In der Juli-Ausgabe dieser Zeitschrift ordnete Christoph Markschies, der Vorsitzende der "Ad-hoc-Kommission", die die vom Rat der EKD verantwortete Orientierungshilfe "Rechtfertigung und Freiheit" verfasst hat, das umstrittene Dokument in die seit 2008 laufenden Bemühungen der EKD um das Reformationsjubiläum ein. Er erweckt den Eindruck eines planmäßigen Vorgehens: Nach der Kreation der "Lutherdekade" und ihrer Themenjahre und der Einführung einer "Lutherbotschafterin" ist mit jenem "Grundlagentext" nun eine Klimax erreicht und die Chance einer "autonomen Aneignung der Vergangenheit" durch unsere so "gänzlich anders strukturierte Gegenwart" ergriffen worden.
Die Vorbereitung auf das Jubiläum ist also in ein entscheidendes Stadium getreten. Der gemäß dem Vorwort des EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider keineswegs als Selbstverständigungsdokument der evangelischen Christenheit zu deutende, sondern an "theologisch interessierte Menschen, Kirchenvorstände, Theologen und Theologinnen, aber auch eine breitere Öffentlichkeit, die nach der Bedeutung des Reformationsjubiläums 2017 fragt", gerichtete Text hat als die maßgebliche Äußerung der evangelischen Kirche im Mutterland der Reformation zu der Frage zu gelten, was diese denk- und erinnerungswürdig macht.
Geschichtsdeutung wie in der DDR
Der Vorgang ist bemerkenswert und meines Wissens ohne Analogie: Eine "Ad-hoc-Kommission", über deren Rekrutierungskriterien und Legitimationen Näheres nicht bekannt ist, erarbeitet für das Leitungsgremium der Evangelischen Kirche in Deutschland, den Rat, was an der Reformation als bedeutsam zu gelten hat. Im Grunde hat die Kommission die Aufgabe zweier akademischer Disziplinen der wissenschaftlichen Theologie, der Kirchengeschichte und der Systematischen Theologie, übernommen und eingelöst: die Bedeutung der Reformation und ihrer Lehren im Horizont der Gegenwart historisch zu verstehen und dogmatisch zu verantworten.
Die EKD hat sich damit handstreichartig zur zentralen historisch-theologischen Deutungsagentur des Protestantismus gemausert: Sie verkündet, was das wirklich Wichtige an der Reformation ist und teilt es einem breiten Publikum mit. Vergleichbare Vorgänge verbindlicher Geschichtsdeutung mit Hilfe von Grundsatzpapieren waren mir bisher vor allem aus der Geschichtspolitik der DDR bekannt.
Bedeutsam an der Reformation sind nach Auffassung der EKD die "wesentlichen theologischen Einsichten der Reformationszeit im aktuellen Kontext". Was die Reformation erinnerungswürdig macht, sind also bestimmte Lehraussagen der so genannten reformatorischen Theologie. Mittels dieses in den Zwanzigerjahren, im Kontext der antihistoristischen Neuorientierung evangelischer Theologie bei Karl Holl und den Dialektikern, aufgekommenen Begriffs der "reformatorischen Theologie" fährt "Rechtfertigung und Freiheit" die Ernte der Reformation ein. Der "Grundlagentext" dokumentiert den definitiven Sieg der dogmatischen über die historische Methode in der Interpretation der Reformation.
Von Luther zu Huber
Für "Rechtfertigung und Freiheit" ist charakteristisch, dass es mit einem schillernden, ja zutiefst unklaren Reformationsbegriff laboriert. Geleitet von der Absicht, jeden Verdacht einer Abständigkeit des Gegenstandes abzuwehren, wird "Reformation" sowohl als vergangenes wie als aktuelles und zukünftiges Phänomen in Anspruch genommen und zugleich exklusiv religiös definiert: "Im Zentrum der Reformation stand die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott. Die Reformation war wesentlich ein religiöses Ereignis, weil die Männer und Frauen, die die Reformation trugen, erwarteten, dass Gott selbst den rechten Glauben wecken und so das Verhältnis der Menschen zu Gott erneuern werde."
Mit diesem Verständnis der Reformation wird eine bestimmte heilsgeschichtliche Deutungsperspektive der Menschen des 16. Jahrhunderts, die Gott in ihr Leben eingreifen sahen, zum Maßstab unseres Verständnisses der Reformation gemacht. Auf dieser Linie liegt es auch, dass die Reformation als dezidiert transhistorisches Phänomen verstanden wird, als "Prozess der Erneuerung", als "Bewegung, die von Gott ausgeht und durch biblische Texte vermittelt wird, letztlich unverfügbar und unkalkulierbar". Eine so verstandene Reformation ist den Bedingungen historischer Erkenntnis entzogen. Hier hat die sokratische Weisheit "Quae supra nos, nihil ad nos" ihr Recht ("Was uns zu hoch ist, geht uns nichts an").
Durch den Begriff der "Lerngeschichte" werden die Vorgänge des 16. und der sich anschließenden Jahrhunderte mit der Gegenwart und der Zukunft der Kirche scheinbar mühelos verbunden. Dabei spielt auch der drohende Imperativ hinein, dass die "Reformation nur richtig erinnert ist, wenn im Sinne der sich stets für die göttliche Reformation offen haltenden Kirche (ecclesia semper reformanda) gefeiert wird". Dies als apokrpyh einzustufende Logion - wohl des auferstandenen Luther - von der sich selbst erneuenden Kirche, das dem Selbstverständnis des irdischen Reformators ganz und gar nicht entspricht und das sich deshalb auch in der Ausgabe seiner Werke nirgends findet, bildet das kanonische Kriterium dieser Reformation. In einem Atemzug damit wird der von Wolfgang Huber ausgerufene Reformprozess "Kirche der Freiheit im einundzwanzigsten Jahrhundert" als verpflichtende Realisierungsgestalt dieser Reformation ausgewiesen.
Aus historischer Verständigung herauskatapultiert
Was trägt es gegenüber einer so unverhohlenen Instrumentalisierung der Reformation zugunsten bestimmter kirchenpolitischer Ziele schon aus, dass Luther in engster textlicher Nähe einerseits als "Reformkatholik" in eine lange Reihe reformerischer Bemühungen gestellt, andererseits aber wieder einmal mit dem Thesenanschlag "jene Moderne mit herauf (geführt wird), mit der wir uns immer noch auseinandersetzen"? Auch wenn man Markschies getrost zustimmen kann, dass ein solches Dokument nicht die Aufgabe habe, den "aktuellen Stand der Reformationsgeschichtsforschung" wiederzugeben, wird man die hier gebotene, ebenso inkohärente wie widersprüchliche Reformationskonzeption in aller Deutlichkeit zurückweisen müssen. Die EKD hat sich mit diesem Dokument aus einer historischen Verständigung über die Reformation herauskatapultiert.
Aber ist es nicht sachgemäß, ja zwingend, dass sich die evangelische Kirche darauf besinnt, was ihr die Reformation, die "reformatorische Theologie" heute bedeutet? Markschies rekurriert auf einen freilich namentlich nicht identifizierten Einwand, dass bisher "theologische Kernanliegen der Reformation zu wenig in den Mittelpunkt gestellt" worden seien; dem habe man durch "Rechtfertigung und Freiheit" abhelfen wollen. Die Weise allerdings, in der man diese Kernanliegen identifiziert, leidet darunter, dass man sie erstens von der vorrangigen Bedeutung der so genannten Rechtfertigungslehre her konstruiert und zweitens in dem abstrakten, der Dogmatik des 19. Jahrhunderts entstammenden System des vier- oder fünffachen solus präsentiert, also in einer Form, die dem 16. Jahrhundert gänzlich fremd ist.
Fragwürdige Alternative
Hinsichtlich der Bedeutung der Rechtfertigungslehre beruft sich Markschies auf einschlägige Arbeiten Bernd Moellers und stellt sich damit, ob bewusst oder unbewusst, in eine durch Karl Holl inaugurierte Deutungstradition. Holl hatte einstmals gegenüber dem Tübinger Historiker Johannes Haller darauf bestanden, dass es die "Rechtfertigungslehre" gewesen sei, die die "Massen in Bewegung" gebracht habe. Und Moeller hatte diese Wendung gegenüber einer seines Erachtens einseitigen sozialhistorischen Reformationsinterpretation aufgenommen, die kirchenkritisch-polemischen Aspekten reformatorischer Propaganda eine größere Bedeutung zuerkannt hatte als den religiös-konstruktiven Motiven, insbesondere der Rechtfertigungslehre.
Diese Debatte um die Rolle der Rechtfertigungslehre in der reformatorischen Publizistik ist also von einer fragwürdigen Alternative belastet: Ist es eher die positive evangelische Lehre oder die Kritik am bestehenden Kirchentum gewesen, die der reformatorischen Agitation ihre Plausibilität und ihre Durchschlagskraft verliehen habe? Aufgrund des konfrontativen Gegenübers von bürgerlich-westdeutscher und marxistisch inspirierter ostdeutscher Reformationshistoriographie erwies sich die fragwürdige Alternative als langlebig. Den Quellenbefunden aber hält sie nicht Stand.
Denn nicht nur bei Luther, auch bei vielen anderen Autoren, die nicht Theologen sind, gehen beide Aspekte ineinander. Nur dadurch, dass der Wittenberger den Verzicht auf gute Werke für das Heil durch das anschaulich machte, was ein Christenmensch alles nicht mehr tun müsse, zündeten seine Ideen und entfalteten eine Breitenwirkung. Ohne die zum Teil abgründig anmutende Polemik gegen die römische Kirche und ihre Repräsentanten war die reformatorische Agitation nicht denkbar. Auch in der wichtigsten Programmschrift der Reformation, Luthers "An den christlichen Adel deutscher Nation", kam der Reformator bei der Präsentation der dringenden Änderungsvorschläge weitestgehend ohne rechtfertigungstheologische Begründungen aus. Indem sich die Verfasser von "Rechtfertigung und Freiheit" auf ein nachgerade idealistisches Wirkungsmodell der hehren Gedanken "reformatorischer Theologie" kaprizieren und die sozialen Bedingungen, kommunikativen Interaktionen und politischen Interessen derer, die die Reformation propagierten, durchsetzten und machten, vollständig ausblenden, erreichen sie die von ihnen beabsichtigte Gegenwartsbedeutung der Reformation um den Preis ihrer Geschichtslosigkeit.
Diese doketische, einem entleibten Phantasma vergleichbare Reformation der EKD geht mit Imperativen des rechten Feierns und Gedenkens einher, die kaum Frohsinn zu entfachen vermögen. Immer wieder bedient sich "Rechtfertigung und Freiheit" des Wörtleins "muss": Bei dem Reformationsjubiläum "muss" deutlich werden, "inwiefern die religiösen Einsichten der Reformation auch eine Frage heutiger Menschen darstellen". "Reformatorische Kirche und Theologie müssen noch weiter lernen, Geschlechtergerechtigkeit als genuin evangeliumsgemäßen Wert zu verstehen [...]." - "Es muss [...] gemeinsam mit der römisch-katholischen Christenheit und mit Blick auf die weltweiten Wirkungen der Reformation gefeiert werden."
Kardinale ökumenische Irritationen
Doch was leistet das Dokument, um die Feierlaune der katholischen Brüder und Schwestern zu heben? Wie mag es angesichts des Projektes einer gemeinsamen Feier des Reformationsjubiläums auf diese Kirche wirken, dass zum einen konstatiert wird, dass man "die Rechtfertigungslehre zwar gemeinsam formulieren" könne, sogleich aber festgestellt wird, dass "kirchentrennende Differenzen über das Verständnis des Amtes und der Sakramente" blieben? Was bedeutet es für die Strategie der bisherigen Konsensökumene, die sich um der Identifizierung der doktrinalen Beziehungen zueinander bisher auf verbindliche Lehrformulierungen beider Kirchen konzentrierte, wenn sich der Protestantismus nun vermittels eines Konzepts der "Lerngeschichte" seine eigene Fluidität lizensiert?! Dass dies kardinale ökumenische Irritationen auslösen muss, kann eigentlich nicht verwundern.
"500 Jahre Reformation" - das ist in der Tat ein denkwürdiger Sachverhalt. Doch er sollte so begangen werden, dass das 16. Jahrhundert, das den Anlass des Gedenkens gibt, im Zentrum steht. Es ist dies in der Tat eine fremde, ferne Welt. An sie zu erinnern, rückt uns aber auch in Distanz zu uns selbst und eröffnet frische Blicke auf die gewaltigen Veränderungen, die seither eingetreten sind. Und doch singen wir noch die Lieder der Reformatoren, bedienen uns ihrer Liturgien, lesen Luthers Bibel. Wer behauptet, etwas, das "nur historisch" interessant sei, sei es im Grunde nicht, wird weder der Geschichte noch der Gegenwart gerecht. Eine geschichtslose Reformation aber hat nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch in einer Kirche, der es um die Geschichtlichkeit Gottes in Jesus von Nazareth geht, kein Recht.
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Zum Text von Christoph Markschies "Mehr als Geschichte"
Thomas Kaufmann
Thomas Kaufmann
Thomas Kaufmann ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen