reflektierten "protestantischen Stimme" im öffentlichen Diskurs gelegen ist, der sollte zu diesem Buch greifen.

Arnulf von Scheliha: Protestantische Ethik des Politischen. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2013, 422 Seiten, Euro 39,-.

Bernd Oberdorfer

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