Erfahrung

Neues von"Herbst in Peking"
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Der Zauber wirkt auch ohne Glauben ans Gegenüber von Göttern und Geistern, er steckt gleichsam in Gedichten.

"Tyger! Tyger! Burning bright/In the forests of the night,/What immortal hand or eye/Could frame thy fearful symmetry?" - "Tiger! Tiger! Brand entfacht/In den Wäldern tiefer Nacht,/Welch unsterblich Aug' und Hand/hat dich in dein Maß gebannt?/... /Als die Stern' die Speere senkten/Und mit Tränen Himmel tränkten,/ Freut' er da des Werkes sich?/Schuf er, der auch das Lamm schuf, dich?" Große Fragen, tiefes Staunen und dieser Klang! "The Tyger" aus William Blakes Zyklus "Songs of Experience" von "Herbst in Peking" auf der Fünf-Track-CD "The Tyger & The Fly" in Szene gesetzt. Auf ein ausgeschlafenes Elektrobett gelegt, von Rex Joswig mit tiefer Stimme so kongenial intoniert, wie es zu sein hat. Und zwar im Wechsel von Original und Übersetzung. "Herbst in Peking"?

Ja, die anarchisch aufmüpfigen Avantgarde-Rocker aus späten DDR-Tagen, die seither auch die elektronische Psychedelik für sich entdeckten und nun mit fünf Tracks zum Wiederentdecken von William Blake (1757-1827) einladen. Der feierte die freie Liebe und lebte 45 Jahre lang mit derselben Frau. Ein religiöser Nonkonformist bis in den Nihilismus eigener Mythenwelten hinein, der in der "Hochzeit von Himmel und Hölle" alles, was lebte, hymnisch als heilig pries. Blake schrieb sprachgewaltigen Frei- und Langvers und kolorierte Kupferstiche, die er "illuminierte Drucke" nannte.

Gleich zu Beginn der Industrialisierung protestierte der freiheitsliebende Autodidakt aus einfachen Londoner Verhältnissen gegen Kinderausbeutung und soziales Elend, setzte visionäre Inspiration gegen Aufklärungsmaterialismus und frohen Genuss gegen die konservative Verstiegenheit der Swedenborgianer. Ein geistiger Monolith, sein Werk ein Schatz, den an oberflächliche Esoterikmoden zu überlassen Schande wäre! Und hat man seine Spur erst aufgenommen, stößt man vielerorts auf diesen Gesamtkunstwerker. Die Doors benannten sich nach einem Satz aus der "Hochzeit". Aldous Huxley regte er zum Buch "The Doors of Perception" an, dessen drogeneuphorische Kulturkritik in den Sechzigerjahren wirkmächtig war.

Das sei ihr ältester Zweck, schreibt der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer in dem Buch "Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik". Deren Ursprung liege im Gebet, der Anrufung der Götter.

Von da reicht der Bogen ins Heute, wo uns Götter zwar fremd geworden sind, Gedichte uns aber nach wie vor wie keine andere Sprachform erreichen, uns erheben, trösten, und Geborgenheit geben. Denn sie drücken besser als alles andere aus, was wir empfinden, erleben, ersehnen. Der Zauber wirkt auch ohne Glauben ans Gegenüber von Göttern und Geistern, er steckt gleichsam in Gedichten. "Herbst in Peking" lassen sich spürbar darauf ein.

Herbst in Peking: The Tyger & The Fly (Peking Records/MOLOKO+ 2014)

Udo Feist

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