Im Angesicht der Pluralität

Die neue EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht
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Der Staat kann dankbar sein, dass es Religionsunterricht gibt. Und wenn es ihn nicht gäbe, so müsse er schleunigst erfunden werden. In diesem selbstbewussten Geist beschäftigt sich eine neue Denkschrift der EKD mit dem Religionsunterricht.

Das wichtigste Anliegen erscheint im Untertitel: "Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule". Wer die neue Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Religionsunterricht mit dem Haupttitel "Religiöse Orientierung gewinnen" liest, die Anfang November erschienen ist, bekommt in der Tat den Eindruck, dass es den Verfasserinnen und Verfassern in erster Linie um dieses eine geht, nämlich im herrschenden Zeitalter des Pluralismus durch Religionsunterricht Pluralitätsfähigkeit bei den Schülerinnen und Schülern aufzubauen.

Die Denkschrift der Öffentlichkeit vorzustellen, war die letzte Amtshandlung von Nikolaus Schneider in seinem Amt als EKD-Ratsvorsitzender vor der Synodaltagung in Dresden, und es war zu spüren, dass ihm die Sache sehr am Herzen lag. Besonders wichtig war ihm, auf die enge Verbindung zwischen Religionsunterricht und Religionsfreiheit hinzuweisen. Schneider lieferte seine Begründung der unbedingt benötigten Pluralitätsfähigkeit gleich mit, als er ausführte, was die neue Aufgabe des Religionsunterrichts im 21. Jahrhundert sei, nämlich dass Kinder und Jugendliche lernen sollten, mit Differenzen so umzugehen, dass die eigene Identität nicht "verschreckt" werde. Aber nur ausreichende Kenntnisse über die eigene Identität, so Schneider, würden erst die "innere Freiheit" schaffen, mit dem Anderen souverän umzugehen. Wichtig war ihm der Hinweis, dass Artikel 7, Absatz 3 des Grundgesetzes, der den Religionsunterricht sichert ("Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen ... ordentliches Lehrfach."), in enger Beziehung zu Artikel 4 stehe: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.", - "Es geht nicht um Privilegien der Kirche, sondern es geht um das Recht der Kinder und Jugendlichen auf religiöse Bildung", betonte der scheidende Ratsvorsitzende, wohl wissend, dass nicht die Rechtmäßigkeit, wohl aber die Relevanz religiöser Bildung im pluralistischen Staat immer umstritten ist.

Hier wiederum zieht der Text erneut Selbstbewusstsein aus der in ihm apostrophierten Mustergültigkeit in Sachen Pluralitätsbewältigung. Ja, der Staat könne sehr dankbar sein, dass es Religionsunterricht gebe, und wenn es ihn nicht gäbe, so müsse er schleunigst erfunden werden. Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls auf, wenn im Kapitel 2 unter der Überschrift "Grundlagen in evangelischer Sicht und neue Fragen" auf Seite 41 zu lesen ist: "Die Zusammenarbeit mit den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften entlastet den Staat insofern von der Gefahr, gegen das ihn in dieser Hinsicht bindende Neutralitätsgebot zu verstoßen, und ist im Blick auf die Inhalte des Religionsunterrichts nach Artikel 7 Absatz 3 GG ausdrücklich geboten."

Nicht alle Denkschriften der EKD bauen so klar auf ihren Vorgängerveröffentlichungen auf, wie diese. Immer wieder, fast zwanzig Mal, bezieht sich der neue Text auf seine Vorgängerpublikation "Identität und Verständigung" aus dem Jahre 1994. Damit muss sich das Büchlein jedenfalls nicht dem Vorwurf aussetzen, es würde nicht den Anschluss an bisher zum Thema von der EKD veröffentlichte Texte markieren. Dies war im vergangenen Jahr der Orientierungshilfe "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit", dem so genannten "Familienpapier" vorgeworfen worden. Der Bezug scheint sinnvoll, denn auch schon damals, 1994, waren die großen Herausforderungen für den Religionsunterricht im Prinzip dieselben wie heute, nämlich eine ziemlich heterogene Schülerschaft, was die Religionszugehörigkeit angeht. Die Lage hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich in Richtung Heterogenität zugespitzt, und eine Trendumkehr ist nicht erkennbar. Insofern erscheint es sinnvoll und verständlich, dass die Denkschrift fast ausschließlich die Pluralitätsfähigkeit des Religionsunterrichts herausstellt.

"Der Religionsunterricht ist kein missionarisches Unternehmen der Kirche" - das anzumerken war Nikolaus Schneider wichtig. Er sagte aber auch, was ein Schüler seiner Ansicht nach in zehn Jahren Religionsunterricht gelernt habe sollte, nämlich dies: "Auskunftsfähig sein, wie er sich im Verhältnis zu Gott versteht und was das für ihn persönlich bedeutet, und welche Konsequenzen er daraus zieht für sein Leben - und das alles auf der wissenschaftlichen Höhe der Zeit." Ein hehres Ziel! Daran gemessen hätten der Denkschrift ein paar Praxisbeispiele gut getan, zumindest pars pro toto. So wirkt das Ganze bei der Lektüre zuweilen arg blutleer. Aber vielleicht darf man von Denkschriften, die Grundlagen und Voraussetzungen darstellend referieren, auch nicht zu viel verlangen.

Informationen

EKD-Denkschrift "Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule", Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, 128 Seiten, Euro 5,99.

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Reinhard Mawick

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