Auf dem Weg zu "Holden 2.0"
"Der Fänger im Roggen" (englisch: "The Catcher in the Rye") begegnete mir im Jahr 1978. Dieser Roman war mein Einstand in den Englischleistungskurs der Oberstufe. Ich liebte das Buch. In dem Kurs, der von einer jungen deutsch-amerikanischen Lehrerin gehalten wurde, hatten wir viel Spaß mit den Schimpfwörtern, die der jugendliche Protagonist, Holden Caulfield, von sich gibt. Ein ratloser Mitschüler fragte an einer Stelle, was das Wort "sonuvabitch" bedeute - er könne es in keinem Wörterbuch finden. Großes Gelächter im Saal. Und Holden Caulfield wurde für viele von uns zum Helden, zur Identifikationsfigur. Denn auf der Suche nach unserem Ich als Erwachsene waren wir ja fast alle. Bei den Wenigsten ging das ohne jede Krise ab. So lasen wir das Buch sehr gerne. Und lasen es auch noch einmal oder mehrmals im Frühjahr 1980, denn es galt als Favorit für das schriftliche Abitur. Und richtig, wir hatten unser Abiturthema erraten: Es ging um den "Fänger im Roggen" und den "American Dream" (Amerikanischer Traum).
Salingers Buch war 1954 erstmals in deutscher Sprache erschienen. Anfang der Sechzigerjahre hatte Heinrich Böll es virtuos neu ins Deutsche übersetzt, und schon in den frühen Sechzigerjahren zählte das Buch zur Weltliteratur. Unzählige Schülergenerationen in vielen Ländern der Welt haben darüber Klausuren oder Abiturarbeiten geschrieben. Mit Umberto Eco gesprochen, handelt es sich bei diesem Text offenbar um ein "offenes Kunstwerk", denn viele Deutungen und Zugänge sind möglich.
Im Wissen um die große Vielfalt möglicher Deutungsperspektiven möchte ich eine religiöse Interpretation des Buches vorschlagen. Salinger war, soweit wir wissen, alles andere als religiös unmusikalisch, lässt sich aber nicht einfach und fugenlos einer der klassischen Weltreligionen zuordnen. Von seiner Familiengeschichte her stammt er mindestens teilweise aus dem Judentum (sein Großvater war ein aus Litauen stammender Rabbiner), hat sich später wohl auch dem Buddhismus angenähert und setzte sich aber zeitweise auch intensiv mit dem Christentum auseinander.
Tausende Kinder
Als ich 1978/80 das Buch begeistert las, wäre mir der Gedanke noch nicht gekommen, aber heute scheint er mir absolut einleuchtend: Das Buch ist eine etwas ungewöhnliche, aber faszinierende Weihnachtsgeschichte.
Wie lässt sich diese These begründen? Hier kommt es zunächst einmal darauf an, den Titel des Romans zu verstehen, der einen Schlüssel zu seinem Inhalt darstellt. Der Titel geht auf ein Gedicht des schottischen Lyrikers Robert Burns (1759-1796) zurück, in dem der Vers vorkommt: "If a body meet a body coming through the rye" (Wenn einer einen andern trifft, der durch den Roggen läuft). Der Held von Salingers Roman, der revoltierende Jugendliche Holden Caulfield, meint allerdings irrtümlich, der Text des Liedes laute: "If a body meet a body coming through the rye" (Wenn einer einen andern fängt, der durch den Roggen läuft). Und er verbindet diese Liedzeile mit einem Bild, das für ihn außerordentlich positiv besetzt ist, nämlich mit der Vision von sich als einem Menschen, der inmitten eines riesigen Roggenfeldes steht und viele Kinder davor bewahrt, in einen Abgrund zu stürzen:
Jedenfalls stelle ich mir dabei immer lauter kleine Kinder vor, die in einem großen Roggenfeld spielen und so. Tausende von kleinen Kindern, und niemand ist da - also kein Großer -, nur ich. Und ich stehe am Rande eines verrückten Abgrunds. Und da muss ich alle fangen, bevor sie in den Abgrund fallen - also, wenn sie rennen und nicht aufpassen, wo sie hinlaufen, dann muss ich irgendwo rauskommen und sie fangen. Und das würde ich den ganzen Tag lang machen. Ich wäre einfach der Fänger im Roggen und so. Ich weiß, es ist verrückt, aber das ist das Einzige, das ich richtig gern wäre. Ich weiß, es ist verrückt.
Titelheld Holden Caulfield ist ein junger Mann, der aufgrund einer psychischen Krise zum Schulversager wurde und einige Tage vor Beginn der Weihnachtsferien aus dem Internat flüchtet, in dem er seit einiger Zeit ist. Er verbringt ein paar Tage in New York und trifft sich dabei heimlich mit seiner deutlich jüngeren Schwester Phoebe. An diesen Tagen begegnet er alten Bekannten, lernt aber auch neue Menschen kennen, denkt über sich selbst nach und sucht auf verschiedenen Wegen seine Identität - als Mensch, als Jugendlicher, der seine Sexualität erproben möchte, sich aber nicht traut, sie auszuleben, und auch als junger Amerikaner in der vom "American Dream" auf ambivalente Weise geprägten US-Gesellschaft der frühen Fünfzigerjahre. Dies alles geschieht der erzählten Zeit zufolge kurz vor Weihnachten. Das große Fest steht zwar noch bevor, als das Buch endet, aber alles bewegt sich in der Erzählung spürbar auf Weihnachten zu. Ist das ein Zufall?
Zwei Nonnen
Auf seiner Odyssee durch das winterliche New York trifft Holden unter anderem zwei Nonnen, mit denen er sich angeregt unterhält. Er gibt ihnen etwas Geld für ihre Kollekte, würde ihnen sogar noch mehr geben, wenn er denn könnte. Und er schämt sich dafür, dass er bei diesem Gespräch immer wieder in kleinere Fettnäpfchen tritt, etwa, wenn er ihnen versehentlich Rauch ins Gesicht bläst. Das Gespräch berührt ihn stark, die Nonnen lassen den jungen Mann nicht unbeeindruckt zurück.
An anderer Stelle widmet Holden der Gestalt Jesu einige seiner Gedanken. Auch wenn er sich als "Atheist" bezeichnet, der er jedenfalls "irgendwie" sei, spricht er nicht ohne Achtung von seinem Mitschüler Arthur Childs, einem frommen Quäker. Mit ihm stritt er sich seinerzeit über Jesus und über dessen Beziehung zu seinen Jüngern, insbesondere zum Verräter Judas. Holden bekennt dabei klar seine Zuneigung zu Jesus. Von den Jüngern aber distanziert er sich entschieden - übrigens ebenso von Pfarrern. Letztere seien oft unaufrichtig (phony), wenn sie etwas sagten. Ein sehr bekannter Bibeltext, in dem Jesus seinen Jüngern klar widerspricht, ist die Geschichte von der Kindersegnung (Markus 10, 13-16). Während die Jünger die Kinder von Jesus fernhalten wollen, wendet Jesus sich ihnen liebevoll zu und segnet sie. Zu den Jüngern aber sagt er: "Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen."
Dass Salinger diesen Text im Hinterkopf hatte, als er seinen Roman schrieb, halte ich wegen des großen Bekanntheitsgrades der Geschichte für sehr wahrscheinlich. Denn Holden Caulfield nimmt einen klaren Kontrast, eine starke Spannung zwischen Jesus und seinen Jüngern wahr. Und Holden steht auf der Seite der Kinder. Ja, er liebt die Kinder, nicht nur seinen von ihm sehr verehrten verstorbenen Bruder Allie, sondern auch seine höchst lebendige Schwester Phoebe, mit der er ein inniges Vertrauensverhältnis hat. Auch für seinen Mitschüler Childs und für einen kleinen Jungen, der "toons" (Zeichnungen) und "tombs" (Gräber) verwechselt, zeigt er Sympathie. Seine Vision von den Kindern im Roggenfeld, die er auffängt und vor dem Abgrund bewahrt, stellt eine Entsprechung zu Jesu Wertschätzung der Kinder da: Nur Kinder können in das Reich Gottes kommen - oder aber, wer in seinem Leben ist und bleibt wie ein Kind und das Reich Gottes wie sie empfängt. Möglicherweise gehören die beiden Nonnen in diese Kategorie. Aber kann man Kinder davor bewahren, zu Erwachsenen zu werden? Und ist das Erwachsensein überhaupt ein so entsetzlicher Abgrund, dass man den Prozess des Erwachsenwerdens um jeden Preis vermeiden sollte?
Dualistische Weltanschauung
Holden sieht das so, und er begründet das im Rahmen einer dualistischen Weltanschauung. Denn man kann entweder "phony" (verlogen, unaufrichtig, heuchlerisch) sein wie die Erwachsenen oder aber "nice" (nett, aufrichtig, geradlinig) wie die Kinder. Es gibt überhaupt nur "phony" oder "nice" in der Welt, meint Holden, ebenso wie die dem entsprechenden, sich ausschließenden Gegensätze "bad/good", "darkness/light", "falseness/truth". Die Welt ist demnach dualistisch beschaffen, und tragischerweise gehören die Erwachsenen anders als die Kinder auf die Seite von "phoniness", Bosheit, Falschheit und Dunkelheit. Holden wehrt sich darum dagegen, erwachsen zu werden. In seinem tiefsten Inneren will er ein Kind bleiben. Auch deshalb bekämpft er die in ihm immer stärker werdende Sexualität, von der er andererseits aber auch zutiefst fasziniert ist. Ein "mysterium fascinosum" und "tremendum" zugleich: Für welchen Jugendlichen wäre die eigene Sexualität das nicht zu irgendeinem Zeitpunkt gewesen?
Wenn es aber nur einen starren Dual von zwei Bereichen in der Welt gibt, also nur Gut oder Böse, Licht oder Schatten, Wahrheit oder Lüge, Kindsein oder Erwachsensein, geht dann nicht jeder junge Mensch an der Schwelle des Erwachsenwerdens einem Abgrund entgegen wie die Kinder, die im Roggenfeld spielen? Auch sein früherer Lehrer Mr. Antolini, bei dem er vorübergehend Zuflucht sucht und von dem er dann flieht, weil er meint, dieser wolle sich ihm unsittlich nähern, nimmt Holdens Dilemma wahr und prophezeit ihm, dass er "schnurstracks auf einen Abgrund" zulaufe. Wenn es nur Licht oder Schatten gibt auf der Welt, dann ist das eigene Leben jederzeit zutiefst bedroht und kann eigentlich kaum gelingen. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?
Ein Adventskalender
Ein Ausweg wäre, wenn es so etwas wie eine Erlösung gäbe und die adventliche Odyssee auf ein Weihnachtsfest zuliefe. Genau dies geschieht im vorletzten, im 25. Kapitel des Buches: Menschen laden einen Weihnachtsbaum von einem Lastwagen ab, und Holden beschreibt die Fifth Avenue als "ziemlich weihnachtlich". Holden und seine Schwester Phoebe treffen sich sodann bei einem Karussell, und es ist nicht wie sonst im Winter geschlossen. Man kann damit an diesem Tag erfreulicherweise fahren, und Holden ahnt auch, warum: "Vielleicht, weil bald Weihnachten ist".
Ein Hinweis am Rande: Das Buch hat insgesamt 26 Kapitel, und die entscheidende Wende im Leben des Protagonisten ereignet sich im vorletzten, im 25. Kapitel. Man könnte sich dabei an einen Adventskalender erinnert fühlen: Mit jedem Kapitel öffnet sich gleichsam ein Türchen. Und der 25. Dezember ist in den USA ja der eigentliche Weihnachtsfeiertag. Der Morgen des "Christmas-Day" ist der Tag der Kinder und der Bescherung. Kindheit, Kindsein, Kinder und das Verhältnis zu ihnen sind ja, wie wir sahen, ein zentrales Thema für Holden Caulfield. Wie können sie aus dem starren Dualismus von "phony" und "nice" befreit werden?
Holdens Schwester Phoebe zeigt ihm die Lösung. Sie will nämlich mit dem Karussell fahren und tut das auch. Und Holden beobachtet, wie sie und die anderen fahrenden Kinder nach einem goldenen Ring im Karussell greifen. Das ist gefährlich, denn sie drohen dabei vom Karussell zu stürzen. Während Holden die Kinder betrachtet, hat er die ihm auf unverfügbare Weise geschenkte, entscheidende Einsicht: "Wenn Kinder nach dem goldenen Ring greifen wollen, muss man sie auch lassen und darf nichts sagen. Wenn sie runterfallen, fallen sie eben runter, aber es ist schlecht, wenn man ihnen was sagt."
Man muss sie fallen lassen, das sieht Holden jetzt ein. Und damit ist er de facto kein Fänger im Roggen mehr. Das Leben ist für ihn nun wieder offen nach vorne, die Kindheit offen zum Erwachsensein hin. Der Dualismus von "phony" und "nice", von Licht und Schatten ist überwindbar geworden. Die Weltwirklichkeit kann jetzt in einem anderen Licht erscheinen, nämlich als ein Gebilde aus vielen Farben und Farbschattierungen, in dem Schwarz und Weiß eine Rolle unter anderen Farben spielen. Aber nicht mehr die Hauptrolle. Indem Holden sich der Komplexität der Wirklichkeit stellt, die sich nicht auf einen einfachen Dualismus reduzieren lässt, gelingt es ihm, zum ersten Mal nach langer Zeit für einen Augenblick so etwas wie Glück zu empfinden. Damit endet das 25. Kapitel des Buches.
Eschatologische Spannung
Allerdings: Der Epilog im letzten Kapitel des Buches zeigt, dass Holden Caulfield noch immer auf der Suche nach seiner Identität ist. Er erzählt aus der Rückschau von seiner Erkrankung. Offensichtlich ist er mittlerweile in einer Klinik und in psychiatrischer Behandlung. Ein Neubeginn ist denkbar, ein "Holden 2.0" scheint möglich. Ja, er ist sogar schon ein wenig "Holden 2.0", aber eben noch nicht ganz. Das Buch endet damit offen, geradezu in einer eschatologischen Spannung.
Die endgültige Erlösung des Protagonisten ist somit greifbar nahe, aber sie ist noch nicht passiert. Ob sie sich tatsächlich ereignet und ob dieses Leben gelingen wird, bleibt offen. Aus christlicher Perspektive gesagt: Man kann dafür arbeiten, man kann darum beten, man kann darauf hoffen. Wenn menschliches Leben gelingt, dann vielleicht überhaupt nur deshalb, weil es ihm auf unverfügbare Weise geschenkt wird. In Holdens Worten: "Vielleicht, weil bald Weihnachten ist."
Eberhard Pausch
Eberhard Pausch
Eberhard Pausch ist Pastor und Referatsleiter im hessischen
Sozialministerium in Wiesbaden.