Der renommierte Historiker von Thadden hat seine schon 2001 im "Handbuch der preußischen Geschichte" veröffentlichte "Geschichte der Kirchen und Konfessionen" - leicht überarbeitet und durch ein Vorwort und einen kurzen "Epilog nach dem Zweiten Weltkrieg" ergänzt - neu herausgebracht. Mit ökumenischer und europäischer Zielsetzung. Im Vorfeld des Reformationsjubiläums 2017 - und da "große Teile dieses Staates ... heute zu anderen europäischen Ländern" gehören - helfe die Erinnerung an Preußen, das Gedenken nicht nur auf Luther, sondern auch auf Calvin auszurichten, und Polen und Russland auf das Miteinander von Katholiken, Orthodoxen und Protestanten einzustimmen.
Der mehr sozial- und verfassungs-, als theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich konzipierte Rückblick ist inspirierend und ernüchternd zugleich. Vorbildlich bleibt, wie durch den Übertritt des Kurfürsten Johann Sigismund zur reformierten Konfession (1613) Preußen sich zu einem in Europa einzigartigen Staat bikonfessioneller Prägung entwickelte, in dem aber auch der kirchen- und gesellschaftsreformerische Pietismus wirken konnte. Im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution wurde der Weg zum trikonfessionellen Staat eingeschlagen. Geschickt werden in der Darstellung des 19. Jahrhunderts das vergebliche Ringen der seit 1817 unierten evangelischen Kirche um Selbstständigkeit und die erfolgreiche Selbstbehauptung der katholischen Kirche gegenübergestellt. Zugleich zeigt von Thadden die Gefangenschaft beider Konfessionen im Nationalismus ("Pastorennationalismus"), zumal während des Ersten Weltkrieges. Es seien immer nur einzelne Persönlichkeiten gewesen, wie etwa Friedrich Schleiermacher, die sich aus der Umklammerung durch den Zeitgeist zu lösen vermochten.
Als Ganze blieben die Kirchen mehr "Ausschnitt der Gesellschaft" als ihr Gegenüber. Für die Protestanten war das Kirchenregiment der preußischen Herrscher eine ebenso ambivalente Hypothek wie deren protestantisches Selbstverständnis für die Katholiken. Wiewohl reformiert, hielten Preußens Könige besonders hartnäckig an ihrem "Notbischofsamt" beziehungsweise "Summepiskopat" fest und widersetzten sich allzu lange der Synodalverfassung, jenem Ur-Anliegen der Reformierten, das diese für die Westprovinzen schon 1835 durchsetzten.
Die in der Weimarer Republik endlich erreichte Selbstständigkeit der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union hat dann anders als bei den durch das Zentrum politisch repräsentierten Katholiken in eine problematische Distanz zur Republik geführt. Wiederum waren es nur Einzelpersonen wie Hermann Kapler, Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin, die zu "Vernunftrepublikanern" wurden. Die falsche Distanz schlug im Moment der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus weithin in begeisterte Distanzlosigkeit um. Es überwog in beiden Kirchen von neuem die Anpassung. In Opposition und Widerstand gingen wiederum nur Einzelne. Mit Recht würdigt von Thadden aber Mut und Ohnmacht der Bekennenden Kirche Altpreußens und die Klarsicht des Berliner Bischofs Konrad Graf von Preysing auf katholischer Seite.
Nach 1945 neu belebt als kirchliche Klammer zwischen Ost und West bleibt, so von Thadden, die preußische Unionskirche eine kräftige Erinnerung daran, dass Reformationsgedenken gesamtevangelisch sein müsse. Es ist ist natürlich unwahrscheinlich, dass die Mehrheitskirchen in Polen und Russland sich von preußischer Kirchengeschichte inspirieren lassen, ein kritisches Gegenüber ihrer Gesellschaften und Staaten zu sein, und dass letztere von Preußen zu bewusster Mehrkonfessionalität zu bewegen sind. Aber der Blick auf das teils ignorante, teils repressive Verhalten der Behörden des heutigen Russlands gegenüber den Resten der durch das kommunistische Russland fast ausgelöschten dortigen lutherischen Kirche lässt preußische Kirchengeschichte ganz neu glänzen.
Rudolf von Thadden: Eine preußische Kirchengeschichte. Wallstein Verlag, Göttingen 2013, 264 Seiten, Euro 24,90.
Wilhelm Hüffmeier