Trotz der Unschärfe, der mit dem Begriff "Wert" einhergeht, erfreut sich die Rede von Werten in der Öffentlichkeit großer Beliebtheit: Die Europäische Union wird als "Wertegemeinschaft" bezeichnet, von in Deutschland lebenden Muslimen wird verlangt, "unsere Werte" zu befolgen, und Politiker bekunden: "Politik braucht klare Werte" (Karl-Theodor zu Guttenberg), oder sie bezeichnen sich als Vertreter "bürgerlicher Werte" (Claudia Roth).
Der Historiker und Publizist Gerhard Straub hat den inflationären Gerbrauch des Begriffes "Wert" der Kritik unterzogen: Die Berufung auf Werte diene dazu, politische Meinungen und Überzeugungen mit Überlegenheit zu versehen. In diese Richtung wies bereits 1960 der Staatsrechtler Carl Schmitt: "Wer Wert sagt, will gelten machen und durchsetzen."
Auffällig ist, dass in vielen Fällen die Werte gar nicht konkret benannt werden, die es zu "befolgen" gilt oder auf deren "Fundament" man steht. Ganz offenkundig besitzt der Verweis auf nicht näher spezifizierte Werte die Funktion, den Sprecher auf einen höheren Standpunkt zu stellen. Er spricht dann im Namen einer Instanz jenseits seiner eigenen Person und ihrer Zufälligkeiten: "Ich bin jemand, der nicht nur eigene Interessen (oder die meiner Gruppe) berücksichtigt, sondern sich nach allgemeingültigen Werten ausrichtet."
Auch bei der Rede von christlichen Werten fällt auf, dass in den meisten Fällen gar nicht erläutert wird, was die christlichen Werte eigentlich sind. Fragt man Menschen, was sie konkret meinen, wenn sie von "christlichen Werten" oder einem "abendländisch-christlichen Wertefundament" sprechen, bekommt man entweder einen Wert wie "Familie" genannt, der keinesfalls als spezifisch christlich verstanden werden kann, oder man wird auf Werte des Grundgesetzes wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Gleichberechtigung verwiesen. Dabei verdanken sie sich - wie der Münchner Theologe Friedrich-Wilhelm Graf immer wieder betont hat - der Aufklärung und mussten gegen die Kirchen durchgesetzt werden.
Ein Gruppenbekenntnis
Beobachtet man die unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen der Terminus "christliche Werte" Verwendung findet, erkennt man: Seine Funktion besteht häufig darin, ein Gruppenbekenntnis abzulegen. Es ist kaum zu übersehen, dass - wenn auch nicht bei allen - Termini wie "christliches Wertefundament der Gesellschaft" die Funktion haben, neuen Strömungen die Anteilhabe an der Gesellschaft zu bestreiten, wie etwa islamisch geprägten Kulturen. Damit tritt ein Phänomen zutage, das in der Fundamentalismusforschung beobachtet wird: Gesellschaftliche Gruppen, die sich bedroht fühlen und fürchten, ihre bisherige Stellung in der Gesellschaft zu verlieren, betonen (mehr oder weniger aggressiv) ihre angeblichen Fundamente, "angebliche" Fundamente, weil sie häufig - historisch betrachtet - nicht die wirklichen Fundamente der jeweiligen Gruppe sind. Das nährt den Verdacht, dass es denen, die von "Werten" sprechen, in Wahrheit nur darum geht, ihre Lebensweise anderen aufzuoktroyieren.
Wenn von "Werten" gesprochen wird, wird häufig der Eindruck vermittelt, bei ihnen handele es sich um objektive Tatsachen, die unabhängig von unseren Auffassungen existieren. Allerdings verkennt eine solche Auffassung die Unterscheidung von Tatsachen und Wertungen. Sie wird daher in der modernen Philosophie und Theologie in der Regel nicht mehr vertreten. Wertaussagen handeln - für den englischen Philosophen Charles Leslie Mackie - von subjektiven Interessen. Sie sind keine Aussagen über Tatsachen, sondern geben unsere Haltung wieder, die wir gegenüber den Tatsachen einnehmen.
Um diesen subjektiven Aspekt zu betonen, sollte man von "Wertbindungen" sprechen, statt von "Werten". Wertbindungen hat jeder. Denn ein Wert ist etwas, das einem Subjekt als erstrebenswert und in sich selbst wertvoll erscheint. Das können Ideen, Eigenschaften oder Ideale sein. Der Satz, "Ich habe Werte", besagt somit nichts anderes als der Satz: "Es gibt etwas, das ich als erstrebenswert empfinde."
Affektives Ergriffensein
Ein solcher Satz ist natürlich nicht besonders aufregend, weil jeder Mensch irgendetwas als erstrebenswert empfindet. Die Frage ist nicht, ob, sondern was jemand als erstrebenswert empfindet. Und aufgrund der Bedeutung der Empfindung bei der Entstehung der Wertebindung kann das Wissen über Werte nicht von anderen übernommen werden wie das Wissen über Konstellation von Planeten. Bei letzterem vertrauen wir in der Regel der Autorität von Fachleuten. Bei Werten geht das dagegen nicht. Wir können Werte nicht auf Autorität hin übernehmen. Werte müssen sich vielmehr dem einzelnen Subjekt als solche ausweisen, sollen sie nicht als äußere Zumutung erfahren werden.
Wenn wir von Werten und Wertbindungen sprechen, sind zwei Punkte entscheidend. In Wertbindungen ist - wie der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas betont - ein passivisches Moment enthalten, ein affektives Ergriffensein. Wertbindungen sind daher nicht mit Absicht erzeugbar, sie verdanken sich nicht einem Willensentschluss. Ich kann mich nicht entschließen, mich an diesen oder jenen Wert gebunden zu fühlen, ebenso wenig wie ich mich entschließen kann, dieses oder jenes als schön zu empfinden. Weil Wertbindungen mit dem Gefühl zu tun haben, sind wir nicht Herr über das, was sich unserem Innersten als wertvoll und erstrebenswert erschließt, ebenso wenig wie wir Herr über unsere Gefühle sind.
Wertbindungen verdanken sich nicht unserem Wollen, sondern bestimmen, was wir wollen. Und weil Wertbindungen sich nicht einem Willensentschluss verdanken, bringen auch Moralpredigten nichts. Denn Werte können nur erlebt und entdeckt werden, sie müssen uns im Innersten berühren. Und dazu bedarf es Menschen, die nicht nur über Werte reden, sondern sie leben und so erlebbar machen.
Keine Handlungsgründe
Ein gutes Beispiel dafür ist die Faszination, die in der Antike die Mildtätigkeit der Christen auf ihre Zeitgenossen ausübte. Fasziniert hat nicht, dass sie vom Wert der "Mildtätigkeit" redeten, sondern dass sie mildtätig handelten. So fühlte sich Kaiser Julian Apostata im vierten Jahrhundert - obwohl er sich von der christlichen Lehre abgewandt hatte - von der Mildtätigkeit der Christen so beindruckt, dass er sogar Nichtchristen aufforderte, ebenso mildtätig zu sein.
Ein zweiter Punkt wird häufig übersehen, ist aber entscheidend: Werte sind keine Handlungsgründe. Wir handeln nicht, um diesen oder jenen Wert zu verwirklichen. Wenn ich einen Freund am Telefon gefragt habe, was er gerade tue, habe ich noch nie zur Antwort bekommen, dass er gerade dabei sei, diesen oder jenen Wert zu verwirklichen.
Die Geschichten, in die wir verstrickt sind, lassen konkrete Aufgaben und Anforderungen erwachsen. Handeln - verdeutlicht der Philosoph Rüdiger Bittner - ist eine Reaktion auf Situationen. Wenn wir daher jemanden fragen, warum er dieses oder jenes getan habe, wird er die Situation darstellen, auf die sein Handeln reagiert hat.
Wir gehen um 7.00 Uhr aus dem Haus, weil wir um 8.00 Uhr einen Termin haben. Und wir helfen einem Menschen, weil er verletzt ist. Es ist doch nicht so, dass wir das Ziel haben, heute den Wert "Hilfsbereitschaft" zu verwirklichen und dankbar sind, auf einen verletzten Menschen zu treffen, weil dieser uns erlaubt, ihn zum Mittel zu machen, unseren Wert zu verwirklichen.
Zum Beispiel Liebe
Man kann noch einen Schritt weiter gehen: Der Philosoph Michael Stocker macht darauf aufmerksam, dass wir ethische Werte, wie Freundschaft, Liebe, Mitgefühl mit Sicherheit verfehlen, wenn wir sie zu Handlungsgründen machen. Besonders deutlich wird dies bei der Liebe: Der geliebte Mensch selbst, sein Wohlergehen und seine Interessen sind Grund meines Handelns. Ich kann nicht lieben, um zu lieben; die Liebe hat ihren Grund vielmehr im Dasein des oder der anderen. Wer liebt, handelt also nicht wegen der Liebe, sondern aus Liebe. Weil ich eine Person liebe, wird ihre schwierige Lage für mich zu einer Aufgabe.
Wenn tatsächlich Menschen im Mittelpunkt unseres Interesses stehen, dann geht es primär nicht um die Frage nach dem Wertebewusstsein der Gesellschaft, sondern darum ethisch problematische Situationen und Strukturen in den Blick zu nehmen, konkret zu benennen und für sie zu sensibilisieren. Und natürlich ist besonders für Menschen, die in der Gesellschaft eine besondere Verantwortung tragen, der Blick auf die Gestaltung von Institutionen zu lenken, die bestimmte Situationen generieren.
Es geht also schlicht darum, Sensibilitäten für konkrete Probleme zu schaffen. Und gerade so stellt sich ein Wertbewusstsein ein. Denn Werte entstehen, wenn sie im Konkreten entdeckt und erlebt werden können.
Michael Roth
Michael Roth
Dr. Michael Roth ist Professor für Systematische Theologie und Sozialethik an der Universität Mainz.