Jüdisches Leben

Leo Baeck - Romanbiografie
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Mit der jetzt erschienen "Romanbiografie" zu Leo Baeck liegt eine gut lesbare, anschaulich und spannend geschriebene Einführung in Tradition, aber auch das erzwungene Ende des deutschen Judentums vor.

Während vor der NS-Zeit eine halbe Million Juden in Deutschland lebten, und es nach der Gründung der Bundesrepublik beinahe vierzig Jahre lang nur noch knapp unter dreißigtausend waren - Menschen, die zu schwach und zu krank waren, um Deutschland zu verlassen, leben heute innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinden etwa zweihunderttausend Juden. Die meisten von ihnen sind seit 1989 aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion zugewandert, zunehmend mehr kommen aber auch aus Israel nach Deutschland. Diese neue jüdische Gemeinschaft ist auf der Suche nach ihrer Identität, ihrem Selbstverständnis. Aber auch die überwiegende Zahl der Nichtjuden in Deutschland weiß nicht wirklich, was Juden, jüdische Religion, jüdische Identität und nicht zuletzt das deutsche Judentum war und ist.

Fragen nach Tradition und Identität lassen sich vorzüglich anhand von Biographien erläutern. Und mit der jetzt erschienen "Romanbiografie" zum Leben von Leo Baeck (1873-1956), dem letzten bedeutenden Repräsentanten des deutschen Judentums, liegt eine gut lesbare, anschaulich und spannend geschriebene Einführung in Tradition, aber auch das erzwungene Ende des deutschen Judentums vor. Freilich liegen zu Rabbiner Leo Baeck, der sich, umfangreich gebildet, mit Judentum und Christentum befasst hat, der es auf sich genommen hat, in der NS-Zeit als Sprecher der bedrängten deutschen Juden gegenüber den nationalsozialistischen Behörden zu wirken, der in bewundernswerter Standhaftigkeit im KZ Theresienstadt seine jüdischen Mithäftlinge tröstete und schließlich das Ende des deutschen Judentums konstatierte, bereits eine Reihe auf Deutsch publizierter wissenschaftlicher Studien vor: aus der Feder seines Schülers Albert Friedländer, von Leonard Baker, aber auch von Walter Homolka und Ralf Koerrenz.

Gleichwohl füllt die soeben erschienene "Romanbiografie" der Regisseurin und Autorin Waldtraut Lewin eine Lücke. Mit diesem Buch nämlich ist es Lewin, die in der ddr mehrfach für ihre Kinder- und Jugendbücher ausgezeichnet wurde, gelungen, die Tradition des deutschen Judentums auch jüngeren Lesern zugänglich zu machen und ein Buch zu präsentieren, das man besonders interessierten Konfirmanden ebenso gut schenken kann wie jüdischen Jungen und Mädchen zu ihrer Bar oder Bat Mitzwa.

Als literarische Gattung ein Hybrid, ermöglicht es die "Romanbiografie" auch dort, wo Quellen nicht verfügbar sind, das Leben eines Menschen mit Fantasie und Einbildungskraft zu verdeutlichen, Szenen hinzuzudichten, das Bild durch Gespräche erfundener anderer Personen plastisch werden und den Spannungsbogen nicht abreißen zu lassen. Dass dabei - im Falle Leo Baecks - der systematische Gehalt seiner theologischen Schriften zu kurz kommen muss, liegt auf der Hand; entscheidend ist die Frage, ob es so gelingen kann, das Leiden von Häftlingen in einem KZ wie Theresienstadt oder den Schrecken über jene, die den Vernichtungslagern kurzzeitig entronnen sind, angemessen zu vermitteln. Dazu bedient sich die Autorin eines Verfahrens, das man aus dem Medium des Films kennt: geschilderte Aufnahmen, die so wirken, als sei man selbst dabei gewesen: "Das Gesicht des Häftlings ist eingefallen, der weiße Bart struppig und verwirrt." Ein Verfahren, das jedoch, sobald sich die Verfasserin kommentierend einschaltet, die Grenzen von Takt und Geschmack gelegentlich überschreitet. So heißt es an anderer Stelle, wo verhungerte Häftlinge geschildert werden: "Totenköpfe, stockdürre Gliedmaßen ... Es ist, als habe man einen Zug vollgestopft mit Abfällen ... Nur dass diese Abfälle Menschen sind."

Andererseits erlaubt es diese literarische Form, Idyllen des Familienlebens von Baeck und seiner Frau Natalie in der Vorkriegszeit zu schildern, aber auch, Heikles und Umstrittenes in Baecks Biographie nun nicht mehr in Form einer aktualisierenden Schilderung, sondern eines diskutierenden Diskurses zu behandeln; etwa wenn es um die Frage einer möglicherweise zu starken Kollaboration Baecks mit den NS-Behörden geht.

So entsteht - gerade der stilistischen Vielstimmigkeit wegen - ein ebenso umfassendes wie anregendes, Anteil erweckendes Lebensbild, das vorzüglich Jungen und Mädchen - Juden und Nichtjuden - von etwa dreizehn Jahren aufwärts dabei helfen kann, nicht nur die deutsch-jüdische Tradition kennenzulernen, sondern sich auch dem schwierigen Thema der nationalsozialistischen Judenverfolgung zu nähern. Zugleich können die Leserinnen und Leser anhand des Protagonisten - er ist ja Rabbiner - eine erste Einführung in die jüdische Religion erhalten; immerhin hieß das erste, 1905 erstmals erschienene Hauptwerk Leo Baecks Das Wesen des Judentums.

Um die Möglichkeiten des Lernens, die in diesem bestens lesbaren Buch enthalten sind, zu erhöhen, wäre freilich ein Glossar hebräischer Ausdrücke zumal für jüngere Leser hilfreich gewesen - vielleicht könnten sich Verlag und Autorin darauf für eine nächste Auflage einigen.

Waldtraut Lewin: Leo Baeck. Geschichte eines deutschen Juden. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh2013, 318 Seiten, Euro 19,99.

Micha Brumlik

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